Zeitfragen

Zur Spezies der „Integrationsverweigerer“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von ARNO ORZESSEK –

(Aufgeschnappt im Deutschlandfunk und transkribiert für Hintergrund) –
dlf – Kultur heute – 3. November 2010 –

Seit Jahren Bewohner des berüchtigten Schlamasseldistrikts Berlin Neukölln verfügen wir hoffentlich über die nötige Sensibilität, um dem Begriff Integrationsverweigerung die innere Paranoia abzulauschen. Der Wahnsinn beginnt damit, dass das maliziöse Wort zu ungefähr 99 Prozent auf Muslime und zu 90 Prozent auf muslimische Türken gemünzt wird, was einer religiös beziehungsweise rassistisch motivierten Sippenhaft nahekommt.

Und das schmückt die säkular-liberale Gesellschaft, die ja Abweichung erlauben, Dissens aushalten, individuelle Freiheit gewähren will, nun wirklich nicht. Denn was ist eigentlich Integrationsverweigerung? Wenn ein prügelnder Pascha die Entjungferung seiner Tochter per Ehrenmord rächen lässt? Oder wenn ein einsames Computerkid per Amoklauf Mitschüler kaltmacht? Wenn ein türkischer Halbstarker auf dem Herrmannplatz Frauen belästigt oder wenn dasselbe russlanddeutsche Asoziale in Hellersdorf tun? Wenn die anatolische Großmutter kaum Deutsch spricht oder wenn auf dem Bio-Oriental-Markt am Landwehrkanal das internationale Studentenpublikum auf Englisch als Lingua franca besteht, obwohl die bilingualen Verkäufer nur Deutsch und Türkisch können? Ist es zuletzt Integrationsverweigerung, wenn Ali Altintop für die türkische Nationalelf kickt oder wenn sich Franz Beckerbauer steuergünstig hinter die Grenze verzieht?

Es gibt so viele Freaks, religiöse Phantasten, snobistische Geldeliten, kulturell anmaßende Großbürger und sonstige teils hochangesehene Sonderlinge, die nicht im ominösen Schwerkraftzentrum der Integration, der sogenannten gesellschaftlichen Mitte stehen, dass die Parole nur lauten kann: Jeder, der rechtmäßig in Deutschland lebt und die Gesetze achtet hat das Recht auf individuelle Integrationsverweigerung. Durch seinen Glauben oder Unglauben, seine politischen Ansichten, durch seine Lebensart, Freizeitbeschäftigung, Ernährung, Sexualität, wodurch auch immer. Allein die Sprachkompetenz ist eventuell von der Freizügigkeit auszunehmen.

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Für die obrigkeitsstaatliche Alternative steht unter anderen der bayerische Staatsminister des Inneren, Joachim Hermann, CSU. Hermann, Mitglied im Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem, der sich nicht weltlichem sondern kanonischem Recht unterwirft, hat erklärt, Integration müsse notfalls auch erzwungen werden. Und weil ihm wohl selbst Zweifel kamen, ob sich Integration innerhalb des demokratischen Rechtsstaats tatsächlich erzwingen lässt, fügte er hinzu, dass man ansonsten halt „ausweisen“ müsse. Auch das ein Wahnsinn, der Methode werden könnte, wenn man Integrationsverweigerung als Straftat festschriebe. Einem Herrmann, der Überwachungsmaßnahmen liebt, aber unliebsame Demonstrationen hasst und deshalb das bayerische Versammlungsrecht verschärft hat, wäre es zuzutrauen. Eine bayerische Integrationspolizei ließe sich sicher schnell bestallen.  

Es liegt uns fern, Integrationsproblematik zu leugnen. Allerdings sind Herrmann und Sarrazin nicht Teil der Lösung sondern Teil des Problems, nämlich Integrationsverweigerer, die sich nicht in die liberalisierte Gesellschaft integrieren wollen. Wozu eben auch gehört anzuerkennen, dass die einzig verbindliche Leitkultur hierzulande von Gesetzestexten bestimmt wird, keineswegs aber von Genen – oder Gesinnung. Indessen mögen sie weiter agitieren. Der liberale Historiker Timothy Garton Ash hat jüngst geschrieben, in einer freien Gesellschaft müssen wir uns nicht einig sein. Es muss nur Einigkeit darüber herrschen, auf welche Weise wir uns uneins sein dürfen.

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