Literatur

Was unterstehen die sich

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Von ULI GELLERMANN, 28. Januar 2014 –

Belgien, könnte man denken, Belgien ist doch dieses nette kleine Land mit den leckeren Pralinen und den unendlich vielen Biersorten. War da sonst noch was? Ja. Belgien bereichert uns mit einem Buch und einem Autor: Peter Mertens, der auch ein entschieden linker Stadtrat in Antwerpen ist, schreibt unter dem Titel Wie können sie es wagen über den „Euro, die Krise und den großen kapitalistischen Raubzug“. Und er schreibt heiter und wütend zugleich, überschüttet seine Leser mit einer Fülle von Fakten und vermittelt ihnen parallel das Gefühl, das alles sei locker zu bewältigen, und wenn das alles gebündelt und gezwirnt würde, dann bekäme man einen ordentlichen Strick, um „sie“ zumindest zu fesseln.

„Sie“, das sind jene Men in Black, deren Wohnzimmer die Börse, deren Lektüre die Bilanzen und deren Klo wir sind, denn sie scheißen auf uns. Mertens beendet die belgische Pralinen-Saga, wenn er notiert, dass „sie“ in Belgien keine Steuern zahlen, wenn sie nur genug fiktive Zinsen in ihre Bilanzen eintragen, und dass deshalb internationale Konzerne wie VW, BASF oder Bayer dort ihre Bilanzen waschen lassen. Wenn er sich dann der EU zuwendet, deren Parlament in Brüssel sitzt, findet er 4 500 Lobbyisten, die dort akkreditiert sind: sechsmal so viele, wie es Parlamentsmitglieder gibt. Und dann exerziert er am Beispiel der Dexia Bank, wie europäische Bankenpolitik funktioniert: Einst war die Dexia, als sie noch Crédit Communal hieß, eine staatseigene Bank. Die wurde für schäbige 750 Millionen verkauft und privatisiert, um sie dann in der Bankenkrise für vier Milliarden zurückzukaufen und 54 Milliarden Staatsgarantien für eine Bad Bank abzugeben, in der die faulen Papiere lagern. Ist jemand verhaftet worden, hat einer den Strick genommen oder bekommen? Nein, haften müssen immer nur die Normalos, das Heer der braven Bürger. Denn, so zitiert Mertens den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz: „Es gibt heute größere Banken als vor der Krise.“

Dieses elegante Haftungsprinzip wurde, so beweist Mertens, in Europa von den „modernen“ Sozialdemokraten eingeführt: Mit dem Einfrieren der deutschen Löhne ab 1996 begann die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Lockerung des Kündigungsschutzes bis hin zu Hartz IV, dem neuen Sozialgefängnis. Dass parallel die Kontrollbremsen des Finanzsektors gelöst wurden, Hedgefonds und Leerverkäufe erlaubt und die Unternehmenssteuern gesenkt wurden, galt fortan bis in die Merkelei hinein als Modell Deutschland und hat die Deutschen bis heute 400 Milliarden Euro Steuereinnahmen gekostet, die natürlich bei den Renten eingespart werden müssen. Dieses wunderbare Modell führt bei den Deutschen zu gut sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern, in Griechenland zur Zunahme der Selbstmordrate um dreißig Prozent und zu immer mehr und mehr Arbeitslosen in Europa. Insbesondere die Kanzlerin, sekundiert von den deutschen Medien, wirft den Südländern dann gerne vor, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt und würden nur zu Recht bestraft. Mertens schildert die „Verhältnisse“ am Beispiel Portugals: Ein Viertel aller Kinder wächst dort in Armut auf, einer von fünf Portugiesen muss mit weniger als 360 Euro leben. Rund eine Million Menschen sind ohne Arbeit. Das sind die üppigen Verhältnisse in Portugal nach dem vierten von der deutschen EU diktierten Sparpaket.

Mertens‘ Buch widmet sich dem Goldman-Sachs-Dreigestirn: den Herren Henry Paulson (langjähriger US-Finanzminister und ehemaliger Spitzenmann bei Goldman Sachs), Mario Draghi (Chef der EZB und ehemaliger Spitzenmann bei Goldman Sachs) und Mario Monti (vorgeblicher Italien-Sanierer), natürlich auch Berater bei Goldman Sachs. Und er skizziert, wie die angeblich völkerverständigende EU immer mehr ultrarechte und nationalistische Parteien hervorbringt. Das intensivste Kapitel in diesem klugen Buch handelt von Chile und wie sich dort der Neoliberalismus auf das Schönste mit der Diktatur paarte. Eine einzige leise Kritik sei angemerkt: Der Originaltitel des Buches lautet im Niederländischen Hoe durven ze? Das müsste im Deutschen „Was unterstehen die sich?“ heißen, und die Antwort lautet: Die unterstehen sich das, weil wir sie lassen.

Peter Mertens
Wie können sie es wagen?
Der Euro, die Krise und der große Raubzug
Essay, Mainz 2013
Aus dem Niederländischen von Sabine Carolin Richter
416 Seiten, gebunden, inkl. E-Book
ISBN 978-3-95518-003-4

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Die Rezension erschien zuerst in Hintergrund Heft 1,2014

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