Zeitfragen

Das Böse der Banalisierung

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Moshe Zuckermann über den Rechtsruck der Antisemitismuskritik – bis an die Grenze zur Holocaust-Leugnung

Von REDAKTION, 25. November 2010 –

Mit seiner jüngsten Veröffentlichung „Antisemit!“ – Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument prangert der israelische Historiker Moshe Zuckermann in ungewohnter Schärfe die Deformation und den ideologischen Missbrauch der – historisch und politisch nach wie vor notwendigen – Antisemitismuskritik für die Durchsetzung machtpolitischer Interessen an.
Im Fokus seiner Genealogie und Analyse dieser Entwicklung, mit der sich laut Zuckermann eine „regressive Bewältigung der Vergangenheit“ Bahn bricht, stehen die politischen Kulturen Deutschlands und Israels. Anhand von Beispielen, wie Reden israelischer Politiker oder Skandale um vermeintlich antisemitische Übergriffe, legt Zuckermann bellizistische, xenophobe u.a. neokonservative Ideologeme frei, die dieser Antisemitismuskritik innewohnen. Er zeigt auch, dass Anti-Antisemitismus von rechts nicht selten in aggressive Islamophobie umschlägt und in Juden-Hass zurückfällt.

Eine von Zuckermanns bitteren Diagnosen lautet: „Es gab nicht nur die reale Banalität des Bösen, sondern es gibt heute auch das Böse der Banalisierung dessen, was – statt sich ans Unsägliche heranzutasten – längst zur Allerweltsparole degeneriert ist.“  Susann Witt-Stahl sprach mit dem Autor über die Beweggründe, Inhalte und Konsequenzen seiner radikalen Kritik. 

Hintergrund: Herr Zuckermann, bislang haben Sie als Historiker, als Marxist der Frankfurter Schule  – der Ideologie als  falsches Bewusstsein begreift  – und nicht zuletzt als Sohn von Auschwitz-Überlebenden keinen unerheblichen Teil Ihrer Lebenszeit damit verbracht, Antisemitismus, in welcher Form auch immer er sich regt und erscheint, radikal zu kritisieren und zu bekämpfen. Was hat ausgerechnet Sie veranlasst, Antisemitismuskritik, zumindest jene, die den Anspruch erhebt, eine zu sein, ins Visier Ihrer Kritik zu nehmen?

Moshe Zuckermann: Na ja, gerade mein Selbstverständnis als Historiker, Marxist und Abkömmling von Shoah-Überlebenden. Als Historiker geht es mir um den Entstehungszusammenhang des geschichtlichen Antisemitismus; als Marxist um die gesellschaftlichen Hintergründe und Auswirkungen des Antisemitismus und als jemand, der mit der Shoah befasst ist, um die generellen Schlussfolgerungen von dem, was mich lebensgeschichtlich immer schon umgetrieben hat und bis ans Ende meiner Tage umtreiben wird. Die sogenannte Antisemitismuskritik, von der ich in meinem Buch rede, hat mit alledem nichts zu tun. Sie gilt nicht der Bekämpfung des realen Antisemitismus, sondern suhlt sich einzig in der Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs für fremdbestimmte Zwecke unter Verwendung perfidester denunziatorischer und polemisch verlogener Mittel.

H.: Sie beschreiben und analysieren in der Tat atemberaubende Auswüchse dieses Phänomens, die Sie bei Regierungspolitikern, Vertretern von Parteien, Stiftungen, außerparlamentarischen Gruppen, Medien bis tief hinein in die Abgründe der Blogger-Szene beobachtet haben. Sie behaupten, der „konstruierte Zusammenhang zwischen Zionismus, Israel, Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt“ sei noch nie so schändlich missbraucht worden wie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Welche welthistorische Konstellation hat für diese Ideologieverdichtung den Humus bereitet?

M. Z.: Ich bin mir nicht sicher, dass wir das hundertprozentig festmachen können. In jedem Fall sind die Gründe dafür komplex. In Israel dürfte der Zusammenbruch des Oslo-Friedensprozesses und der Ausbruch der zweiten Intifada ausschlaggebend gewesen sein. Die zionistische Linke in der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Landschaft ist mehr oder minder zusammengebrochen, was zu einer merklichen Regression des öffentlichen politischen Diskurses insgesamt geführt hat – eine Regression, die sich nicht zuletzt in der von Ihnen erwähnten ideologischen Formation niederschlägt. In den letzten Jahren kommt zunehmend die kriegsdurchwirkte Barbarisierung der israelischen Politik hinzu, die in Ausnahmezuständen schon immer den Spieß umzudrehen und sich in erbärmlicher Selbstviktimisierung zu ergehen verstand. In Deutschland sehe ich in erster Linie den Zusammenhang von tabuisiertem Antisemitismus und legitimierter Islamophobie, welche nach dem 11. September 2001 einen großen weltpolitischen Aufschwung erhalten hat, als Nährboden für besagte Formation. Die Islamophobie ersetzt den Antisemitismus, der nun seinerseits in einen unsäglichen Philosemitismus umschlagen darf. Die offizielle Staatspolitik der Bundesrepublik, die aus geschichtlich erklärbaren Gründen diese Linie schon immer verfolgt hat, erhält nun von der bürgerlichen Presse einerseits und den sogenannten Antideutschen andererseits eine bemerkenswerte ideologische Affirmation. Das gab es so vorher nicht. Auch die deutsche Linke scheint mir, ähnlich wie die israelische, weitgehend zusammengebrochen zu sein. Das muss man, meine ich, in indirektem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Blocksystems, dem Siegeszug des globalisierten Kapitalismus und der Heraufkunft des amerikanischen Neokonservatismus sehen.

H.: Die Transformation der Antisemitismuskritik zur ideologischen Waffe fand, wie Norman Finkelstein* 2005 dargelegt hat, ja auch maßgeblich in den US-amerikanischen Neocon-Denkfabriken statt. Dort wurde – übrigens gleichzeitig mit dem Beginn des Siegeszuges des Neoliberalismus – der Begriff „neuer Antisemitismus“ produziert: ein Vehikel zur Erweiterung der Antisemitismuskritik auf Sphären, die in keinem oder keinem direkten Bezug zu Juden und Judentum stehen. Es wurden Kommunisten und andere Kapitalismuskritiker als „neue Antisemiten“ denunziert. Schließlich nahmen prominente Neocons wie Alan Dershowitz* alle Kritiker von Israels Staatspolitik, der neoimperialistischen Kriege der westlichen Welt oder Kritiker von Folter oder anderen Menschenrechtsverletzungen ins Visier. Irgendwann mussten soziale Bewegungen dran glauben, die sich gegen Rassismus oder auch nur gegen Kinderarbeit oder Tierversuche engagieren. Diese inflationäre Entwicklung gipfelte in der grotesken Behauptung, schon die pejorative Verwendung des Begriffs Neokonservatismus sei eine Form verkappten Judenhasses. Trägt diese Ideologie nicht totalitäre Züge?

M.Z.: Nein, das Totalitäre erfordert meines Erachtens nun doch einen ganz anderen Stellenwert des Staates, den es im Neokonservatismus nicht gibt, wie es ihn noch im klassischen Faschismus gab. Dafür hat sich der Kapitalismus zu sehr globalisiert. Der Kapitalismus bedurfte immer schon des Staates als Vehikel, um seine überstaatlichen Interessen zu verfolgen. Aber der Staat ist ihm mittlerweile selbst als Vehikel zu klein und ohnmächtig – der Kapitalismus muss in Kategorien von übernationalen Blöcken und geopolitischen Weltkonstellationen denken, bei denen der Staat realiter eine eher schmächtige Rolle spielt, nämlich die des schäbigen Handlangers. Nein, die neue Ideologie, von der Sie reden, ist nichts anderes als ein Mittel, kaschierte Interessen effektiv zu verfolgen, und ist darin das, was Ideologie letztlich schon immer war: ein Instrument der Affirmation von Herrschaft und Legitimierung von repressiv Bestehendem. Der Antisemitismusbegriff, dessen sich diese Ideologie bedient, hat, wie Sie richtig andeuten, fast nichts mehr mit Antisemitismus, geschweige denn mit seiner Bekämpfung zu tun, sondern dient, wie ich eingangs sagte, als Instrument zur Verfolgung gänzlich fremdbestimmter Zwecke. Dass er sich dabei des Shoah-Gedenkens in so perfider Weise bedient, wie er es immer wieder tut, ist für mich mit die schändlichste Form der Verwertung der Erinnerung an die historischen Opfer, ja grenzt meines Erachtens an Shoah-Verleugnung. Der philosemitische Impuls, der dabei oft zutage tritt, ist gerade darin durchaus dem genuinen antisemitischen Ressentiment verschwistert.

H.: Inwiefern und wo grenzt der ideologische Missbrauch der Antisemitismuskritik an „Shoah-Verleugnung“ – bei den Genozid verharmlosenden, sogar verniedlichenden Gleichsetzungen von NS-Schergen mit militanten Palästinensern, wie sie beispielsweise von israelischen Regierungsvertretern oder hierzulande von Israel-Solidarisierern praktiziert werden? Sie warnen ja auch vor einer „Entleerung“ des Antisemitismusbegriffs …

M.Z.: Ja, es handelt sich in der Tat um Vergleiche, die das, was ein Adorno noch als unsäglich apostrophierte und sich davor scheute, allzu schnell mit Namen zu benennen, in einen polemisch konstruierten Zusammenhang bringen. Es geht also um eine verbale Praxis, die letztlich darauf hinauslaufen muss, dass durch Inflationierung des Begriffs, mithin durch seine Abnutzung die welthistorische Singularität der Shoah, aber eben auch das Bewusstsein von den geschichtlich gewichtigen Auswirkungen des realen Antisemitismus schlicht aushöhlt. Was den Polemikern, die solche Vergleiche in Israel wie in Deutschland anstellen, entgeht, ist die Tatsache, dass sie damit nicht nur die historischen Opfer des Antisemitismus für unhaltbare Zwecke instrumentalisieren, sondern dass sie die Opfer im Stande ihres Opferseins, also als die, die sie waren, nämlich Opfer, nicht mehr erinnern. Damit verraten sie die Opfer selbst, aber auch das Andenken daran, was diese zivilisatorisch repräsentieren – eine Opfer erzeugende gesellschaftliche Realität – ein weiteres Mal. Im Falle der so agierenden Deutschen wundert mich das auch gar nicht: ihnen geht es ja gar nicht um die Juden, schon gar nicht um die heute noch lebenden, sondern primär um ihre eigene Befindlichkeit bzw. um die Regulierung ihres gestörten emotionalen Haushaltes. Es handelt sich um ein regressives Moment.

H.: Apropos „gestört“. Sie dokumentieren eine im Internet veröffentlichte Sex-Fantasie eines Bloggers aus dem Milieu der sogenannten Antideutschen, der sogar dem Bundesarbeitskreis BAK Shalom im Jugendverband der Linkspartei angehören soll. Darin rühmt sich der junge Deutsche, der sich als Nazienkel outet, des Beischlafs mit einer israelischen Jüdin, deren Großmutter, wie er betont, „als kleines Kind während der Todesmärsche um ihr Leben kämpfen“ musste. Sie analysieren diese, wie Sie sagen, „Widerlichkeit“ nicht nur als „die erbärmliche Perversität des Anspruchs auf Überbrückung von Unüberbrückbarem und ‚Wiedergutmachung’ dessen, was für immer unwiederherstellbar, mithin ‚unwiedergutmachbar‘ bleiben muss“. Sondern Sie sagen, sie zeuge auch von einem Wunsch „symbiotischer Vereinigung mit den Opfern, dem Bedürfnis, sich ihnen gleichzumachen und dem Verlangen, sich ihrer Identität zu bemächtigen“. Ist diese Vergangenheitsbewältigungs-Pornografie nicht auch ein Symptom für die von Ihnen bereits in den 1990er Jahren diagnostizierte Zeitenwende in der politischen Kultur der Berliner Republik, die besonders von einem wachsenden Bedürfnis getragen ist: sich der Last der NS-Geschichte inklusive des für die militärischen Unternehmungen u.a. in Afghanistan eher hinderlichen antifaschistischen Imperativs „Nie wieder Krieg!“ zu entledigen? Was die Rechten mit der Forderung nach dem „Schlussstrich“ oder der Holocaust-Leugnung versuchen, treiben Linke, die keine mehr sind, durch anmaßende und degoutante Distanzlosigkeit und feindliche Übernahme der Identitäten all jener voran, die sie mit den jüdischen Opfern assoziieren.

M.Z.: Ja, ich kann Ihnen in Ihrer Darlegung des Problems nur zustimmen. Vor allem stimme ich mit Ihnen darin überein, dass der offene oder latente „Schlussstrich“-Wunsch immer schon verschiedene Formen annahm. Das zog sich in der Tat von „Wir haben schon genug gezahlt“ über die Weigerung, sich der „Dauerpräsentation unserer Schande“ auszusetzen, bis eben zu diesen besonders perfiden Formen, in denen die von Gershom Scholem* seinerzeit in Abrede gestellte Symbiose von Deutschen und Juden gleichsam nachgeholt wird. In der Angleichung liegt nicht nur eine Anmaßung, sondern es drückt sich darin der Wunsch aus, sich dessen zu entledigen, was „Deutschen“ nun mal anhaften muss, weil sie einem Kollektiv angehören, das die Monstrosität der Vernichtung an den Juden verbrochen hat. Etwas zutiefst Narzisstisches färbt diesen Wunsch ein. Und weil dabei die Nachkommen der historischen Opfer nur die Funktion erfüllen, diesem Wunsch entgegenzukommen, werden die historischen Opfer wieder verraten. Nicht minder schlimm ist dabei, dass die diesen Wunsch hegenden Deutschen sowohl sich selbst als „Deutsche“ als auch die Juden als „Juden“ abstrahieren – letztlich auf die leere Formel des „Deutschen“ und des „Juden“ reduzieren. Wie schnell sind da die Inhalte austauschbar, wie schnell kann das Ressentiment der fremdbestimmten Zuneigung ins Gegenteil, in die Aversion, umschlagen.

H.: Mit dem kollektiven Wilkomirski-Syndrom*, mit der Sehnsucht, ein unschuldiges Opfer zu sein – freilich ohne jemals selbst leiden zu müssen –, korrespondiert eine weitere: Nicht nur den Stachel der Tätergeschichte, sondern auch den der militärischen Niederlage abzustreifen und zu den welthistorischen Siegern zu gehören. Objekt ihrer Identifikationsbegierde und Wunschprojektionen ist der zionistische „Bärenjude“, der die Ostgrenze des „zivilisierten Westens“ gegen die „barbarischen Islamnazis“ verteidigt. Juden hingegen, die die untergegangene diasporische Welt und die damit verbundene Leiderfahrung verkörpern, und das Judentum, dem Max Horkheimer einst eine „unendliche Zartheit“ bescheinigte, werden von den „Antideutschen“ mit Verachtung gestraft.  Trauer um die Holocaust-Opfer, Engagement für Antimilitarismus und Frieden gilt als „unsexy“; man feiert lieber „Auschwitz-Befreiungsraves“. Auf  „antideutschen“ Demonstrationen werden nicht erst seit dem Gaza-Krieg Herrenmenschen-Parolen, wie „Palästina, knie nieder – die Siedler kommen wieder!“ und „Bomber Harris Superstar – komm in meine Antifa!“, skandiert. Da gerieren sich die Nazienkel zu allem Übel auch noch als Rechtsnachfolger der alliierten Befreier, womöglich sogar Ben-Gurions…   

M.Z.: Das Interessante dabei ist, dass die Verachtung für den diasporischen Juden, die Sie hier den „Antideutschen“ bescheinigen, mit ebenderselben Verachtungen, die der Zionismus von jeher allem jüdisch Diasporischen gegenüber hegte, korrespondiert. Die Negation der Diaspora, die ja ein Zentralpostulat des klassischen Zionismus war, meinte dabei nicht nur die Schaffung des Neuen Juden bzw. Max Nordaus* „Muskeljuden“, sondern war vor allem von einem Abscheu vor dem diasporischen Judentum beseelt, welches er für degeneriert erachtete. So besehen, ließe sich in der Tat die Vermutung anstellen, dass, was israelsolidarische „Antideutsche“ an Israel bewundern, sich nicht zuletzt von dem speist, was das Selbstverständnis des Zionismus immer schon dem Diaporischen gegenüber empfand: Verachtung. Dass damit auf deutscher bzw. „antideutscher“ Seite ein latent pulsierendes antisemitisches Ressentiment bedient wird, dürfte auf der Hand liegen. Endgültig manifest wird dieses Ressentiment dann in der Islamophobie: Sie ist nicht nur Ersatz für den tabuisierten Antisemitismus, sondern nachgerade erforderlich, damit man sich mit den Israelis so solidarisieren kann, dass man dabei den zionistisch verachteten diasporischen Juden mit umso größerer, freilich uneingestandener Verve antisemitisch „verarbeiten“ kann.

H.: Der emphatische Hass, der Diaspora-, aber auch israelischen Juden, die sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten engagieren, von deutschen und „antideutschen“ Neocons entgegenschlägt, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Die jüdisch-israelischen Kommunisten hätten „Aufklärungsverrat“ begangen, wetterte unlängst Stephan Grigat*, einer ihrer führenden Ideologen. Friedensbewegte Shoah-Überlebende aus Israel wurden vor einigen Jahren in Köln von jungen „Antideutschen“ – die mittlerweile vermehrt unter dem Label „Antinationale“ auftreten – als „Nazi-Schweine“ beschimpft. Diese Kreise greifen auch Sie auf den einschlägigen Internetseiten meist anonym als „jüdischen Antisemiten“ oder „Alibi-Juden“ an. Interessanterweise werden Sie von diesen „Antisemitismuskritikern“ selten als Historiker oder Marxist angegangen, sondern fast immer als Jude – bevorzugt als sogenannter selbsthassender Jude. Alle Juden, die es nicht mit Israels Kriegs- und Besatzungspolitik halten und nicht die von Deutschen festgesetzten Kriterien fürs Richtiger-Jude-Sein erfüllen, sind Wiedergänger Otto Weiningers*? Ist da Antisemitismuskritik nicht längst in blanken Antisemitismus zurückgefallen? Und gibt es in Israel ähnliche Entgleisungen zu beobachten?

M. Z.: In meinem Buch versuche ich ja darzulegen, dass die philosemitische „Solidarität“ mit Israel samt der damit einhergehenden Attacken auf jüdische Kritiker der israelischen Politik und der unverhohlene klassische Antisemitismus auf dem gleichen antijüdischen Ressentiment beruhen. Ja, für mich sind das besonders raffiniert verkappte Antisemiten, genau die Typen, die unter gewendeten Umständen und anderen historischen Konstellationen zu gestandenen Judenverfolgern wurden – oder noch werden könnten. Bedenken Sie nur, wie ehemalige Antizionisten und Israelhasser sich, als es opportun geworden war, gewendet haben und sich heute als große Anhänger Israels und des Zionismus gerieren. Aber das wundert auch nicht allzu sehr – das ist „gute“ alte deutsche Tradition: Die Deutschen wussten immer schon am besten, wie der Jude zu sein hat und was an ihm nicht akzeptabel ist, sie wussten ihm immer schon die Bedingungen zu stellen, wie er sich zu verändern hat, damit er von ihnen aufgenommen werden kann. Und zwischendurch wussten sie auch, warum er auf keinen Fall aufgenommen werden kann und vernichtet werden muss. Da zieht sich eine lange Reihe von Richard Wagner bis zu den heutigen Hassern von Juden, die sich mit Israel kritisch auseinandersetzen. Na ja, und das mit dem sich selbst hassenden Juden – diese Masche kennt man ja lange: In Israel wird dieses „Argument“, wenn überhaupt, von Rechtsradikalen aus der Ecke der Siedlerbewegung und der rechten Nationalreligiösen verwendet. Und genau in dieses politische Milieu gehören meines Erachtens auch diese deutschen „Linken“ und „antideutschen“ Neokonservativen. Wie man mich dabei von dieser Seite persönlich apostrophiert, interessiert mich herzlich wenig. Was habe ich mit diesen Typen zu schaffen? Ich bin doch ein Linker. Über das allgemeine Niveau dieser Leute möchte ich mich lieber nicht äußern. Allein die Tatsache, dass sie zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik offenbar nicht zu unterscheiden vermögen, lässt mich vor der Substanz ihrer intellektuellen Verrenkungen nicht gerade vor Ehrfurcht erschaudern.

H.: In der Tat sind in der vergangenen Dekade massenhaft deutsche linke Antizionisten und Israelhasser mit fliegenden Fahnen ins Lager der Israelsolidarisierer übergelaufen. Bekannte Publizisten, Ex-Grüne-Politiker, Mitglieder diverser K-Gruppen und auch der Linkspartei. Nicht wenige inszenieren ihre Ankunft im gelobten Land der Israelsolidarität sehr medienwirksam: Da legt eine LINKEN-Abgeordnete vor Publikum mit pathosschwangerer Stimme eine Beichte über ihren früheren Aufenthalt in einem Ausbildungslager einer militanten Palästinenser-Organisation  ab. Freilich darf bei so einer gründlichen Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit nicht das Absingen schmutziger Lieder gegen all jene Antiimperialisten und andere Linke fehlen, die nicht mitziehen wollen – „alles Antisemiten“. Sie haben diesem Überläufer-Phänomen ja auch Überlegungen gewidmet: Was macht Israel und der exzessive Gebrauch von dem, was diese Leute für „Antisemitismuskritik“ halten, so anziehend – Karrierechancen, machtpolitische Erwägungen?  

M.Z.: Was es genau ist, dass diese Leute sich an der vermeintlichen Antisemitismuskritik so delektieren lässt, kann ich nicht Bestimmtheit sagen. Denn es wird dabei so viel Quatsch geredet, falsch gedacht und diffamiert, dass man dieses Phänomen, so will es scheinen, kaum noch mit rationalen Diskurskategorien beschreiben und begreifen kann. Wollte ich wohlwollend sein, würde ich ein schlechtes Gewissen dieser Leute wegen ihrer eigenen Vergangenheit vermuten – einer Vergangenheit, bei der freilich nicht auszuschließen ist, dass sie in der Tat auch latent antisemitisch angehaucht war. Dass sie aber meinen, den defizitären Mist der eigenen Vergangenheit mit neuem defizitären Mist „wiedergutmachen“ zu sollen, ist für mich ein Indiz dafür, was für politische Armleuchter, vor allem aber, wie unfähig zu wirklicher Aufklärung diese Leute sind. Das Schlimmste dabei ist, dass sie wegen der eigenen Verblendung nicht kapieren, dass sie mit ihrer sogearteten Israelsolidarität Israel selbst keinen Gefallen erweisen. Sie solidarisieren sich mit einem Israel, das sich mit seiner eigenen Politik selbst nach und nach in den Abgrund treibt. Aber vielleicht ist das ja auch ihr geheimer Wunsch, wer weiß? Wem Palästinenser und jüdische Israelis so austauschbar sind, wie sie es ihnen lebensgeschichtlich offenbar waren, gerät in den Verdacht, dass er sich letztlich sowohl um die realen Palästinenser als auch um die realen Israelis einen Scheißdreck kümmert. Na ja, und außerdem liegt natürlich „Antisemitismuskritik“ ganz hoch im Trend. Dem Zeitgeist frönen und dabei auch noch Gutmensch sein – das lohnt sich doch allemal, oder?

H.: Ist diese Flucht von ehemaligen Antizionisten unters zionistische Pantheon bloß ein deutsches Phänomen? Lässt sich das nicht auch bei israelischen Linken und Exlinken, diversen Intellektuellen beobachten?

MZ.: Mit dem Vorgang in Israel lässt sich das meines Erachtens nicht ganz vergleichen. Diejenigen, die in Israel vom Zionismus abgelassen hatten bzw. dezidierte Antizionisten gewesen waren, haben keinen Rückzieher vollzogen. Welchen Anlass sollten sie dazu auch gehabt haben? Was aber mit dem Zusammenbruch des Oslo-Friedensprozesses und dem damit einhergehenden Ausbruch der zweiten Intifada geschah, war, dass große Teile der zionistischen Linken, die ja sich vor allem über ihre Positionen im israelisch-palästinensischen Konflikt definiert hatten, ihre ehemaligen friedensbewegten Ideale und politischen Aktivitäten hinter sich ließen – ja teilweise eine regelrechte Kehrtwende vollzogen. Ihre Hinwendung zum Zionismus war ja keine, sondern bedeutete lediglich eine Neupositionierung im Zionismus, dem sie schon immer angehört hatten. Sie gaben sich einfach als Desillusionierte, von den Palästinensern „Enttäuschte“, und richteten sich gemütlich im israelischen nationalen Konsens ein. Das unterscheidet sich von dem, was mit den ehemaligen Linken in Deutschland geschah – und noch immer geschieht.

H.: Und was treibt ehemals linke Juden, wie den  französischen  Regisseur Claude Lanzmann*, zu einer, wie Sie zu sagen pflegen, „Fernsolidarität“ mit Israel, die Sie u.a. als „hysterisch“ beschreiben und die sich, so Ihr Vorwurf, einer „schäbigen Banalisierung der Shoah“ bedient? Sie kritisieren ihn, u.a. weil er während des zweiten Golfkriegs seiner Liebe zur Bombe wortreich Ausdruck verliehen und auch in Israel sehr umstrittene Shoah-Vergleiche angestellt hatte. Beispielsweise meinte er, verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Saddam und Hitler oder auch zwischen dem, seiner Meinung nach, zu passiven Handeln der israelischen Regierung gegenüber dem Irak und dem Verhalten der Judenräte gegenüber den NS-Schergen ausmachen zu können.

M.Z.: Was Lanzmann zu dem trieb, was sich für mich als hysterisierende Ideologie ausnimmt, war wohl genuine Angst. Angst wovor? Angst davor, dass Israel zur diasporischen Ghettomentalität zurückkehrt. Er redete totalen Blödsinn, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er wirklich Angst hatte. Israel widerfuhr im Golfkrieg das Beste, was es unter den entstandenen Umständen erwarten durfte: Die Amerikaner sagten, sitzt ruhig, wir machen die Arbeit für euch. Sie taten das, um die arabische Welt zu besänftigen und den Golfkrieg nicht zum israelisch-palästinensischen Anliegen geraten zu lassen, wie es Saddam Hussein taktisch wollte – eine Sache, die noch der letzte israelische Politiker begriff. Lanzmann konnte das offenbar nicht begreifen. Er hatte Angst, und der ließ er freien Lauf. Das ist sein gutes Recht, nur entpuppte er sich dabei als das, was er wirklich ist: ein paranoider Bellizist. Überhaupt scheint er stets Schatten von Bergen für Berge zu halten. Dass er dabei stets sein kulturelles Kapital als Schöpfer von „Shoah“ einsetzt, scheint mir nicht nur schäbig zu sein, sondern eine besonders penetrante Form der Instrumentalisierung des Shoah-Gedenkens.

H.: Wie Sie bereits erwähnten, scheint das zentrale Problem bei der Degeneration des Niveaus linker Debatten die ideologische Verschmelzung der Begriffe Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik zu sein. Damit sind doch eigentlich alle Dämme gebrochen: Nicht nur kann jede Kritik an allem, was israelische Regierungen an Menschen- und Völkerrechtsbrüchen begehen, moralisch skandalisiert werden. Es können auch alle Juden, die diesem Kurs nicht folgen wollen – vom anarchistischen Kriegsdienstverweigerer, über den antizionistischen Kommunisten, dem Ultraorthodoxen bis zu ehemaligen israelischen Politikern und Diplomaten, die gegen den Eskalationskurs von Netanjahu opponieren – „politisch korrekt“ in einen Sack gesteckt und an den Pranger gestellt werden. Die repressive Identifikation von Juden und Judentum mit Zionismus und Israel – nichts anderes fabrizieren ja jene, die die Begriffe Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik in einen Topf schmeißen – zeitigt aber noch andere bittere Folgen: Das in rechtsextremen Kreisen überaus beliebte antisemitische Ressentiment, dass Israels Politik ein Ausdruck kollektiver Charaktereigenschaften „der Juden“ sei, wird objektiv hochgehalten und genährt…

M.Z.: Ich glaube nicht, dass rechtextremistische Kreise je darauf gewartet haben, dass sich an Israel das objektiviert, worin sie eine Rechtfertigung für das finden könnten, was sie ohnehin schon immer „wussten“, noch bevor es überhaupt ein Israel gab. Dass Israels Politik aber objektiv dem Antisemitismus jede Menge Futter liefert, daran kann nicht gezweifelt werden. Das Problem dabei liegt aber eben in erster Linie in dem, was Israel tut, und nicht darin, was die Antisemiten gut daran finden, weil es ihrem Antisemitismus das Wort redet. Wenn Israel Völkerrechtswidriges verbricht, dann ist das doch der Skandalon und nicht die Tatsache, dass sich die Judenfeinde daran delektieren. In den 1950er Jahren hat Ben-Gurion einmal gesagt, es sei nicht wichtig, was die Gojim sagen, sondern was die Juden tun werden. Jetzt hat sich plötzlich das Blatt gewendet: Die Israelsolidarisierer beklagen, was die Gojim sagen, und nicht, was die Juden tun. Das aber, was Israel an den Palästinensern verbricht, kann sich nicht daran bemessen, ob es dabei einen Imageschaden erleidet – ja nicht einmal daran, ob die, die bereits von einem antisemitischen Ressentiment angetrieben werden, sich durch Israels Taten bestätigt sehen, sondern einzig an dem, was diese Taten an Leid und Unrecht erzeugen. Linke müssen stets fähig sein, sich von rechtsextremistischen Kreisen distanzieren zu können. In keinem Fall dürfen sie sich von ihrer gerechtfertigten Kritik an Israel abschrecken lassen, nur weil sie den Beifall von falscher Seite erhält.

H.: Selbstverständlich ist das durch Israels Kriegs- und Besatzungspolitik bewirkte reale Leid das Kernproblem und nicht ihre Reflexion durch Externe. Aber die von den Israelsolidarisierern forcierte Eineinebnung der Unterschiede zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik ist Antiaufklärung über die wahren Ursachen, Historie, verantwortlichen Akteure etc. des Nahostkonflikts. Diese behindert doch eine politisch wirkmächtige Entfaltung der von Ihnen geforderten gerechtfertigten Israelkritik oder lenkt sie gegen falsche Adressaten.

M.Z.: Ja, das sehe auch ich so. Meine Antwort bezog sich auf den Teil Ihrer Frage, der das Problem thematisierte, dass rechtsextreme Kreise Israels Politik als Ausdruck kollektiver Eigenschaften „der Juden“ deuten. Was nun die Parallele zu den vermeintlichen Israelsolidarisierern anbelangt, so liegt der Kurzschluss in der Tat in nämlicher Übertragung, welche allerdings ihre Quellen im historischen „Nie wieder Deutschland!“ hat: Weil Deutsche an den Juden Schlimmstes verbrochen haben, ist unabdingbare Solidarität mit Juden angesagt. Und weil Juden sich nationalstaatlich in Israel konsolidiert haben, ist unabdingbare Solidarität mit Israel angesagt. Schon hier lag ein Fehler, denn, wie ich immer wieder darzulegen versuche, sind nicht alle Juden Zionisten, nicht alle Zionisten Israelis und nicht alle Israelis Juden. Wenn man aber darüber hinaus bedenkt, dass Israels Politik objektiv auch für Israel, mithin für die in Israel lebenden Juden katastrophal ist, nimmt sich diese falsche Israelsolidarität als etwas aus, das mit dem konkreten Israel und seinen Juden längst nichts mehr zu tun hat. Dies wiederum ist ein Resultat des nicht minder ideologischen Kurzschlusses, wonach Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik dasselbe seien.

H.: Dieser „ideologische Kurzschluss“ ist mittlerweile in den Redaktionen fast aller etablierter deutscher Medien herrschende Praxis. Wenn jüdische Zionisten zusammen mit nichtjüdischen „Antideutschen“, der Partei Bibeltreuer Christen und anderen Rechtskonservativen – aus diesen politischen Strömungen rekrutieren sich gewöhnlich die israelsolidarischen Bündnisse – aufmarschieren, um die Bombardierung Gazas oder die Erstürmung der Free-Gaza-Flotte durch die israelische Armee zu unterstützen, dann berichten sogar als seriös geltende Nachrichtenmagazine von „jüdischen Demonstrationen“. Die Proteste von Palästinensern und anderen Arabern, Antiimperialisten und friedenspolitischen Initiativen werden entsprechend pauschal als „judenfeindlich“ oder „antisemitisch“ deklariert. Meinen Sie das, wenn Sie im Vorwort Ihres Buchs, in Anlehnung an ein Diktum des Historikers Theodor Mommsen, schreiben, die „lustvoll heteronome Verwendung von ‚Antisemitismus‘ als Parole im vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus“ sei „,in eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera’ umgeschlagen“. Und warum haben Sie zu dieser epidemiologischen Metapher gegriffen?

M. Z.: Zur epidemiologischen Metapher habe ich, wie Sie ja selbst und richtig anmerken, in Anlehnung an Theodor Mommsen gegriffen. Mommsen, den ich zitiere, verwendete sie in Bezug auf den realen Antisemitismus. Ich verwende sie im Hinblick auf den vermeintlichen Anti-Antisemitismus. Mommsen verwendete seinerzeit diese Metapher, weil er in der Verbreitung des Antisemitismus eine soziale Verblendung gewahrte, die sich durch das Ansteckende des unreflektierten, von Grund auf irrationalen Ressentiments auszeichnet. Ähnliches lässt sich heute vom fetischisierten Anti-Antisemitismus behaupten: Er ist schon darin irrational, dass er in nichts oder doch nur wenig Realem gründet; er ist unreflektiert, weil er ein fremdbestimmtes Bedürfnis bedient; und er ist ansteckend, weil er sich auf dem Boden einer umfassenden gesellschaftlichen Ideologie bildet. Dieser allgemeine Verblendungszusammenhang ist es, der ihm einen fruchtbaren Nährboden bietet, wodurch er auch die ungewöhnlichen Dimensionen einer politischen Epidemie annehmen kann. Von selbst versteht sich dabei, dass „Epidemie“ hier nichts Biologisches bzw. Medizinisches meint, sondern, wenn überhaupt, eine politische Pathologie. Man kann, so besehen, in diesem Zusammenhang ruhig auch auf den etwas unbelasteteren Begriff der Ideologie zurückgreifen. Mein ganzes Buch versteht sich ja letztlich als Ideologiekritik in altbewährter Tradition.

H.: Aber was bleibt, wenn selbst die Ideologiekritik zur Ideologie verkommt? Das, was Sie als „fetischisiert-ideologische Erstarrung des ursprünglichen kritischen Impulses“ der Antisemitismuskritik beschreiben – eine Regression, „die die emanzipatorische Kampfemphase zur narzisstischen Selbstsetzung entarten lässt“ –, und die damit unweigerlich verbundene „Veralltäglichung der Shoah“ vollziehen sich ja nicht in den Niederungen des rechtspopulistischen oder rechtsextremen Milieus, wenngleich sie dort in anderer, weniger verklausulierter Form nach wie vor anzutreffen sind. Das alles  kommt „von oben“: Es geschieht in renommierten Forschungseinrichtungen und Universitäten, in linken Denkfabriken, wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und wird von Akademikern vorangetrieben, die für sich – unwidersprochen! – das intellektuelle Erbe von Marx und Adorno in Anspruch nehmen.

M.Z.: Na ja, was kann ich Ihnen schon darauf antworten? Was zu tun ist, ist dafür zu sorgen, dass erhalten wird, was erhalten werden muss – nämlich die Ideologiekritik der zur Ideologie erstarrten Ideologiekritik. Das heißt, der negativ kritische Impuls darf nie aufgegeben werden. Adorno war sich sehr wohl dessen bewusst, wie leicht Aufklärung verdinglicht, emanzipatives Denken zum Fetisch geraten kann. Das nicht zuletzt war ja der Grund, warum er in der „Negativen Dialektik“* von einer endgültigen Aufhebung absah. Wenn Marx- und Adorno-Anhänger zu Ideologen verkommen, dann müssen sie eben genau dessen überführt werden. Dass sie möglicherweise die Oberhand behalten, weil sie zahlreicher, saturierter und in institutionellen Machtpositionen untergekommen sind, darf nicht nur die radikale Kritik an ihnen nicht zum erlahmen bringen – es muss als Beweis dafür genommen werden, dass eben nichts vor Ideologisierung gefeit ist, solange die gesellschaftliche Realität und die ihr inhärenten Machtstrukturen der Ideologie bedürfen, um sich als das, was sie sind, zu erhalten: Manifestationen eines repressiven Weltzustands.

H.: Sie sagen: „Es gab nicht nur die reale Banalität des Bösen, sondern es gibt heute auch das Böse der Banalisierung dessen, was statt sich ans Unsägliche heranzutasten, längst zur Allerweltsparole degeneriert ist.“ Welche Rolle spielt dabei die Kulturindustrie, die Holocaust-Kitschfilme wie „Schindlers Liste“ am Fließband produziert? Der US-amerikanische Regisseur Quentin Tarantino, für den, wie ein ZEIT-Rezensent schrieb, „die genießerisch ausgemalte Widerwärtigkeit der Nazis genauso schön ist wie die Gegenwiderwärtigkeit der Partisanen“, machte für seine stumpfe Rache-Gewaltorgie „Inglourious Basterds“ nicht einmal vor einer fiktiven Revision der Geschichte des Genozids halt: amerikanische Juden töten Hitler und besiegen die Nazis. „Für die Nachgeborenen ein Fest der Selbstgerechtigkeit“, schrieb der Rezensent und sprach von einem „Missbrauch“ der jüdischen Katastrophe für einen „blutigen Scherz“.

M.Z.: Ja, ich finde wie Sie sowohl den Edelkitsch „Schindlers Liste“ als auch Tarantinos Rachephantasie unsäglich. Und in der Tat bewahrheitet sich an diesen Machwerken das, was Adorno an der Kulturindustrie so gefährlich erschien, dass er, mit Horkheimer zusammen, diesem Phänomen einen zentralen Platz in der „Dialektik der Aufklärung“* einräumte. Kulturindustrie ist nämlich nicht nur ein Affront gegen das, was die hohe, die authentische Kunst zu sein hätte – nämlich in ihrem schieren zweckfreien So-Sein ein Gegenentwurf zum schlecht Bestehenden –, sondern auch ein Mittel der Ideologie im Hinblick auf alles, was den Verblendungszusammenhang im Spätkapitalismus ausmacht: die Manifestation des Tauschprinzips, die kommerzielle Verdinglichung von Ephemerem und die Fetischisierung von allem, was der kritischen Hinterfragung der repressiven Zustände zu dienen hätte. Das Problem besteht nicht in den guten oder schlechten Intentionen Spielbergs oder Tarantinos, sondern in der Tatsache, dass ihre Werke dem Hollywoodschen Vermittlungsmodus der Welt strukturell gar nicht erst entrinnen wollen. Wenn sie dabei auch nicht vor dem Holocaust haltmachen, mithin die Erinnerung bewusst in die gaudihafte bzw. pseudoernste Gefilde der Unterhaltung ziehen, ist das nur ein Aspekt davon, dass heutzutage nicht nur der historische, sondern auch der unter Umständen gerade stattfindende Völkermord gar nicht mehr anders als kulturindustriell vermittelt und eben auch rezipiert werden können.

H.: Erfährt Adornos Kulturindustriethese nicht eine ähnlich drastische Deformation wie die Antisemitismuskritik? Beispielsweise bescheinigte ein Stammautor der „antideutschen“ Wochenzeitung  Jungle-World – er ist auch immer weit vorn, wenn es um die Zerschwätzung des Antisemitismusbegriffs geht – der Bewusstseinsindustrie eine „Janusköpfigkeit“. Regressiv seien die Unterhaltungswaren im NS-Staat gewesen und heute der Rapper Bushido. Progressiv hingegen sei Heavy Metal in Teheran, „weil er subversiv ist“. Der Islamismus, weiß jener Autor, wolle nämlich „den unheiligen Kulturwaren das Profitmotiv austreiben, verkörpert es für ihn doch die Freizügigkeit der westlichen Welt“. Also, gerade wegen ihrer Warenförmigkeit, will uns der Verfasser sagen, sei die Kulturindustrie als Motor der Emanzipation zu preisen. Was sagen Sie als Kunsttheoretiker, Marxist und nicht zuletzt als jemand, der an der Universität Tel Aviv Vorlesungen zur „Dialektik der Aufklärung“ hält, denn dazu?

M.Z.: Na ja, in Ihrer Frage ist ja bereits die Erbärmlichkeit der These dieses Autors voll enthalten. Wenn er sich darauf beschränkt hätte zu sagen, dass etwas Kulturindustrielles ein subversives Element enthält, weil es in einem Kontext aufgeführt wird, der den Machthabern nicht gefällt, dann wäre das zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber immerhin auf der seichtesten Ebene des Begriffs der Subversion nachvollziehbar. Sollte er aber damit suggerieren wollen, mit Heavy Metal würde die Macht der Mullahs unterminiert, dann halte ich das für ausgemachten Blödsinn. Wann hätte je Kunst, geschweige denn Kulturindustrie die Macht von irgendjemanden realiter unterminiert? Mal ganz abgesehen davon, was Adorno seinerzeit über die Konsumierbarkeit der Protestsongs der 1960er Jahre gesagt hat, das an sich schon indiziert, dass ästhetische Selbstgefälligkeit eher affirmativen denn subversiven Charakters ist: Dem Autor kann nicht entgangen sein, dass die Mullahs nur einen Wink zu geben bräuchten, damit die gesamte Heavy-Metal-Szene im Iran von einem Tag auf den anderen verschwindet. Worum es dem Autor aber zu gehen scheint, ist ja gar nicht die mögliche Emanzipation von Iranern, sondern das Profitmotiv als neue Möglichkeit der Emanzipation herauszustellen. Mal ganz abgesehen davon, dass dabei eine konzeptuelle Verrenkung herauskommt – und auch ein weiteres beredtes Erzeugnis des neoliberalen Neusprechs –, tritt dabei die Ideologie des Autors objektiv zutage, eben die der neokonservativen Kapitalismusverherrlichung. Die liegt ja ganz im Trend des Zeitgeistes, zumindest in den Gefilden dieses neuen Ungeistes.

H.: Damit verbunden ist, wie auch in diesem Fall, eine weitere „Verrenkung“: Die islamische Welt wird in diesem Milieu als ideologischer Nachfolger des Nationalsozialismus gehandelt, der angeblich in erster Linie Sozialismus gewesen sei. Daher auch Begriffskreationen wie „Umma-Sozialismus“, „Islam-Faschismus“ und „Internationalsozialismus“ als Bezeichnung für antiimperialistische Strömungen. Und daher auch die aggressiv, oftmals hysterische Abwehr jeglicher Kritik an Islamophobie – vor allem dann, wenn, wie Sie es auch tun, Beziehungen und historische Kontinuitäten zwischen dem Hass auf Juden und dem Hass auf Muslime aufgezeigt werden. Sie fragen in Ihrem Buch: „Wenn Antisemitismus nicht in die vergleichende Nähe der Islamophobie gerückt werden darf, wie kommt es, dass die heftigen Attacken der islamischen Welt gegen Israel leichterhand als Antisemitismus eingestuft werden?“ Sie selbst geben in Ihrem Buch eine ausführliche Antwort, die ich jetzt mal überspringe und an die ich die Frage anschließe: Vielleicht auch, weil sich in der politischen Kultur der westlichen Welt Islam, Antizionismus und Antisemitismus als ideologische Chiffre für Sozialismus, also die Verlierer-Seite, und für die Sieger-Seite Israel, Zionismus und Judentum als Chiffre für den Kapitalismus – freilich ein antisemitisches Ressentiment – längst verfestigt hat?

M.Z.: Ich kann das nicht mit Bestimmtheit beantworten. Dass sich aber „Linke“ nicht entblöden, im Nationalsozialismus einen Sozialismus sehen zu wollen, ist doch schon Indiz genug, dass da ganz idiotische Ideologen am Werk sind – mögen sie sich noch so selbstzufrieden auf die „Sieger-Seite“ schlagen. Was diese Verblendeten aber offenbar ganz und gar verdrängen, ist, dass der von ihnen so heißgeliebte Zionismus zum großen und gravierenden Teil seine bedeutenden historischen Wurzeln im Sozialismus hatte. Ich weiß nicht, ob diese Leute mal etwas von Borochov* gehört haben; ob sie wissen, dass die in der prästaatlichen Ära angelegte Infrastruktur, die die Gründung des Staates Israel erst ermöglichte, ohne die Kibbutz-Bewegung undenkbar gewesen wäre; ob ihnen bewusst ist, dass eine Arbeitspartei den Staat Israel gegründet und ihn auch über Jahrzehnte regiert hat. Ich weiß nicht, ob diese Leute überhaupt etwas über die zionistische Geschichte wissen. Aber wer A sagt, muss auch B sagen: Wenn der Nationalsozialismus in erster Linie Sozialismus gewesen sein soll, und der Zionismus ursprünglich auch, dann haben Nationalsozialismus und Zionismus etwas Gemeinsames. Ist es das, was diese Typen unterstellen wollen? Denn eines darf man mit Gewissheit sagen: Wenn mit Sozialismus die im Westen angedachte Produktionsweise gemeint ist, war er im Zionismus viel präsenter als er es im Islam jemals sein konnte. Aber, wie gesagt, auf die Denkverrenkung einer Wesensverwandtschaft von Sozialismus und Nationalsozialismus muss man sich nicht einlassen. Sie passt zu den Typen, die sie sich konstruieren. Warum sollten sie mich interessieren?

H.: Beispielsweise die Leiterin der Amadeu Antonio Stiftung, die sich die Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben hat, aber auch Bündnisse unter Titeln wie „Freiheit statt islamische Republik“ – wohl nicht rein zufällig eine Anlehnung an die alte Dregger-Parole – mit „antideutschen“ und anderen bellizistischen Neocons eingeht, meint: „Derzeit wird oft behauptet, die Islamophobie hätte den Antisemitismus abgelöst. Das halte ich für reine Polemik.“ Eher im Gegenteil: Durch den 11. September, so die Stiftungsleiterin weiter, sei der in der DDR kodierte Antisemitismus unter ihren ehemaligen Bürgern offen zur Entfaltung gekommen: „Gerade dieser Anschlag in New York hat den Ostdeutschen suggeriert, dass es nicht alles falsch war, was sie im Staatsbürgerkundeunterricht über die bösen Zionisten, die bösen Amerikaner und überhaupt die Ursachen aller Probleme auf der Welt gelernt haben.“

M.Z.: Ich bitte Sie, wozu sich überhaupt damit befassen, was die Leiterin der Amadeu Antonio Stiftung unbeschwert in die Welt setzt? Ich weiß nicht, wer diese Frau ist. Aber wenn ich dem folge, was Sie von ihr berichten, habe ich das Gefühl, es handelt sich um eine ehemals stramme SED-Anhängerin, vielleicht sogar noch mehr, die heute versucht, ihre Vergangenheit so zurechtzurichten, dass sie mit der Ideologie des gerade in Deutschland wehenden Zeitgeistes vereinbar ist. Ich könnte mir denken, sie war selbst mal eine dezidierte Antizionistin, die jetzt versucht, ihre „Jugendsünden“ wiedergutzumachen. Das sei ihr auch psychologisch zugestanden – ich weiß nur nie, warum diese Leute immer meinen, ihre lebensgeschichtlichen Defizite und die damit einhergehenden „Reuen“ in allgemeine Kategorien fassen und durch hanebüchene Ideologien kompensieren zu sollen. Bitte sehen Sie mir nach, dass ich nicht meine, mich mit den Auslassungen der Leiterin der Amadeu Antonio Stiftung befassen zu müssen.

H.: Sie haben, nicht nur in unserem Gespräch, sehr düstere Bestandsaufnahmen gemacht… Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis sagte vor fünf Jahren: „Wir treten in das konservativste Zeitalter unserer Geschichte ein – viel konservativer als die McCarthy-Ära.“ Hatte sie recht?

M.Z.: Ja, und wie sie recht hatte. Das hat mit einigem zu tun, was wir in diesem Gespräch thematisiert haben: dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus – wie arg es auch um diesen selbst bestellt gewesen sein mag; mit dem Siegeszug des Kapitalismus als Neoliberalismus und Neokonservatismus; mit der Politisierung des Islam als verspätete Reaktion auf den historischen Kolonialismus und der Pauperisierung großer Weltteile, in denen der Islam vorherrscht. Es hat auch mit der Perpetuierung des Nahostkonfliktes, allen voran mit der Fortschreibung des israelischen Okkupationsregimes zu tun. Und es hat nicht zuletzt auch mit einer Menge Opportunismus und Gesinnungsverrat zu tun, mit dem Ausstieg der Linken aus ihrer historischen Rolle und ihrem emanzipatorischen Auftrag. Ja, Angela Davis hatte so recht, dass es einem dabei in der Tat düster werden kann.

H.: Zum Schluss bitte ich Sie um eine Prognose: Falls sich das von Ihnen beschriebene und analysierte Problem – „nicht nur der Antisemitismus selbst ist eine der verruchtesten Formen der Ideologie, auch seine sich kritisch gerierende Rezeption kann sich als wesentlich ideologisch entpuppen“ – verfestigen, politisch vollständig durchsetzen und gesellschaftlich etablieren sollte: Welche Auswirkungen befürchten Sie für die Erinnerungskultur der Shoah, die Antisemitismusforschung, vor allem für eine Politik, die sich dem von Adorno formulierten neuen kategorischen Imperativ – alles „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ – verpflichtet fühlt?

M.Z.: Falls sich diese Erscheinung, wie Sie sagen, vollständig durchsetzen und gesellschaftlich so etablieren sollte, das sie den Gesamtdiskurs beherrscht, dann sähe ich das als Ende einer jeglichen authentischen Erinnerungskultur an. Was übrig bliebe, wäre eine Ideologie des Pseudogedenkens – kein Gedenken der Opfer im Stande ihres Opferseins. Damit würde sich der neue kategorische Imperativ Adornos mehr oder minder erledigt haben. Die Tendenz deutet bereits heute darauf: Der Schindluder, der mit Adornos paradigmatischem Diktum gerade von den ideologischen Verballhornern der Erinnerung getrieben wird, ist unsäglich. Die Leichtigkeit, mit der sie dabei mit dem Antisemitismus-Vorwurf umgehen, ist Indiz genug dafür, dass es ihnen nicht wirklich bange ist um den reellen Antisemitismus. Es geht ihnen um vieles, wenig, wenn überhaupt etwas, aber um den Antisemitismus selbst. Ich sehe darin eine große Gefahr, wie ich denn in jeder Verblendung, in jeder Ideologie eine politische und zivilgesellschaftliche Gefahr sehe.

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H.: Herzlichen Dank, Herr Zuckermann.


Anmerkungen:
•    Norman Finkelstein: Der US-amerikanische Politikwissenschaftler ist ein scharfer Kritiker der israelischen Besatzungspolitik und der Funktionalisierung der Shoah für machtpolitische Interessen.    
•    Alan Dershowitz: Der US-amerikanische Rechtsanwalt gilt als bedingungsloser Unterstützer Israels und radikaler Verfechter eines harten Kriegskurses des Westens gegen die arabische Welt.
•    Gershom Scholem: Deutsch-jüdischer Philosoph und Religionshistoriker, der sich Anfang der 1920er Jahre dem Zionismus zuwandte, nach Palästina auswanderte und sich dort für eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern einsetzte.
•    Binjamin Wilkomirski: 1995 veröffentliche ein Autor dieses Namens im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp unter dem Titel „Bruchstücke“ seine Autobiografie – die traumatischen Erinnerungen eines jüdischen Kindes, das die Shoah überlebt hatte. Drei Jahre später wurde der Verfasser als Fälscher enttarnt, der seine Opfer-Identität frei erfunden, in Wahrheit Bruno Grosjean hieß und in gutsituierten Verhältnissen in der Schweiz aufgewachsen war.
•    Max Nordau: Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation, die 1897 u.a. auf Initiative Theodor Herzls ins Leben gerufen wurde.
•    Stephan Grigat: Deutscher Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem neokonservativen Netzwerk „Stop the Bomb“. Er setzt sich für ein kompromissloses Vorgehen mit allen Mitteln gegen den Iran ein und kritisiert Israel für seinen „zu liberalen“ Umgang mit der arabischen Bevölkerung.
•    Otto Weininger: Der österreichisch-jüdische Philosoph wurde wegen seiner judenfeindlichen Haltung vor allem in der NS-Propaganda zum Inbegriff des „selbsthassenden Juden“.
•    Claude Lanzmann: Der 1925 in Paris geborene Regisseur zählt seit Veröffentlichung seiner neunstündigen Filmdokumentation „Shoah“ (1985) zu den bedeutendsten Dokumentaristen des Völkermords an den Juden.
•    „Negative Dialektik“: Das 1966 erschienene Buch von Theodor W. Adorno war ein Versuch, die Dialektik von „affirmativem Wesen“ zu befreien. Es gehört zu den wichtigsten Arbeiten der Kritischen Theorie.
•    „Dialektik der Aufklärung“: Die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1947 veröffentlichte Sammlung philosophischer Essays gilt als Hauptwerk der Kritischen Theorie.
•    Ber Borochov: Jüdischer Sozialist und Mitbegründer der zionistischen Arbeiterbewegung.

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