Friedensnobelpreis

Friedensnobelpreis mit geopolitischer Schlagseite

Der Friedensnobelpreis wird dieses Jahr erneut für den Einsatz für Menschenrechte vergeben. Die Tendenz war auch in den vergangenen Jahren zu beobachten: Weg vom globalen Friedensanliegen hin zu Menschen- und Freiheitsrechten. Ist das eine gute Entwicklung? Oder hat das instrumentelle Züge?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Nobel Friedenszentrum in Oslo
Foto: VisitOslo, Lizenz: CC BY, Mehr Infos

Eine Stunde bevor am 7. Oktober 2022 die Erwählten für den diesjährigen Friedensnobelpreis bekannt gegeben wurden, twitterte ich: “Mein Friedensnobelpreis-Träger ist Johan Galtung”1, wohl wissend, dass die feststellbar geopolitische Ausrichtung der Preisverleihung in den letzten Jahren seine längst überfällige Ernennung unwahrscheinlich machte. Dabei kann kaum jemand auf ein längeres, dauerhaftes und kreatives Wirken für den Frieden und Friedenslösungen in unzähligen Konflikten blicken.

Verliehen wird der Preis am 10. Dezember in diesem Jahr an den in Belarus illegal inhaftierten Menschenrechtsanwalt Ales Bjaletzki sowie eine russische und eine ukrainische Menschenrechtsorganisation: Memorial und das Center for Civil Liberties, denen man diese Ehrung aufgrund ihres jeweiligen persönlichen Einsatzes auf keinen Fall absprechen möchte, denen die Anerkennung gebührt.

Dennoch bleibt die Frage nach der Ursprungsidee und Ausrichtung der Preisentscheidungen, denen schon länger eine eurozentrische Ausrichtung vorgeworfen wird, wobei diese Einschätzung mit den vielen Preisträgern aus den USA auf jeden Fall zu kurz greift. Klug gewählt ist die Aufteilung auf die drei diesjährigen Preisträger, die sich für Menschen- und Freiheitsrechte in Belarus, Russland und der Ukraine einsetzen.

Dieser Nobelpreis selbst überwindet durch diese Kombination der Preisträger die als unüberwindlich erscheinenden Grenzen im Kriegs- und Konfliktgebiet Osteuropas. Gleichzeitig setzt sich jedoch die Tendenz fort, die schon länger zu beobachten ist – eine Verschiebung des (globaleren) Friedensanliegens auf den Kampf für Menschenrechte.

Unbenommen führt die Einhaltung von Menschenrechten zu mehr Gerechtigkeit und ist somit ein Beitrag zum Frieden, aber dennoch liegt in der Neuausrichtung des Nobelpreises eine gewisse Reduktion des großen Anliegens, das Sprengstoff-Entwickler Alfred Nobel als Tribut an seine kritische Freundin und Friedensikone Bertha von Suttner in Form des Stiftungsgeldes einrichtete.

Die besondere Anstrengung gegen militärische Auseinandersetzungen

In der Erklärung Nobels in seinem Testament betont er im Wesentlichen die besondere Anstrengung gegen militärische Auseinandersetzungen und für die “Verbrüderung der Völker” sowie die Organisation von Friedenskongressen als Bedingung für den Zuspruch des Preises.

Der Fokus auf die Anstrengungen dafür auf das jeweils vergangene Jahr scheint heute stärker im Vordergrund der Entscheidungen in Oslo zu stehen. Auf der Website der Stadt heißt es zur Geschichte des Friedensnobelpreises im Wortlaut:

Der Friedensnobelpreis wurde von dem schwedischen Erfinder und Industriellen Alfred Nobel gestiftet. Nach seiner Maßgabe soll er an denjenigen vergeben werden, “der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt” und damit “im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht” hat.

Das Nobelpreiskomitee besteht aus fünf Personen, die vom norwegischen Parlament bestimmt werden. Ihnen steht das Nobel-Institut beratend bei.2 Der Entscheidungsprozess ist geheim.

Das Nominierungsverfahren setzt auf elitäre Auswahl, vorschlagsberechtigt sind ehemalige Preisträger, Staatsspitzen und andere renommierte Persönlichkeiten oder Organisationen. So nutzte der EU-Abgeordnete der Satire-Partei Die PARTEI, Martin Sonneborn, seinen Status, um den illegal internierten Wikileaks-Gründer Julian Assange für den Friedensnobelpreis 2022 vorzuschlagen.

Tatsächlich war mit der Entscheidung für zwei Journalisten, Maria Ressa und Dmitri Muratow, im letzten Jahr das Thema Meinungs- und Pressefreiheit mehr in den Vordergrund der Nobelpreisentscheidungen gerückt. Auch Edward Snowden stand in diesem Jahr auf der langen Liste der 278 Nominierten.

Die Überwindung des Freund-Feind-Denkens

Der erste Preisträger, der Schweizer Henri Dunant, hatte mit der Gründungsidee für das Rote Kreuz seinen revolutionären Gedanken in die Tat umgesetzt: Medizinische Hilfe sollte allen Verletzten in Kriegen zukommen, unabhängig von der Fahne, unter welcher sie zu kämpfen hatten.

Damit legte er bereits einen essentiellen Grundstein für das humanitäre Völkerrecht, das später definiert werden würde. Solche weitreichenden Veränderungen verdienten die Auszeichnung. Dass später mit dem Begriff “humanitäre Intervention” gar für Kriege geworben werden wird (s.u.), schien damals unvorstellbar.

Die ersten und lange Jahre zeichneten die Träger des Friedenspreises das Überwinden des Freund-Feind-Schemas aus. Neben der Gründung von Friedensligen und -büros sowie der Implementierung von Friedenskonferenzen, etwa in Den Haag als regelmäßiger Kongress, wurde auch Mediation ausgezeichnet, zum Beispiel in persona Theodore Roosevelts 1905, der erfolgreich zwischen den Kriegsparteien Japan und Russland vermittelt hatte.

Aber bereits nach seiner 20-jährigen Preis-Geschichte nahmen auf Europa – und die Beendigung von Kriegen dort – fixierte Kapitulations- und Friedensverträge viel Raum in den Entscheidungen des Nobelpreis-Komitees ein. Neben der Fixierung auf die Nordhalbkugel stellten natürlich Männer die Mehrzahl der Ausgezeichneten.

So schlug sich die Gründung der ältesten Frauenfriedensorganisation, die ihren Auftakt bei der Frauenfriedenskonferenz 1915 in Den Haag fand, nicht in den Nobelpreisen nieder. Erst 1931 erhielt Jane Adams als erste Präsidentin der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF, dt. IFFF) den prestigeträchtigen Preis. Dass Frieden und Freiheit – im Sinne von Selbstbestimmung und Mitbestimmung – eine enge Verbindung haben, wurde aus Frauensicht vielleicht schneller klar.

Mit dem viel geehrten Völkerbund und den Vereinten Nationen gerieten verstärkt Geflüchtete und übergeordnete humanitäre Fragen ins Blickfeld der Preisverleiher; und mit der Ehrung für Martin Luther King 1964 auch der Kampf gegen Rassismus und für Gleichberechtigung, sowie im Folgejahr Kinderrechte.

Für die Beendigung des Vietnam-Krieges wird schließlich Henri Kissinger geehrt, nicht etwa der Whistleblower Daniel Ellsberg, der mit dem Leak der Pentagon Papers zum Bekanntwerden der US-amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam gesorgt hatte, was neben einigen anderen Ereignissen einen wesentlichen Beitrag zur Beendigung des Krieges darstellte.

Kissingers vietnamesischer Verhandlungspartner Le Duc Tho nahm die Auszeichnung nicht an.

Der Preis wurde zu dieser Zeit staatstragend in einem westlichen Sinne. Erst zum Jahrtausendwechsel wird die Preisvergabe diverser. Ärzte ohne Grenzen, der Leiter der Atomenergiebehörde und schließlich die Internationale Kampagne gegen Atomwaffen ICAN werden ausgezeichnet; viele Aktive und Aktivistinnen für Menschenrechte erhalten den Preis.

Mit Mohammed Junus und seiner Grameen Bank in Bangladesch wird der Fokus 2006 auf die sozialen Menschenrechte gelegt.

Der Friedensnobelpreis im Kontext der Geopolitik

Im Dezember 1971, vor knapp 51 Jahren, erhielt Willy Brandt den Friedensnobelpreis für seine Versöhnungsgeste in Polen und den auf der Höhe des kalten Krieges revolutionären Tabubruch, mit dem Osten ins Gespräch zu gehen – entgegen der Politik der Stärke, die wesentlich den Geist seiner Vorgängerregierungen und den öffentlichen Diskurs bis dato prägte.

Obwohl es hier wirklich um das große übergeordnete Thema “Frieden” ging, kann man durchaus auch darin einen Tribut an den Zeitgeist mit eurozentrischer Perspektive attestieren. Die neue Ostpolitik war mitten im Prozess, aber der Bruch des Misstrauens war sicher der Würdigung wert. Der Blick des Komitees weitet sich in den folgenden Jahren.

Zu den ungewöhnlichen, als unüberbrückbar scheinenden Gräben überwindender Initiativen gehört die Annäherung zwischen Ägyptens Präsident Anwar el-Sadat und seinem israelischen Gegenüber Menachem Begin, die 1978 gewürdigt wurde.

Der Mediator und langjährig friedensbewegt agierende US-Präsident Jimmy Carter wurde in diese Ehrbekundung nicht einbezogen, er erhielt den Preis 2002 für sein Lebenswerk als – teils auch unglücklicher – Friedensstifter.

Gewürdigt wurden immer wieder zurecht unerwartete Schritte auf dem Weg zum Frieden. In die gleiche Richtung wies der Nobelpreis für Yitzhak Rabin, Shimon Peres und Yassir Arafat 1994 für das mutige Oslo-Abkommen von 1993 zur Befriedung des Israel-Palästina-Konflikts, dessen Umsetzung schließlich an der Ermordung Rabins scheiterte.

Nachhaltiger war die Auszeichnung für die Aussöhnung in Südafrika, die zum Ende der Apartheid führte – zumindest, was die Rechtslage anbelangt, der Kampf gegen strukturellen Rassismus dauert bis heute an; daran konnte auch die Präsidentschaft des geehrten, langjährig inhaftierten ANC-Führers Nelson Mandela nicht so viel ändern, wie er gewollt hatte.

Einen stilleren Preisträger hätte man sich in dem Kontext auch vorstellen können: Denis Goldberg, der als Kommunist und einziger Weißer 22 Jahre im Pretoria-Gefängnis saß, weil er für die Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen und eine klassenlose Gesellschaft eintrat.3 Goldberg hatte sein Leben für das Mandelas angeboten – sie blieben beide lange interniert.

Zu häufig fallen die stillen Hartnäckigen hinten herunter, wohl auch weil die Medienaufmerksamkeit anderen Kriterien der Zuwendung folgt.4 Albert Schweitzer, der für die Gründung eines Tropenkrankenhauses und seine langjährige Menschenrechtsarbeit in Afrika 1952 ausgezeichnet wurde, passte da wiederum besser in das Schema.

Auch bei diesen Friedensnobelpreisen ging es um Menschenrechte, aber darüber hinaus auch um das Völkerrecht und insgesamt eine weitere, globalere Perspektive. Erstmalig allein für den Kampf um Menschenrechte ausgezeichnet wurde der Physiker und Entwickler der Wasserstoffbombe, der langjährig verfolgte russische Dissident Andrei Sacharow in der Sowjetunion 1975, viel später folgten viele weitere.

Als Organisation, die übergeordnet von konkreten Konflikten, aber dennoch als Kind der Zeit geehrt wurde, könnten die Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 1985 gelten.

Nach den großen Friedensdemonstrationen gegen die Stationierung atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen,5 die Deutschland diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs zur Pufferzone machten, gab es in den 1980er Jahren und erst recht in den 1990ern nach Michail Gorbatschows Perestroika und der folgenden Maueröffnung zwischen Ost und West der Idee vom Frieden Auftrieb – so verstand der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama seinen Aufsatz vom “Ende der Geschichte”.

1988 wurden dann die “Friedenstruppen der Vereinten Nationen”, die sogenannten Blauhelme, ausgezeichnet; ein Gegenstand der Diskussion, wie auch die spätere Auszeichnung der Europäischen Union, die 2006 für ihre 60-jährige Friedensstiftung in Europa ausgezeichnet wurde; wobei der Krieg in Jugoslawien anscheinend übersehen wurde, ebenso wie krisenfördernde Wirtschaftsverträge und Soldatenentsendungen in sogenannte Entwicklungslänger.

Die These

Vielleicht täusche ich mich, aber ich möchte gerne einen Eindruck meinerseits als These erörtern: Die Nobelpreisverleihung nimmt in den letzten Jahren immer dichter instrumentelle Züge an und droht damit gar in Richtung Missbrauch zu degenerieren.

Man vergleiche noch einmal den Stiftungswillen von Alfred Nobel, den Erfinder des Dynamits freilich, und setze diesen zu einigen neueren Preisverleihungen in Bezug. Vielleicht liegt die Instrumentalisierung aber auch mehr in der Interpretation des Komiteewillens als in den Entscheidungen selbst.

Friedensnobelpreis für …

Herausheben möchte ich dabei vor allem den Friedensnobelpreis für Barack Obama, den dieser nach einigen (zu) viel versprechenden Reden im Jahre 2009 erhielt – er allein, nicht gemeinsam mit anderen, die bereits viel für Frieden und Gerechtigkeit geleistet hatten, wurde damit bedacht und selbst überrascht.

In seinem Fall hatte der Nobelpreis Aufforderungscharakter, auch die Dinge umzusetzen, die er angekündigt hatte – im Nahen Osten eine neue Politik zu realisieren und darüber hinaus zur Völkerverständigung beizutragen. Seine Regierungszeit, auch die zweite Amtszeit, bei der es um keine Wiederwahl mehr gehen konnte, zeichnete vor allem eines aus: Kontinuität.

Auch und noch in besonders ausgeprägtem Maße setzte er die Abzeichnung der sogenannten “Kill-List” einmal in der Woche fort, sprich: Er entschied und unterschrieb,6 wer aufgrund von Verdachtsmomenten als Terrorverdächtiger “liquidiert” werden solle, was im Normalfall das Töten Verdächtiger mittels Drohnen bedeutete.

Außerhalb eines rechtsstaatlichen Prüfverfahrens, das mit einem Urteil abschließt, wurden auf seinen Befehl Verdächtige ermordet via der US-Militärbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz als Kommandozentrale.

Dieser Friedensnobelpreis war eine große Fehlentscheidung, der es Obama gar ermöglichte, ihn gleichzeitig anzunehmen und die “gerechten Kriege” der USA zu verteidigen;7 übrigens mit einer Verve, die sich aus seinen Ankündigungsreden bereits herauslesen ließ.

Friedensnobelpreis gegen …

Im Zentrum der verliehenen Friedensnobelpreise stand langjährig die Überwindung von Feindbildern, Grenzen und Schranken, bestenfalls sogar Aussöhnung. Die Nichtannahme durch den vietnamesischen Verhandlungspartner von Henri Kissinger deutete allenfalls auf einen fortbestehenden Antagonismus hin.

Ob die Verleihung des Nobelpreises 2021 an die Journalisten Maria Ressa (Philippinen) und Dmitri Muratow (Russland) wegen ihres, teils lebensbedrohlichen, Einsatzes für die “Meinungsfreiheit als Voraussetzung für Demokratie und Frieden” schon in Richtung Instrumentalisierung weist, mag ich nicht beurteilen.8 Sie setzt zumindest einen neuen Fokus und verweist wiederum stark auf einen Teilaspekt.

Der Preis stärkte das Anliegen des Journalismus, wofür auch die Reaktion des UNO-Menschenrechtsbüros spricht… “congratulates all journalists”.9 Auch bei diesem Nobelpreis kann ein Aufforderungscharakter ausgemacht werden zum Schutze von Journalisten weltweit.

Muratow widmete ihn seinem Kollegium bei der Tageszeitung Novaja Gazeta, sowohl den Lebenden, als auch den Ermordeten, allen voran Anna Politkowskaja. Eine Kommentierung, die nur in eine Richtung verwies, konnte ich nicht feststellen (vgl. Leitmedium Spiegel-Online).10

In diesem Jahr ist die Kommentierung anders, aggressiver, vielleicht verständlich angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine. Aber es wirkt befremdlich, wenn etwa die Entscheidung der Preisjury als “Zeichen gegen Putin” gewertet wird oder als “Signal gegen Putin und Lukaschenko” in der spanischen La Vanguardia am Tag der Verkündigung.11

Auf Twitter lassen einige ihrem Hass – je nachdem gen Russland oder gegen die Ukraine oder Belarus – regelrecht freien Lauf, alles das Gegenteil von dem, was ein Friedensnobelpreis als Signalwirkung haben sollte.

Und auf Tagesschau.de wird eigenwillig bis paradox kommentiert: “Mit den diesjährigen Friedensnobelpreis-Trägern setzt das Komitee ein starkes Zeichen gegen den post-sowjetischen Imperialismus des Kremls: Denn die Friedens- und Freiheitsschicksale der drei Völker sind unauflöslich miteinander verbunden.”12

Handelt es sich nur um mutwilliges Hineininterpretieren der eigenen Erwartung in die Zuerkennung an die drei Ausgezeichneten? Indem man eine Botschaft aus vielen möglichen herauspickt? Oder handelt es sich diesmal um eine Juryentscheidung, die (noch) mehr von geopolitischem Kalkül und Instrumentalisierung als vom Geist des Stifters und seiner Ideengeberin Bertha von Suttner geprägt ist?

Eigentlich hat das Nobelkomitee eine Mischung aus Geopolitik und Diplomatie vorgelegt, indem man die drei Preisträger gemeinsam ehrt. Diese Strategie lässt sich auch 2014 belegen mit der Auszeichnung der Kinderrechtsaktivisten Malala Yousafzeh aus Pakistan und gleichzeitig Kailash Satyarthy aus Indien.

Wenn der Friedensnobelpreis “humanitär” wird

Neuerdings scheint die Fokussierung auf das “letzte Jahr” die Verleihung des Preises nach aktuell vorherrschenden Interessen zu begünstigen. Also mehr Zeitgeist als lebenslanges Engagement mit weltweiter Wirkung?

Dabei würde auf die 2022 Prämierten das Kriterium der Langjährigkeit und Ausdauer ja sogar zutreffen. Die Kommentierung in einzelnen Medien zeigt jedoch, dass die Preise als strategisches Zeichen in der aktuellen Konfliktlage im Osten Europas verstanden werden (s.o.).

Problematisch wird das neue Framing für den Nobelpreis aber erst dann, wenn man es in Relation setzt zu dem, was wir ebenfalls in den letzten Jahren an geopolitischer (Neu-)Ausrichtung beobachten können: Die Legitimation von militärischem Eingreifen als “humanitäre Intervention” zur Begründung von Kriegshandlungen – sei es beim Eingreifen in Kriege oder gar als Begründung für deren Beginn, die dann natürlich anders heißen – wie wir lange am Gerangel um die Bezeichnung “Krieg” nach der Militärintervention in Afghanistan beobachten konnten.

Wir nähern uns also der Orwell’schen Warnung, die auf historischer Erfahrung basiert, wo Begriffe umgedeutet werden und das Gegenteil aussagen von dem, was ist: “Krieg ist Frieden” (resp. Friedenssicherung).

Hier dient der Kampf für Menschenrechte manchmal sogar zur Rechtfertigung von militärischer Gewalt, die strategische Ausrichtung wird dabei oft erst klar, wenn man die Auswahl der Ziele mit den vielen vergleichbaren Konflikten weltweit betrachtet, die nicht mit Interessen belegt sind und für die keine “humanitäre Intervention” gefordert wird.

Diese Strategie lebt also vom Klein-Klein der Betrachtung von Einzelfällen und Einzelaspekten. Deshalb wird es für die Zukunft von besonderer Bedeutung sein, die humanitären Fragen im komplexen globalen Kontext zu betrachten. Und hier rede ich nicht mehr nur vom Friedensnobelpreis, sondern von einer friedlichen Welt.

Die Auszeichnung steht noch aus

Dass Johan Galtung bis heute nicht geehrt wurde, markiert eine der vielen Leerstellen der Preiszuerkennung. Niemand kann sich länger für Friedenslösungen eingesetzt haben als er, seine Schüler gehören zu den vielen unermüdlichen gewaltfreien Streitern für den Frieden, die kreativen Lösungen von Konflikten auf allen Gewalt- und Verstrickungsniveaus füllen Bücher, das Galtung-Institut garantiert den Fortbestand des gesammelten Erfahrungswissens.

Wenn der Preis weiblicher werden sollte, dann gäbe es weltweit ebenfalls verdiente Anwärterinnen. Nach der langen Phase der ersten 80 Jahre des Friedensnobelpreises, in der fünf Frauen die Ausnahme bei den Ausgezeichneten bildeten und die mit der Ernennung Mutter Teresa 1979 endete, kann seit 1982 bis heute eine langsame Öffnung und Weitung des Blicks in Richtung Frauen und Persönlichkeiten des globalen Südens beobachtet werden, wovon sich allerdings drei Frauen des globalen Südens 2011 den Preis teilen mussten: Ellen Johnson Sirleaf, Leymah Gbowee aus Liberia und Tawakkol Karman aus dem Jemen.

Die weltweit aktiven Frauengruppen für Frieden und Menschenrechte, die sowieso gerne übersehen werden, gehören zu den primären Anwartschaften der Zukunft. Ob es gelingt, sie zu bündeln, wie es bei der UN angesiedelt ist und auch Peace Women around the Globe versucht, wird sich zeigen.

Auf jeden Fall müssen sie die eingefahrenen Strukturen stören, wie dies musterhaft und sehr originell Medea Benjamin und Code Pink vorführen, die nicht selten aus den Sälen des Establishments und der Selbstbeweihräucherung in den USA von Security-Kräften herausgetragen werden.

Dazu gehören auch die vielen Aktiven in Lateinamerika, die sich gegen Femizide, für den Wasserschutz und Mutter Natur insgesamt einsetzen. In Zeiten von Social Media werden vielleicht mehr Formen von Guerilla-Aktionen kleinerer NGOs in den Blick geraten, bei denen die Ordnungswidrigkeit oftmals vor dem Anliegen diskutiert wird.

Mit Blick auf das steigende Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen unseres Planeten und das wachsende Risiko für die Lebensgrundlagen einer menschlichen Existenz dürften mehr Organisationen und Personen in den Blick geraten, die sich für den Erhalt der Lebensgrundlagen einsetzen.

Denn tatsächlich ist der Kampf für ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften und somit eine gerechtere Verteilung der Ressourcen – also Investitionen in Ernährung statt in Waffen – Arbeit an der Basis der Friedenschancen.

Insofern könnte die Entwicklung der Auslobung des Friedensnobelpreises in Richtung Basisrechte zeitgemäß und durchaus im Sinne des Stifters Nobel sein, der in seiner Zeit diese Zusammenhänge noch kaum durchschauen konnte.

Davon, den globalen Frieden mit der Natur, in dem sich niemand mehr auf Kosten von anderen bereichert und die Hierarchien, die das verhindern, abgebaut werden, sind allerdings die bisherigen Preisentscheidungen noch weit entfernt.

Eine persönliche Widmung

Diesen Text schreibe ich in memoriam Manfred Diebold, einem der vielen Steten im Kampf gegen Gewalt, der mitten im Wirken plötzlich verstarb. Ein Großteil seines umfassenden Wissens in friedlicher Konfliktlösung geht mit ihm, das Vermittelte wird in der Friedensbewegung weiter getragen; dem Erlanger Bündnis für den Frieden sowie in der DFG-VK.

Man kann ihm und uns allen wünschen, dass dieses Wissen von Medien und Politik weniger ignoriert wird. In Johan Galtungs Buch “Konflikte & Konfliktlösungen. Eine Einführung in die Transcend-Methode.” sind genügend Beispiele aufgezeigt von denen sich das Lernen lohnt.

Der Text erschien zunächst bei unserem Kooperationspartner Telepolis.

Endnoten

1 https://www.galtung-institut.de/de/home/johan-galtung/

2 https://www.nobelpeaceprize.org/nobel-peace-prize/history/why-norway

3 https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/may/03/denis-goldberg-the-man-who-offered-to-sign-his-own-death-warrant-to-save-nelson-mandela

4 https://kurier.at/politik/ausland/friedensnobelpreis-als-todfeinde-sich-fuer-den-frieden-die-hand-reichten/400643837

5 https://www.tagesschau.de/inland/burointerview100.html

6 https://abcnews.go.com/Politics/Blotter/obama-drone-warrior-chief/story?id=16451227

7 https://www.reuters.com/article/us-nobel-obama-idUSTRE5B84QN20091210

8 https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2021/summary

9 https://www.reuters.com/business/media-telecom/un-rights-office-congratulates-all-journalists-nobel-peace-prize-2021-10-08

10 https://www.spiegel.de/ausland/friedensnobelpreis-geht-an-maria-ressa-und-dmitri-muratov-a-6914a77d-c0ae-462f-bab7-a29851987580

11 https://www.lavanguardia.com/opinion/20221008/8559669/nobel-putin-lukashenko.html

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12 https://www.tagesschau.de/kommentar/friedensnobelpreis-belarus-russland-ukraine-101.html

Die Autorin

Sabine Schiffer leitet das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV) in Berlin. In ihrem Lehrbuch Medienanalyse stellt sie das notwendige Handwerkszeug für die Analyse von Medienbeiträgen zusammen. Das IMV richtet sich an Medienschaffende und Mediennutzende gleichermaßen und klärt über Darstellungsmechanismen, Medieninhalte und Produktionsbedingungen auf und bietet Medienbildung in Seminaren, Publikationen und Konzepten.

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