Kriege

Das Tor zur Hölle geöffnet - Militärische Eskalation auf dem Gaza-Streifen

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Von REDAKTION, 15. November 2012 –

Der blutige Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern auf dem Gaza-Streifen spitzt sich zu. Vier Tage nach Vereinbarung der durch Ägypten vermittelten Waffenruhe, die nur zwei Tage hielt und mit der gezielten Tötung des Hamas-Militärchefs Ahmed al-Dschabari durch die Israel Defense Forces (IDF) endete, gibt es nun auch Tote auf israelischer Seite. Heute kamen drei Menschen bei einem palästinensischen Raketenangriff auf ein Wohnhaus in Kiryat Malachi im Süden Israels, in der Nähe von Ashkelon, ums Leben. Auf dem Gaza-Streifen stieg die Zahl der Toten bei heftigen Luftangriffen bis zum Abend auf 15. Unter den Opfern waren auch vier Zivilisten, darunter zwei Kinder im Alter von drei Jahren und elf Monaten sowie eine schwangere Frau. Nach Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums wurden zudem mehr als 160 Menschen verletzt. Die israelische Armee hat bereits begonnen, Reservisten einzuziehen, und nährt damit die Befürchtung, es könne wie 2008/2009 während der Operation „Cast Lead“ (Gegossenes Blei) zu einer Bodenoffensive in dem Palästinensergebiet kommen.

Die IDF hätten seit Beginn ihrer jüngsten Militäroperation „Pillar of Defense“ („Säule der Verteidigung“) am Mittwoch mehr als 160 Ziele aus der Luft und von See aus angegriffen, teilte eine Armeesprecherin in Tel Aviv mit. Die Liquidierung von Ahmed al-Dschabari rechtfertigte sie mit den Worten, dieser habe „viel Blut an seinen Händen“ gehabt. Die Hamas hat nach eigenen Angaben mehr als 120 Raketen auf Israel abgefeuert, Israels Armee sprach von 135 Raketen. In großen Städten wie Beerscheva, Ashkelon und Ashdod heulten heute immer wieder die Warnsirenen. Etwa ein Viertel der Geschosse wurde von der Luftabwehr abgefangen.

Erstmals ist auch in der Nähe von Tel Aviv eine Rakete eingeschlagen. Das hatte es zuletzt während des Golfkriegs 1991 gegeben. Das Geschoss habe ein offenes Feld neben der Stadt Rischon Lezion südlich der Mittelmeer-Metropole getroffen, bestätigte eine Sprecherin des israelischen Militärs. Opfer oder Schäden wurden keine gemeldet.

In Gaza versammelten sich heute Tausende von Palästinensern, um dem getöteten Militärchef al-Dschabari das letzte Geleit zu geben. Der Hamas-Regierungssprecher Taher al-Nunu sagte gegenüber AFP, Israel trage „die Verantwortung für seine Verbrechen und für ihre schweren Konsequenzen“. Es habe „alle roten Linien überschritten“, sein Vorgehen sei eine „Kriegserklärung“. Der Sprecher der Essedin-al-Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Arm der Hamas, erklärte, Israel habe „das Tor zur Hölle geöffnet“.

Internationale Gemeinschaft ist ernsthaft besorgt

Die Vereinten Nationen warnen unterdessen vor „möglicherweise katastrophalen Folgen“ der neuen Konfrontation. Die Situation dürfe nicht unterschätzt werden, sagte der UN-Untergeneralsekretär für Politische Fragen, Jeffrey Feltman, gestern am späten Abend in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.

US-Präsident Barack Obama sicherte dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu seine Unterstützung zu. Obama habe in dem Telefonat bekräftigt, dass Israel „ein Recht auf Selbstverteidigung“ habe, teilte das Weiße Haus in Washington am Mittwochabend mit. Netanjahu solle aber alles dafür tun, um Todesopfer in der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Die Regierung Chinas äußerte sich „ernsthaft besorgt“ über die israelischen Angriffe und rief zu „äußerster Zurückhaltung“ auf. Die gegenwärtigen Spannungen verdeutlichten die Bedeutung einer Lösung der Palästinenserfrage.

Israels arabische Nachbarn ziehen Konsequenzen. Ägypten berief aus Protest gegen  die IDF-Offensive seinen Botschafter aus Tel Aviv ab. Außerdem verlangt die ägyptische Regierung von den USA, auf Israel einzuwirken, seine Angriffe auf den Gaza-Streifen unverzüglich zu stoppen. Außenminister Mohammed Amr soll US-Außenministerin Hillary Clinton in der vergangenen Nacht davor gewarnt haben, dass die Situation in Gaza außer Kontrolle geraten und „unvoraussagbare Folgen“ haben könnte. Präsident Mohammed Mursi sagte, „Israel muss begreifen, dass wir keine Aggression akzeptieren, die sich negativ auf die Sicherheit und Stabilität in der Region auswirkt“. Vielen Ägyptern reicht das nicht. Linke und nationalistische Politiker fordern eine Revision des Friedensvertrags mit Israel. Die Arabische Liga berief für Samstag ihre Außenminister zu einer Sondersitzung in Kairo ein. Katar erklärte, die israelische Aggression dürfe nicht ungestraft bleiben. Jordanien, dass durch das Verhalten Israels die Sicherheit der ganzen Region bedroht sei. Die syrische Regierung spricht von einem „barbarischen Verbrechen“ Israels.

Krieg kommt wie gerufen

Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak nannte gestern vier Ziele der IDF-Aktion: Stärkung der israelischen Abschreckung, Zerstörung der Raketen-Infrastruktur im Gazastreifen, Schwächung terroristischer Gruppen und Schutz der israelischen Bevölkerung vor künftigen Raketenangriffen. Auch die Opposition unterstützt das Vorgehen. Der Vorsitzende der Kadima-Partei, Shaul Mofaz, und die Chefin der Sozialdemokraten Shelly Yacimovich stellten sich demonstrativ hinter die Militäroffensive. Die Armee müsse die „Terroristen“ in Gaza verfolgen, damit sie sich in Bedrängnis fühlten, erklärte Mofaz im israelischen Radio.

Die neue Eskalation der Gewalt hatte am Samstag begonnen, als ein israelischer Jeep von einer Rakete aus dem Gaza-Streifen getroffen wurde. Dabei waren vier Soldaten zum Teil schwer verletzt worden. Der nach der israelischen Militäroffensive „Cast Lead“ im Januar 2009 – damals verloren mindestens 1.300 Palästinenser ihr Leben –  zwischen Israel und der Hamas geschlossene Waffenstillstand war zwar immer instabil, aber im Großen und Ganzen hielt er. Allerdings gerät die Hamas immer mehr unter den Druck radikaler Gruppen wie dem Islamischen Dschihad, die beflügelt durch den Wahlsieg der Muslimbrüder in Ägypten von einem Weiterbestehen der Waffenruhe mit Israel nichts wissen wollen. Die Macht der Hamas schwindet. Nun schlägt sie aggressivere Töne an, um sich gegen die militanten Hardliner zu behaupten. Sollte sie auf den Verhandlungsweg zurückkehren, dürfte es für die Hamas immer schwieriger werden, die Einhaltung des Waffenstillstands im palästinensischen Lager durchzusetzen.

Der israelische Historiker Moshe Zuckermann sieht auch einen Zusammenhang mit der Ankündigung der mit der Hamas verfeindeten Fatah – sie führt die Autonomie-Behörde auf der Westbank –, am 29. November bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen einen Antrag auf Anerkennung Palästinas als eigenständigen Staat zu stellen. Die Hamas befinde sich dadurch gegenüber der Fatah in Profilierungsnot, sagte Zuckermann in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Auch die israelische Regierung möchte profitieren. Der Zeitpunkt für ihre Militäroffensive sei alles andere als zufällig gewählt, ist Zuckermann überzeugt: Premierminister Benjamin Netanjahu befindet sich mitten im Wahlkampf. Nachdem sich die Knesset am 16. Oktober vorzeitig aufgelöst hat, müssen die Israelis bereits am 22. Januar (und nicht erst im Oktober 2013, zum turnusgemäßen Ende der Legislaturperiode) ein neues Parlament wählen.

Dass Netanjahu ein Krieg derzeit mehr als nur wie gerufen kommt, darüber sind sich die Nahost-Experten weitgehend einig. Die bewaffnete Eskalation fungiere vor allem als „Schaukampf für das israelische Publikum“, meint Spiegel-Auslandskorrespondentin Ulrike Putz. Netanjahu, aber auch Verteidigungsminister Barak „käme es gelegen, mit einem erfolgreichen Feldzug beim Wahlvolk zu punkten: Der Regierungschef muss fürchten, dass ihm der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert Stimmen abjagen könnte“. Olmert wird laut jüngsten Meldungen in Kürze seine Kandidatur bekanntgeben. Für Barak geht es sogar ums Ganze. Denn er könnte mit seiner neuen Splitterpartei Atzma-ut („Unabhängigkeit“), die er nach seinem Austritt aus der Arbeitspartei im Januar 2011 gegründet hat, den Einzug in die Knesset verpassen.

Netanjahu weiß den Kriegsherren-Bonus für sich zu nutzen: „Wir haben heute eine klare Botschaft an die Hamas und andere Terrororganisationen übermittelt und sind bereit, den Einsatz auszuweiten, sollte dies notwendig werden“, tönte der israelische Regierungschef nach der Tötung von Ahmed al-Dschabari, dessen Stellvertreter Marwan Issa heute dessen Nachfolge als Hamas-Militärchefs antrat.

Kein einziges Problem gelöst, aber viele Opfer

Der ehemalige Knesset-Abgeordnete und heutige Sprecher der Friedensorganisation Gush Shalom, Uri Avnery, verurteilt die harte Linie Israels, ebenso die Tötung des Hamas-Militärchefs. Er hält sie auch nicht für effizient: „Premierminister Netanjahu baut auf das kurze Gedächtnis der israelischen Öffentlichkeit. Die Bevölkerung hat vergessen, dass Dutzende, sogar Hunderte von ,Liquidationen‘, die durchgeführt wurden, nicht ein einziges Problem gelöst haben – alle Getöteten wurden durch kompetente und radikalere Nachfolger ersetzt.“

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Sollte ein Einmarsch von IDF-Truppen nach Gaza folgen, könnte es wieder zu einer ähnlich hohen Opferzahl wie 2008/2009 kommen, vielleicht noch zu einer höheren, meint Moshe Zuckermann, und er fürchtet: „Israel wird sich nicht mehr von außen reinreden lassen. Ich glaube, es wird jetzt mehr oder weniger die Dynamik und den Rhythmus bestimmen, wie es weitergehen wird.“

(mit dpa)

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