Kriege

Afghanistan: Operation geglückt, Patient tot

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 25. Juli 2012 –

Verteidigungsminister Thomas de Maizière ist zu einem überraschenden Besuch im südafghanischen Kandahar eingetroffen. Der Minister besucht unter anderem dort stationierte Fernmelder der Bundeswehr. Es ist bereits der zweite Besuch des Landes in diesem Monat und insgesamt die achte Reise de Maizières an den Hindukusch seit seinem Amtsantritt vor rund 17 Monaten. Kurz vor seiner Ankunft kam es in der Nähe eines amerikanischen Feldlagers zu schweren Gefechten, bei denen mehrere US-Soldaten verletzt wurden.

Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte, der jetzige Besuch diene dem Informationsaustausch und dem Dank an die Alliierten. „Wir machen im Norden Afghanistans einen guten Job“, so der Verteidigungsminister. „Aber Afghanistan besteht eben nicht nur aus dem Norden. Ich will mir einen Eindruck von der Lage im Süden des Landes verschaffen.“

In der nördlichen Provinz Kundus hatte die Bundeswehr vor zwei Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in der Unruheregion an die Afghanen übergeben. „Wir sind auf Kurs, den Abzug der internationalen und der deutschen Kampftruppen bis Ende 2014 zu verwirklichen“, sagte Außenminister Guido Westerwelle nach einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes. Die Übergabe der Verantwortung in Kundus zeige „die Fortschritte unserer Afghanistan-Strategie“.

Der afghanische Innenminister Bismillah Khan Mohammadi pflichtete bei der Übergabezeremonie in einem afghanischen Armeecamp am Rande von Kundus-Stadt dem deutschen Außenminister bei, als er erklärte, die Sicherheitslage in der Gegend habe sich „deutlich zum Positiven“ verändert.

Doch die Aussagen des deutschen und afghanischen Ministers muten eher wie ein Beschwörungs-Ritual an, als dass sie die Realität widerspiegeln.

Nur Tage nach der feierlichen Zeremonie riss ein Selbstmordattentäter bei einem Anschlag auf eine Hochzeitsgesellschaft in der Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Samangan mindestens 23 Menschen mit in den Tod. Sechzig weitere Personen wurden verletzt. Unter den Toten sind auch der Parlamentsabgeordnete und Milizenchef Ahmed Chan Samangani, der Geheimdienstchef der Provinz, Chan Mohammad, sowie hochrangige Polizeioffiziere.

Die sonst als relativ friedlich geltende Provinz Samangan gehört zum Einsatzgebiet der Bundeswehr. Vor einer Woche kam es dort erneut zu einem Anschlag, bei dem mindestens zwanzig Tanklastwagen mit Nachschub für die Internationale Schutztruppe ISAF ausgebrannt sind.

Einen Tag zuvor wurde ein afghanischer Soldat von einem Militärgericht wegen Mordes an fünf französischen NATO-Soldaten zum Tode verurteilt. Das Verteidigungsministerium in Kabul teilte  mit, der Mann habe gestanden, im Januar während einer Übung in der östlichen Provinz Kapisa auf eine Gruppe unbewaffneter Franzosen geschossen zu haben.

Nach dem Angriff hatte Frankreich vorübergehend die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte eingestellt. Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy hatte zudem mit dem vorzeitigen Truppenabzug aus Afghanistan gedroht. Sein Nachfolger François Hollande erklärte dann im Mai, bis zum Jahresende 2.000 der 3.400 noch in Afghanistan stationierten französischen Soldaten abzuziehen.

Angriffe von Angehörigen der afghanischen Armee und Polizei auf ISAF-Soldaten haben in letzter Zeit zugenommen. Nach Angaben der ISAF gab es seit Jahresbeginn mindestens zwanzig derartige Zwischenfälle, bei denen 27 ausländische Sicherheitskräfte ums Leben kamen.

Auch setzen sich immer wieder Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte ab, um in den Reihen der Taliban zu kämpfen. Wie der Polizeichef der Provinz Urusgan, Walli Dad, am heutigen Mittwoch erklärte, seien zwanzig afghanische Wachleute einer NATO-Einheit samt Waffen und Munition übergelaufen. „Die australischen Soldaten haben nach einem Wortgefecht die afghanischen Wachleute auf einem Militärstützpunkt im Distrikt Charchino in der Provinz Urusgan geschlagen“, sagte Dad. Die wütenden Afghanen hätten daraufhin die Wachtürme angezündet und sich zu den Taliban abgesetzt. Bereits zwei Tage zuvor hatten in der Provinz Farah ein Polizeichef und zwölf seiner Mitarbeiter die Reihen gewechselt.  

Das Land am Hindukusch ist nach wie vor weit von stabilen Verhältnissen entfernt. Es klingt wie eine Verhöhnung der afghanischen Realität, wenn der Kommandeur der Internationalen Schutztruppe in Nordafghanistan, Bundeswehr-General Erich Pfeffer, angesichts der Übergabe der Sicherheitsverantwortung davon sprach, die afghanischen Sicherheitskräfte seien jetzt in der Lage, „eigenständig die Sicherheit in der Provinz Kundus zu garantieren“.

Hinzu kommt, dass sich etliche der vorgeblichen Garanten der Sicherheit in der Vergangenheit nicht gerade als Verfechter der Menschenrechte erwiesen haben.

Laut einem am Wochenende erschienenen Artikel der New York Times, der sich mit einem umfangreichen Bericht der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) beschäftigt und dessen Veröffentlichung die US-Regierung und ihr Marionettenregime in Kabul verhindern wollen, waren zahlreiche Vertreter der afghanischen Regierung an Massakern und anderen Verbrechen beteiligt. (1)

Die von Präsident Karsai im Jahr 2005 in Auftrag gegebene Untersuchung umfasst den Zeitraum von 1978 bis hin zum Sturz der Taliban Ende 2001. Der 800-seitige Bericht lese sich wie ein „Who’s Who des afghanischen Establishments“, kommentiert die taz. (2) Weiter heißt es dort: „Es ist bezeichnend, dass in Afghanistan zehn Jahre nach dem mit Argumenten der Demokratisierung und Verteidigung von Frauenrechten begründeten internationalen Eingreifen die Verfasser von Menschenrechtsberichten mehr um ihre Unversehrtheit fürchten müssen als die Menschenrechtsverletzer. Die Affäre zeigt aber auch, dass man die Sorge um Afghanistan nur so lange tragen will, wie unsere Soldaten drin sind. Das ist keine zynische Interpretation, sondern im ISAF-Hauptquartier in Kabul kursierendes Denken.“

Auch wenn das Land weit von politischer Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und sozialen Fortschritten entfernt ist, ist die Mission nach Auffassung von Sevim Dagdelen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke, kein Misserfolg. Schließlich kommt es darauf an, an welchem Maßstab dieser gemessen wird. „Viel wurde diskutiert und spekuliert über die Gründe, die hinter der Intervention in Afghanistan stehen. Klar ist: Die Taliban waren bereit, Osama bin Laden auszuliefern, die Frauen tragen heute noch ihre Burkas. Darum ging es offensichtlich nie.“ (3)

Stattdessen sei es das Ziel gewesen, „einen Brückenkopf der NATO nahe der ölreichen Kaspi-Region und an der Südflanke Russlands aufzubauen – eine Art Flugzeugträger im riesigen eurasischen Landmassiv. Diese Deutung der Interessen hinter dem Waffengang wird dadurch gestützt, dass US-Außenministerin Hillary Clinton am 7. Juli bei ihrem Überraschungsbesuch in Kabul Afghanistan zum ‚wichtigen Verbündeten außerhalb der NATO’ erklärte. Das deutet darauf hin, dass die Mission trotz aller Opfer und der desolaten Lage in Afghanistan aus westlicher Sicht erfolgreich war“, so Dagdelen in ihrer Einschätzung. .

Sie weist darauf hin, dass auch nach der für 2014 anvisierten Übergabe der Sicherheits-Verantwortung an die einheimischen Kräfte diese nicht Herr im Lande sein werden: „Die afghanische Armee, die Polizei und die Geheimdienste wurden von der NATO aufgebaut und werden auf absehbare Zeit von ihr und ihren Verbündeten bezahlt. (…) Verbindungsleute der NATO und der USA sitzen in sämtlichen Kommandozentralen und im Verteidigungsministerium. Somit ist undenkbar, dass Afghanistan der NATO Stationierungs-, Lande-, Überflug- oder – wie bis vor kurzem etwa Pakistan – Passagerechte verweigert, selbst wenn Karsai eines Tages fallengelassen werden sollte. Das bedeutet: Afghanistan wird zukünftig als Basis für offene und vor allem auch verdeckte Operationen in der gesamten Region dienen. Es grenzt neben den zentralasiatischen Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan und damit dem unmittelbaren Einflussbereich Russlands, auch an Pakistan, den Iran und an China.“

Der verkündete Abzug der ISAF-Truppen hat demnach nichts mit einer verbesserten Sicherheitslage zu tun. Ganz im Gegenteil ist er Ausdruck der Erkenntnis, dass sich der von den Taliban und anderen Kräften getragene Aufstand militärisch nicht besiegen lässt. Um die Opfer in den eigenen Reihen – und die damit einhergehende wachsende öffentliche Kritik an der „Heimatfront“ –  zu minimieren, sollen zukünftig afghanische Soldaten die gefährliche „Drecksarbeit“ machen und ihr Leben im Kampf gegen die Aufständischen riskieren. Die Besatzungskräfte werden sie dabei unterstützen, das eigene Risiko jedoch möglichst gering zu halten versuchen.

Washingtons Erfolgsmaßstab hat weniger mit der Frage zu tun, ob das Land am Hindukusch im Chaos versinkt beziehungsweise sich aus diesem erheben kann, sondern vielmehr, ob der „Flugzeugträger“ kentert oder nicht. Solange er weiter schwimmt, ist die Operation geglückt, auch wenn dem Patienten der Totenschein ausgestellt werden muss.

Anmerkungen

(1) http://www.nytimes.com/2012/07/23/world/asia/key-afghans-tied-to-mass-killings-in-90s-civil-war.html?_r=2&pagewanted=all

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(2) http://www.taz.de/Afghanistan-Bericht-unterdrueckt/!97943/

(3)  http://www.jungewelt.de/2012/07-21/053.php

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