Weltwirtschaft

Die Zeitenwende des Kapitalismus

Der Kapitalismus befindet sich im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Das ist die Grundthese der Wiener Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy, die ein Buch über die langen Wellen der Konjunktur und den Corona-Moment im historischen Prozess geschrieben hat. Sie ordnet mit ihrem historischen und ökonomischen Wissen die aktuelle Situation ein und schaut in die Zukunft. Eine Rezension.

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Im kybernetischen Zeitalter bestimmen Verdatung und Tracking das Leben der Menschen.
Foto: Gerd Altmann/Pixabay, Mehr Infos

Es ist das Wort des Jahres 2022: Zeitenwende. Kanzler Scholz setzte es bei seiner Regierungserklärung im Februar vergangenen Jahres in die Welt. Fortan wurde es für alles und jedes bemüht. Ein Wort des Jahres, das wie ein Unwort klingt. Andrea Komlosy hat es trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen gemeinsam mit dem Verlag als Titel ihres aktuellen Buches gewählt. Und hier passt es. Denn die Wiener Wirtschaftshistorikerin Komlosy betrachtet darin nicht weniger als einen Epochenbruch des Kapitalismus, den Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Eine wirkliche Zeitenwende.

Um diese Zeitenwende des Kapitalismus zu verstehen, von der Andrea Komlosy schreibt, ist es wichtig, den ersten Teil ihres Buches zu lesen. Zwar schlägt sie selbst vor, wenn das Interesse an der (wirtschafts-)historischen Darstellung fehlt, gegebenenfalls erst mit dem zweiten Teil und damit mit ihrer umfassenden Analyse der Gegenwart einzusteigen. Davon aber ist abzuraten. Denn wenn man sich durch die verständlich geschriebene und gut komprimierte Geschichtsdarstellung des ersten Teils arbeitet, verfällt man bezüglich der Gegenwart nicht in einseitige Vorurteile, wie sie gerade bei einigen Gegnern der Corona-Maßnahmen beliebt sind.

Es ist nicht das Weltwirtschaftsforum (WEF) mit seinem Chef Klaus Schwab, das die Welt in eine bestimmte Richtung steuert. Das WEF spielt zweifellos eine wichtige Rolle, das sieht auch Komlosy. Das WEF arbeitet mit an der Zeitenwende des Kapitalismus. Aber es hat sich nicht gegen einen „guten Kapitalismus“ verschworen, den einige der Kritiker offenbar gegen eine Verschwörung zu verteidigen meinen. Das WEF und Klaus Schwab will den Kapitalismus im Sinne der Herrschenden reformieren und versammelt dabei einmal im Jahr diejenigen, die daran mitwirken (und die, die mitwirken sollen). Es folgt den großen Entwicklungslinien des Kapitalismus und arbeitet daran, dass die Geschichte im Sinne der derzeit Herrschenden fortgeschrieben wird.

Natürlich habe es dabei Absprachen gegeben, schreibt Komlosy. Und auch die Pandemie-Planspiele im Vorfeld von Corona seien natürlich nicht zu leugnen. Aber:

Von einem Generalplan kann angesichts der divergierenden weltanschaulichen, nationalen, sicherheits-, wirtschafts-, geopolitischen und Brancheninteressen also nicht die Rede sein. Ein gemeinsames, quasi gesamtkapitalistisches Interesse gilt freilich der Aufrechterhaltung der Kapitalverwertungsbedingungen, bei der staatliche Regierungen, supranationale und internationale Organisationen Verantwortung tragen. Und die regelmäßigen Zusammenkünfte, die personelle Durchlässigkeit zwischen Konzernen, internationalen Organisationen, Politik und öffentlicher Verwaltung begünstigen den raschen Austausch von Informationen auf der Basis eingespielter Denkweisen, Sprachregelungen und Handlungsmuster. (S. 108)

Dieses Zitat zum WEF und den anderen Organisationen steht aber bereits in Teil zwei. Was ist nun der Inhalt des ersten Teils? In ihm wird die Gegenwart, der Corona-Moment, wie Komlosy es nennt, in die langen Wellen von Konjunktur, Hegemonie und der Entwicklung von Produktionsprinzipien eingeordnet. Das gelingt der Autorin auf knapp 90 Seiten hervorragend.

Das kybernetische Zeitalter

Komlosy setzt die Konjunkturzyklen von Aufschwung und Niedergang ins Verhältnis zu Hegemonialzyklen einer spezifischen Macht. Kapital und Imperium gehören zusammen. Gleichzeitig beschreibt sie die Leittechnologie eines bestimmten Zyklus, also jene Technologie, die Wachstum und Expansion hervorbringt. Jeder Zyklus besteht aus Auf- und Abschwung. Sie hält sich dabei an das weit verbreitete Analysemodell auf Basis des sowjetischen Ökonomen Nikolai Kondratieff, das auch Joseph Schumpeter nutzte.

Das Zyklen-Modell beginnt dabei um 1800. Komlosy beschreibt mehrere Aufschwünge, die auf der Etablierung der Eisenbahn (ca. 1850), dem elektrischen Strom (ca. 1900), dem Auto (ca. 1950), dem Computer (ca. 1990) und jetzt der Gesundheitswirtschaft (ca. 2030) beruhen. Parallel zu den jeweiligen Kondratieff-Zyklen konstatiert sie im zeitlichen Ablauf erst den Auf- und Abstieg Großbritanniens, dann den der USA und jetzt den Aufstieg Chinas, dessen führende Rolle für die Zeit ab ca. 2030 natürlich nur prognostiziert werden kann.

Seit Mitte des ersten 2000er Jahrzehnts und mehr noch seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008, die die Fragilitat der Exporterlöse sichtbar werden ließ, hat die chinesische Regierung die wirtschaftspolitischen Weichen auf die Stärkung der wertschöpfungsintensiven Sektoren, den Ausbau von Forschung, Entwicklung und Kontrollfunktionen innerhalb der globalen Güterketten sowie die Stärkung des Binnenkonsums in Angriff genommen. (S. 51)

China bemühe sich zum einen um einen Integrationsprozess innerhalb des eigenen Landes und versucht in Bereiche höherer Wertschöpfung vorzudringen. Verbunden ist dies auch mit der Übernahme von Forschung und Entwicklung. China habe die Rolle als regionales Zentrum gestärkt.

In der aktuellen hegemonialen Umbruchphase sind die wirtschaftlichen Ambitionen schwer von den geopolitischen zu trennen. Gelingt China die Konsolidierung als ökonomisches Zentrum, das à la longue auch in die Rolle als Hegemonialmacht hineinwachst, wäre die Kontinuität des historischen Kapitalismus gesichert. (S. 53)

Passt die Reaktion Chinas auf Corona, passen Abschottung und „Zero Covid“ dazu? China profitierte zum einen von den Corona-Maßnahmen, weil von dort die überwiegende Mehrzahl an Schutzausstattung oder auch Schnelltests an den Rest der Welt verkauft wurden. Und durch die teilweise Unterbrechung der globalen Lieferketten richtete China das Augenmerk mehr auf den Binnenmarkt und will zudem mehr wertschöpfungsintensive Güter exportieren als bisher. Schließlich half die rigide Corona-Politik der Regierung dabei, die digitale Überwachung der Bevölkerung zu verbessern. Ergänzt wurde dies durch neue Kooperationen und Verträge. Die These, China sei ein Schritt voran gekommen beim Hineinwachsen in die neue Rolle, hat Substanz.

Bevor wir noch einmal etwas genauer auf das Corona-Moment schauen wollen, werfen wir noch einen Blick auf die längere Dauer und die Evolutionszyklen. Andrea Komlosy beschreibt, dass sich das kybernetische Prinzip bereits seit den 1950er Jahren langsam Bahn brach und das industrielle Produktionsprinzip langsam ablöste. Das ist die Initialphase. Gerade in einer Zeit, die oft von der angeblichen eigenen Innovationskraft vernebelt wird, ist diese Rückschau auf die vergangenen gut 70 Jahre und die Einordnung wichtig und interessant.

Dabei geht es um die Ablöse der seriellen Massenproduktion in der Fabrik durch eine Form der interaktiven Selbststeuerung der Maschinen, die auf der Basis von Computersteuerung individualisierte Anwendungen nicht nur bei der Erzeugung von Gegenständen, sondern auch in der Logistik der Lieferketten, im Handel sowie bei Dienstleistungen erlaubt. Setzt sich die Kybernetische Revolution ungebrochen fort, wird sie die Rolle, die der Mensch im Arbeitsprozess einnimmt, umwälzen und den Menschen selbst zum Gegenstand der Bearbeitung und Verwertung machen. Noch hat das kybernetische Prinzip seine volle Entfaltung nicht erreicht; es wird von vielen Beobachtern daher oft nicht als tiefgreifende Zeitenwende wahrgenommen, sondern als Ausdruck der Verwandlung des industriellen Kapitalismus zur modernen Wissens- und Informationsgesellschaft angesehen. (S. 65)

Die Autorin führt gut les- und nachvollziehbar in Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus ein. Auf der Basis des Wissens um die großen Zeitläufe ist es ihr dann auch möglich, die Rolle von Corona näher zu bestimmen und Szenarien zu beschreiben, die auf uns zukommen. Dabei negiert sie nicht die Rolle von einzelnen Personen und Institutionen, ordnet sie aber ein. Damit wird deren Handeln logisch und konsequent.

Anhand einiger Details zeigt sie auf, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Das zeigen schon die Investitionen von USA und EU der vergangenen Jahre:

Digitalisierung, Optimierung, Robotik, Mensch-Maschine-Verbindungen, Künstliche Intelligenz. Diese Branchen sollen in ein neues Zeitalter führen, in dem die selbstgesteuerte kybernetische Interaktion zwischen den Dingen dem Menschen einen neuen Platz in der Gesellschaft zuweist. (S. 118)

Verdatung und Tracking

In ihrer detaillierten Darstellung der verschiedenen Maßnahmen und Branchen bewegt sich Komlosy dabei immer zwischen Dystopie und Utopie, wie sie schreibt. Allerdings bleibt ohne die Subjekte einer Veränderung – historisch wäre das die Aufgabe der Arbeiterbewegung gewesen, die seit langem am Boden liegt – doch meist die Dystopie übrig.

In den Gesamtentwürfen, die unter „Kybernetische Revolution“, „Dritte“ oder „Vierte Industrielle Revolution“, „Disruption“, „New Green Deal“ oder „Great Reset“ kursieren, ist das Utopische vom Dystopischen jedoch nur schwer unterscheidbar. Technologische Machbarkeitsvorstellungen paaren sich einerseits mit der Einschätzung von der Unvermeidlichkeit technischer Entwicklungen, andererseits mit deren Propagierung als Rettungsanker zum Überleben im Angesicht von ökonomischer Krise und ökologischer Katastrophe sowie als Schritt zu einer besseren, inklusiven, partizipativen und solidarischen Zukunft der Menschheit. Durch soviel ideologische Überfrachtung bleibt dem und der Einzelnen kein Spielraum zur selbstständigen Überprüfung der Versprechungen. (S. 133f.)

Hier zeigt sich noch einmal die Rolle von Organisationen wie dem WEF: Es hilft, die Ideologien zu verankern, die das neue Zeitalter braucht, damit die Bevölkerung die damit einhergehenden Veränderungen akzeptiert. Da wird beispielsweise die drängende ökologische Frage zum „Klimawandel“, schreibt Komlosy, damit sie „im Sinne des kapitalistischen Systems der Kommodifizierung und Profitmaximierung genutzt werden kann“. (S. 273)

Der kybernetische Kapitalismus bleibt Kapitalismus. Er verändert sich durch die Digitalisierung, neue Produkte kommen auf den Markt, neue Formen der Wertschöpfung entstehen. Dass der Online-Handel in den vergangenen Jahren boomte und weitere Geschäfts- und Dienstleistungsfelder auf Online umgestellt wurden, eröffnet neue Möglichkeiten und senkt perspektivisch die Kosten für die Kapitalseite. Die Menschen, Kunden wie Dienstleister, vereinzeln jedoch in ihren eigenen vier Wänden. „Eine Diskussion über die Vor- und Nachteile sowie die sozialen Auswirkungen der schönen, neuen ,smarten‘ Welt findet nicht statt.“ (S. 161)

Das gilt insbesondere beim Rohstoff Daten, die durch die verstärkte Digitalisierung anfallen und die von den großen Konzernen und ihren Werbekunden genutzt werden. Der Einzelne ist dabei der Macht der Monopolisten fast gänzlich ausgeliefert, Zwar gibt es immer wieder Versuche der Einhegung – beispielsweise durch die Datenschutzgrundverordnung. Diese aber träfen, so Komlosy, eher die kleinen und mittleren Unternehmen oder auch Vereine, weil diese sich den gleichen Regeln wie die großen Konzerne unterwerfen müssen. Und selbst wenn diese Strafen zahlen müssten, so finden sie immer wieder neue Wege, ihre Profite zu maximieren.

Daten sind also wichtiger Grundstoff der Zukunft, vielleicht sogar der wichtigste. Wobei weiter auch rein stofflich produziert werden muss. Denn irgendwer muss ja die Computer, Netzwerkkabel, Antennen, aber auch die E-Autos usw. herstellen. Und natürlich müssen die Menschen versorgt werden. Das Verhältnis von alter und neuer Produktionssphäre, auch von Produktions- zu Reproduktionssphäre im kybernetischen Kapitalismus spielt bei Komlosy kaum eine Rolle. Klar scheint nur: Alles läuft unter permanenter Überwachung und Kontrolle, wozu auch die angestrebte Abschaffung von Bargeld gehört.

Wir erleben also keineswegs eine Zeitenwende zum Guten. Der Mensch wird kybernetisch aus- und zugerichtet. Verdatung und Tracking bestimmen sein Leben. Er wird mit seinem ganzen Körper zum Datenlieferanten und soll sich im Sinne der Kapitalverwertung optimieren – immer unter dem ideologischen Deckmantel einer besseren Zukunft und des individuellen Glücks. Entfremdung funktionierte immer schon besser, wenn die Entfremdeten das nicht mitbekommen oder gar fröhlich mitmachen. Der Mensch wird nicht – wie im industriellen Zeitalter – als Rädchen angesprochen, das das System am Laufen hält. Die Zukunft verspricht das beste für jeden Einzelnen. Vereinzelt.

Du hast die Wahl, Du kannst entscheiden, wie Du aussiehst, wie Du Dich inszenierst, wie Du lebst, was für ein Geschlecht Du beanspruchst. Der Avatar als der neue Mensch. (S. 236)

Andrea Komlosy liefert in ihrem Buch einen kundigen Überblick über die hier grob skizzierten Tendenzen und darüber, wie sie sich in den vergangenen Jahren verstärkt haben. Die multinationalen (IT-)Konzerne haben sie im Zusammenspiel mit Staaten und Organisationen wie dem WEF vorangetrieben.

Am Schluss bleibt die Frage, ob wir zwangsläufig in die Dystopie gleiten oder sie aufgehalten werden kann. Zumal die Gegenbewegungen zersplittert sind und oft auch nur Schattenkämpfe austragen. Die Frage muss offen bleiben. Klar aber ist: Wer die herrschenden Verhältnisse infrage stellen will, muss ihre Mechanismen verstehen. Eine gutes Mittel dafür ist das vorliegende Buch.

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Andrea Komlosy, Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft
Promedia 2022, 288 Seiten, 23 Euro

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