Literatur

Ein Theaterereignis in der Provinz

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Shakespeare und Wagner auf politischer Bühne in Thüringen –

Von EKKEHART KRIPPENDORFF, 28. Juni 2012 –

Was aus Deutschland hätte werden können, wenn der machtsüchtige Friedrich II. nicht seine unsäglichen schlesischen Kriege vom Zaun gebrochen hätte, das kann man geradezu mit Augen und Sinnen noch erfahren, wenn man zu einem Theaterwochenende nach Meiningen zum Südthüringischen Staatstheater fährt: Das noch immer fruchtbare Erbe einer Adelsklasse, die regional miteinander wetteiferte um kulturelle Exzellenz statt um militärische Dominanz – im Falle des Herzogs Bernhard von Meiningen ein knappes Jahrhundert nach Friedrich um das beste europäische Theater. Das kleine Wunder besteht darin, dass es dieses Theater noch immer gibt – liebevoll getragen von einer Kleinstadt von 19.000 Einwohnern und mehr als viereinhalb Tausend Abonnenten – mit einem Juwel von Theaterbau (kürzlich aufs Schönste restauriert), einem – was in der  Provinz nicht selbstverständlich ist – hoch engagierten Ensemble, einem eigenen Sinfonieorchester (es heißt immer noch „Meininger Hofkapelle“ mit einer Dirigenten-Tradition, die Hans von Bülow, Max Reger, Johannes Brahms,  Richard Strauß bis hin zu Kirill Petrenko zu ihren großen Namen rechnen darf) und einem vollen Opernprogramm, das für viele Sänger und Dirigenten zur Karriereleiter geworden ist.  Hinzu kommt ein selbständiges Puppentheater (nicht nur für Kinder!) und das Ballett aus dem Verbund mit dem benachbarten Eisenach.  Kurz: Man gehe hin, staune – und entspanne sich wochenendlich im  gepflegten herzoglichen Park, der das Theater wie eine Paradieseslandschaft umarmt.

Dass Meiningen darüber hinaus auch politisch eine wohltuende Oase inmitten eines neonazistisch bedrohlichen thüringischen Umfelds ist, dürfen sich seine Bürger und mit ihnen ein programmatisch aufgeschlossenes Theater zugute halten. Der Wende wird hier mit einem würdigen Gedenkstein an der Kirche ebenso gedacht wie der beschämenden Vertreibung einer großen jüdischen Gemeinde mittels der bekannten „Stolpersteine“ und, dazugehörig, eines überall ausliegenden informativen Faltblattes. Vor zehn Tagen demonstrierten hier 25.000 Bürgerinnen und Bürger gegen das Neo-Nazi-Unwesen vor der eigenen Haustür mit 18 Prozent Neonazi-Stimmen:  Meiningen keine. Am Theater ist ein CD-Hörbild mit dem Lebensweg eines prominenten Meininger Überlebenden und heutigen Ehrenbürgers der Stadt entstanden.

Das Liebesverbot von Richard Wagner im Südthüringischen Staatstheater Meiningen. Mit Roland Hartmann als Brighella und Stan Meus als Pontio Pilato.
©foto-ed.de

Und nun also das Theaterwunder. Dem Intendanten Ansgar Haag ist es gelungen, einen Theaterspielplan zu präsentieren, der ohne populistische Publikums-Anbiederung traditionelles Theater- und Opernspiel mit politischem Inhalt füllt und seinem Haus überdurchschnittlich hohe Auslastungen (über 70 Prozent) sichert. Und neuerdings wartet er auf mit einer kleinen Sensation: Wer wusste schon, dass Richard Wagners erste und seit einer katastrophalen Uraufführung 1835 fast nie wieder gespielte Oper „Das Liebesverbot“ auf einem Libretto beruht, das Wagner sich aus Shakespeares Komödie „Maß für Maß“ für seine revolutionäre Opernbotschaft umschrieb? In Meiningen werden beide Stücke, und zwar vermutlich überhaupt erstmalig, in Beziehung zueinander gesetzt. Dabei stellt sich heraus, dass Wagner der radikalere Autor ist, jedenfalls für eine unmittelbar einleuchtende Lesart der Inszenierung durch den Intendanten. Der zeigt, ohne der chorisch streckenweise überwältigenden Musik Gewalt anzutun, dass die Shakespeare’sche Geschichte von der Tugenddiktatur geradezu zwangsläufig und tragisch wie der Arabische Frühling endet: Das rebellische Volk erkämpft sich sein Recht auf den befreienden Karneval, die herrschende Klasse gibt zunächst taktisch nach, zieht aber hinter dem Rücken der sich befreit dünkenden Bürger das Militär und den Geheimdienst des alten Regimes zusammen, die alten Kräfte werden wieder eingesetzt, und das Ganze endet in einem

Ingo Brosch brilliert als Herzog Vincentio in Shakespeares Maß für Maß am Meininger Theater.                                                                        ©foto-ed.de

Blutbad unter den Revolutionären, Law & Order werden wiederhergestellt. – „Liebesverbot“,  das ist das Verbot der emanzipierten, freien Liebe, ja der herrschaftsfreien Selbstbestimmung als Hoffnung und Perspektive der Unterdrückten, Wagners politische Botschaft am Vorabend der 1848er bürgerlichen Revolutionen in Europa.

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Shakespeares Komödie „Maß für Maß“ darf, von Wagner und unserer Gegenwart her gelesen, eine verblüffend ähnliche Lektion erteilen: Ein Herzog, der seinen Staat in Korruption und Gier versumpfen sieht, überträgt einem kalten Tugenddiktator die unbeschränkte Macht im Staate, um das anarchistische Volk wieder zu disziplinieren – was ihm auch gelingt, unter anderem mittels Bestechung der Anführer durch Regierungsämter. Was das Meininger „Maß für Maß“ so spannend und komödiantisch macht, ist neben einer frisch-lebendigen Übersetzung der bei der Probenarbeit entwickelte Input der Schauspieler selbst, die den dramatischen Text mit genialisch-witzigen Einschüben bereichert haben. Da wird der rassistische Tugendpapst Sarrazin wörtlich zitiert, ein anderer wird als „Hilfsanthroposoph“ lächerlich gemacht, Berlusconi fehlt da ebenso wenig wie der heuchlerische Plagiator zu Guttenberg oder der O-Ton Angela Merkels mit einer Rede über „Null-Toleranz“ – das alles passt ganz verblüffend genau ins Stück und macht aus dem Stück die Komödie, die es sein will und soll. Das kindische Gerangel der politischen Klasse vor der Fernsehkamera, ihre enthüllende  Phrasendrescherei, alles kräftig illustriert durch Wagners eingängige, wenn auch nicht besonders tiefschürfende Musik – alles ist vor allem in den Massenszenen lebendig, und doch, gerade in der Engführung mit dem „Liebesverbot“ von beklemmender Aktualität. Mit der direkten Frage des Herzogs, „What think you of it?“ – wie denkt Ihr darüber?, eröffnet Shakespeare sein Stück. Regisseur Haag gibt sie dem Publikum an beiden Abenden weiter und füllt damit sein schönes Haus, ganz ohne pädagogisch-politischen Zeigefinger. Man möchte schließlich gerne mehr so solides und nachdenkenswertes Theater in Meiningen sehen.

Nächste Vorstellung des Doppels am 5. und 6. Juli, 19:30 Uhr. Danach als Einzelaufführungen

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