Der Schoß ist fruchtbar noch ...
"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch", warnte Bertolt Brecht bereits 1941 in seinem Theaterstück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Das gilt auch 80 Jahre nach dem Sieg über den Faschismus. Warum das so ist und was das mit Medizin und Psychologie zu tun hat, erklärt im Gespräch mit Tilo Gräser der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert.

HINTERGRUND Vor 80 Jahren wurde der deutsche Faschismus militärisch besiegt. War das auch das Ende des Faschismus als gesellschaftliche Erscheinung, als gesellschaftlicher und politischer Bewegung?
CHRISTIAN SCHUBERT Ich muss vorausschicken, dass ich kein Historiker bin, der sich schon lange mit Faschismus, Totalitarismus und all diesen Aspekten beschäftigt hat. Wenn ich dazu etwas sage, dann, weil ich als kritischer Mediziner, Psychologe und Psychotherapeut durchaus Tendenzen in der Medizin, Psychologie und Psychotherapie erkenne, die mir keine andere Wahl lassen, als Stellung zu nehmen und dabei auch die historische und erkenntnistheoretische Perspektive einzubeziehen. Das habe ich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Corona ganz vehement getan. Als Psychoneuroimmunologe in Innsbruck kritisiere ich seit Langem den biomedizinischen und somit menschenentfremdeten Ansatz der Schulmedizin, der bis zum heutigen Tag die Medizin dominiert. Die Kritik an der Entfremdung vom Menschsein ist inzwischen mein zentraler Forschungsbereich geworden. Insofern maße ich mir an, zumindest laut nachzudenken und zu versuchen, Ihre Frage zu beantworten.
Zunächst mal würde ich sagen: Ja, der Faschismus ist militärisch zu einem Ende gekommen. Aber die Grundlagen, die dazu geführt haben, dass überhaupt Faschismus in Deutschland möglich war, wurden nicht beseitigt. Nein, sie glühten und glimmerten im Unterholz über die nächsten Jahrzehnte hinweg. Und jetzt würde ich provokant behaupten: In den letzten vier Jahren erlebten wir ein erneutes Aufflackern. Nicht in der gleichen Form. Das betone ich schon deshalb, um der Kritik zu begegnen, es ginge im Folgenden um eine Verharmlosung des Holocaust. Aber die psychosozialen und kulturellen Mechanismen, die damals zum Faschismus führten, dürften bei der Corona-Pandemie und den nachfolgenden gesellschaftspolitischen Ereignissen ähnlich gewesen sein. So würde ich auf jeden Fall mal in den Raum werfen, dass der Faschismus wieder erstarkt ist, und zwar diesmal interessanterweise weltweit, womit ich vor allem die westliche und die aufgrund der Globalisierung westlich geprägte östliche Welt meine. Aber nichtsdestotrotz, Deutschland und Österreich, die sich auf die Fahne schreiben, den Faschismus überwunden zu haben, gehörten wieder einmal zu den Schlimmsten und haben die Corona-Pandemie wirklich ad absurdum geführt.
Sie sind in einer vom Menschen entfernten, entfremdeten Form vorgegangen wie kein anderes Land der Welt, abgesehen von einem Inselstaat wie Australien, wo man auch nicht gerade zimperlich war, die Rechte der Menschen mit Füßen zu treten. In Österreich endete die staatliche Brutalität gegenüber der Bevölkerung bekanntermaßen sogar mit der Impfpflicht. Irgendwie erinnert mich der destruktive Umgang der Staatsmacht mit der eigenen Bevölkerung an eine chronische Autoimmunerkrankung. Als ob die westliche Welt an einer schweren chronischen selbstzerstörerischen Autoimmunerkrankung leidet. Auch bei einer Autoimmunerkrankung gibt es eine Art Glimmen und Glühen im Unterholz in Form dauerhaft erhöhter entzündlicher Aktivität, die klinisch zunächst quasi unsichtbar bleibt, wo man sich also in Remission befindet. Kommt es dann zu einer außergewöhnlichen Belastung des Menschen, psychisch oder physisch, wird die Entzündungsaktivität angeheizt, es kommt zu einem Krankheitsschub, der Wald brennt quasi. Und die Schulmedizin, die sich nicht anders zu helfen weiß, spielt Feuerwehr, reagiert mit Löschversuchen in Form von Cortison- oder Methotrexat-Gaben, wovon letztere aufgrund ihrer krebserregenden Wirkung selbst wieder brandgefährlich sind. Wenn ich also sage, der Faschismus wurde militärisch besiegt, dann denke ich, ja, er wurde wie ein Autoimmunschub vermeintlich gelöscht. Aber die Ursachen des Faschismus, die sind nicht beseitigt.
HINTERGRUND Die Frage ist ja, warum eine politische Idee in der Gesellschaft Fuß fasst und auf einen Nährboden trifft, sodass so viele Menschen mitgemacht haben, damals. Und auch bei Corona haben wir gesehen, dass viele, zu viele mitgemacht haben. Wie erklären Sie sich diesen Nährboden für Faschismus?
SCHUBERT Ich versuche, den Nährboden für Faschismus psychologisch zu begreifen und dabei zuerst einmal die emotionale Verletzung und Verletzlichkeit der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu rücken, die für eine ideologische Verführung quasi prädisponiert. Wir haben es in beiden Epochen, sowohl in der Zeit vor dem Nationalsozialismus, also zwischen Erstem Weltkrieg, Weimarer Zeit und Zweitem Weltkrieg, als auch in den letzten Jahrzehnten vor Corona mit einem durchaus hohen Ausmaß emotionaler Belastung in der Bevölkerung zu tun gehabt. Was die Epoche des deutschen Faschismus betrifft, so denke ich an die tiefe Verwundung der Bevölkerung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, nicht nur im körperlichen, sondern ganz besonders auch im emotionalen Sinn. Weiterhin muss die Weltwirtschaftskrise und das damit zusammenhängende existenzielle Elend der Menschen berücksichtigt werden. Man hatte es mit einer Bevölkerung zu tun, die emotional verletzt, traumatisiert, verunsichert und narzisstisch gedemütigt war und die sich aufgrund ihrer Ängste, Unsicherheiten und Kränkungen nach sichernder Struktur und einer Idealfigur, einem Führer sehnte, nach dem man sich wieder aufrichten konnte. Psychoanalytiker wie Alexander Mitscherlich und Viktor von Weizsäcker und andere mehr, die sich auch aus tiefenpsychologischer Perspektive mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzten, gehen davon aus, dass es die eben beschriebene seelische Verletzlichkeit in der Bevölkerung faschistischen Kräften leicht machte, ideologisch wirksam zu werden. Dabei verstanden es die Nazis meisterhaft, ein Phänomen in der Bevölkerung zu entfachen, das Gustave Le Bon und Sigmund Freud schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hatten und das in den letzten Jahren von Matthias Desmet aus Belgien noch einmal aktualisiert wurde: das Phänomen der Massenpsychose, des Massenwahns beziehungsweise der Mass Formation. Dabei geraten verängstigte und sozial isolierte Menschen über die gemeinsam geteilte psychopathische Wirklichkeit in eine von ihnen so tief herbeigesehnte soziale Gemeinschaft, die mit Sicherheit, Solidarität und dem gemeinsamen Glauben an die Rettung verbunden ist. Diese soziale Struktur wollen sie nicht mehr verlassen, auch wenn sie letztendlich mit ihrem Leben dafür bezahlen.
Betrachtet man nun die Epoche nach dem Nationalsozialismus bis heute, dann ist diese nach Desmet insbesondere seit den 1990er Jahren abermals von einer zu- nehmenden Verunsicherung und Verängstigung der Menschen geprägt, von Aggression, sozialer Isolation und dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens. Bei dieser Entwicklung in Richtung erneuter gesellschaftlicher Psychopathologie bin ich mit meinen 63 Jahren nun selbst Zeitzeuge. Ich habe als Schuljunge hautnah erlebt, wie schlecht die Aufarbeitung des deutschen Faschismus war, nämlich indem zuallererst Angst gemacht wurde. All diese schrecklichen Bilder und Filme über den Holocaust, aber keine Begründung, wie es zu dieser Entgleisung des Menschlichen kommen konnte. Abschreckung und Verängstigung lassen den Menschen, besonders den jungen Menschen, in den inneren Widerstand gehen, abwehren, verdrängen, verleugnen. Ich kann mich noch an die Judenwitze der Nachkriegszeit erinnern, die unter uns Schülern kursierten. Wie absurd! Eine Abwehr des Kriegstraumas ist auch das, was die Trümmerfrauen anstelle einer Aufarbeitung taten, indem sie die Hinterlassenschaften des Krieges möglichst schnell beseitigten, Fassaden des äußeren Wohlstands errichteten und dem Wirtschaftswunder den Weg ebneten. Je mehr ich mich später mit Leistungsdenken, Wirtschaftswachstum und Konsumismus kritisch auseinandersetzte, desto mehr wuchs in mir eine tiefe Unzufriedenheit über den Kapitalismus und den Neoliberalismus und die materialistische Herangehensweise an das Menschliche. Spätestens dann, als ich mich in eine jahrelange psychoanalytische Selbsterfahrung begab und von Berufs wegen sah, wie lebensfern in der Medizin und Psychologie mit dem Menschen umgegangen wird. Der Mensch als Maschine, Objekt und Ware.
Ich spreche vom reduktiven Materialismus als Menschenbild der westlich geprägten Sozialisation. Er ist unter anderem geprägt durch den Dualismus, also der Spaltung von Geist, Seele und Körper, Sozialem und Spirituellem. Ein weiteres Charakteristikum ist der Reduktionismus, also die irrige Annahme, man könne über die Erforschung der kleinsten Einheiten unserer Existenz, den Molekülen, Genen, Zellen, Zellbestandteilen, also von Materie, auf das Ganze und damit auf den Menschen schließen, Gesundheit und Krankheit erklären. Das sind nicht einfach nur harmlose erkenntnistheoretische Fehler, gleichsam akademische Kavaliersdelikte, über die sich die Gelehrten in ihren Elfenbeintürmen den Kopf zerbrechen. Es sind, davon bin ich mittlerweile überzeugt, die ideologischen Grundlagen für eine bereits lange andauernde Entfremdung des Menschen von sich selbst und seinen Mitmenschen, die in einer tiefen Verängstigung resultiert und seine Neigung erklärt, wenn es die Um- stände verlangen, in den Faschismus zu kippen. So brauchte es also in den Jahren vor Corona wieder nur mehr den sprichwörtlichen Funken in Form eines Virus, der den Wald zum Brennen brachte. Diesmal in Form der Corona-Pandemie mit all ihren unnötigen, teils dramatischen Folgeschäden, menschlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Heute würde ich sagen, dass der reduktive Materialismus, also das materialistische Menschenbild der westlichen Zivilisation, als totalitäre Ideologie sowohl dem deutschen Faschismus vor 80 Jahren als auch den faschistoiden Entwicklungen während der Pandemie zugrunde lag.
Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen. Teil 2 des Interviews erscheint in Heft 7/8 2025.
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. MSc CHRISTIAN SCHUBERT ist Arzt, Psychologe und Ärztlicher Psychotherapeut (psychodynamische Psychotherapie). Seit 1995 leitet er ein Labor für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Entwicklung eines Forschungsdesigns zur Untersuchung psychosomatischer Komplexität („integrative Einzelfallstudie“). Sein aktuelles Buch „Gesundheitselixier Beziehung – Das faszinierende Wechselspiel von Bindung, sozialer Verbundenheit und Immunsystem“ ist 2024 erschienen.