"Am 9. Mai in Moskau fühlte ich mich als Deutscher nie bedroht"
Der 8. Mai 2025 markiert den 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, ein Ereignis, für das die Sowjetunion mit dem Verlust von 27 Millionen Menschen und der Verwüstung großer Landesteile einen hohen Preis zahlte. Russland feiert das am 9. Mai als »Tag des Sieges«. Wir haben den in Moskau lebenden deutschen Journalisten Ulrich Heyden zu dem Thema befragt. Das Interview mit ihm hat ÉVA PÉLI geführt.

HINTERGRUND Welche Rolle spielt der 9. Mai heute in der russischen Gesellschaft und in der russischen Identitätspolitik aus Ihrer Sicht?
ULRICH HEYDEN Für die Russen ist der 9. Mai ein Tag der Erinnerung an die gefallenen Soldaten und die zivilen Opfer, insgesamt 27 Millionen Menschen. Fast jede Familie hat ein Opfer zu beklagen. Die Erinnerung an den Sieg über Hitler-Deutschland erfüllt die Russen mit Stolz. Und der Stolz auf den Sieg hilft auch über so manche Enttäuschung im Alltag hinweg. Enttäuschungen gab es vor allem in den 1990er Jahren sehr viele. Der Tag hat für die russische Identität eine zentrale Bedeutung.
Für alle ehemaligen Sowjetrepubliken, außer den baltischen und Georgien, blieb der 9. Mai nach der Auflösung der Sowjetunion ein Bezugspunkt für einen gemeinsam errungenen Sieg und trug mit dazu bei, dass die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken aufrechterhalten und ab 2000 wieder enger wurden. Seit 1995 saßen die Staatsoberhäupter von Belarus und der zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken bei den Jubiläumsparaden immer auf der Tribüne.
Seit dem Staatsstreich in Kiew im April 2014 und der Beschießung von Städten im Donbass ab Sommer desselben Jahres durch die ukrainische Armee ist die Bedeutung des 9. Mai für Russland gestiegen. Es sieht Parallelen zwischen dem Ukraine-Krieg, der 2014 begann, und dem „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland heißt. Es gibt dafür zahlreiche Gründe: Hitler-Kollaborateur Stepan Bandera ist in der Ukraine seit 2014 Nationalheld. Rechtsradikale Schlägertruppen hatten bei der Bekämpfung der russland-freundlichen Opposition in der Ukraine ab 2014 freie Hand und mussten sich vor Gericht nicht verantworten. Alle Denkmäler russischer Generäle und Schriftsteller wurden zerstört. Russlandfreundliche ukrainische Fernsehkanäle wurden zwischen 2014 und 2021 von ukrainischen Nationalisten besetzt, in Brand gesteckt und sogar mit einem Granatwerfer beschossen. Der Gebrauch der russischen Sprache wurde stark eingeschränkt und mit Strafen belegt.
HINTERGRUND Wie hat sich die offizielle und die gesellschaftliche Wahrnehmung des 9. Mai in den letzten Jahrzehnten in Russland verändert?
HEYDEN Paraden zum Jubiläum des Siegestages wurden auf dem RotenPlatz in den Jahren 1965, 1985 und 1990 abgehalten. Seit 1995 finden die Militärparaden zum Tag des Sieges jährlich auf dem Roten Platz statt.
Die Wahrnehmung des 9. Mai hat sich mit dem Machtantritt von Putin im Jahr 2000 verändert. Unter Boris Jelzin war
dieser Tag nicht wichtig. Er galt als „sowjetischer Feiertag“. Unter Putin kehrte in das Bewusstsein der Russen zurück, dass Russland seinen eigenen Weg in die Zukunft finden muss und dass der Westen kein Recht hat, allen Ländern seine Werte aufzudrücken. Seit dem Angriff der NATO auf Serbien 1999 stiegen in Russland die Ängste, dass der Westen womöglich auch die Russische Föderation zerstückeln wolle.
Durch die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges bekräftigt Russland seinen Anspruch auf eine ebenbürtige Partnerschaft insbesondere mit den USA und weist den Status einer „Regionalmacht“ entschieden zurück. Russland will seine Rolle behalten, die es seit dem Februar 1945 hat, als am Runden Tisch in Jalta die Nachkriegsordnung für Europa vereinbart wurde.
Die Sowjetunion gehörte 1946 zu den Gründungsmitgliedern der UNO. Russland ist zusammen mit vier anderen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges im UN- Sicherheitsrat vertreten. Den USA gelang es nach 1991 nicht, Russlands Rolle in der UNO zu schmälern.
Es ist kein Zufall, dass auf den Jubiläumsparaden am 9. Mai in Moskau, 1995, 2005 und 2015, die Generalsekretäre der UNO immer anwesend waren. Es ist den NATO-Staaten in den letzten 30 Jahren nicht gelungen, Russlands Rolle in der internationalen Politik herunterzureden. Eine Einladung zur Militärparade konnten die Anführer der NATO-Staaten bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine nicht ausschlagen.
Bei dem 50. Jubiläum des Siegestages 1995 saßen auf der Tribüne am Roten Platz US-Präsident Bill Clinton, Bundeskanzler Helmut Kohl, der Ministerpräsident von Großbritannien, John Major, der Vorsitzende der Volksrepublik China, Jiang Zemin, der Premierminister von Kanada, Jean Chretien, und der Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma.
Beim 60. Jubiläum des Siegestag 2005 saßen auf der Tribüne US-Präsident George W. Bush, der Vorsitzende der Volksrepublik China, Hu Jintao, Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie die Präsidenten oder Ministerpräsidenten von Frankreich, Italien, Großbritannien, Japan, Südkorea und Indien.
Beim 70. Jubiläum 2015 – ein Jahr nach Beginn des Bürgerkrieges in der Ukraine – saß neben Putin Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. Auf einer Ehrentribüne verfolgten laut Medienberichten Hunderte Veteranen des Zweiten Weltkrieges sowie Staats- und Regierungschefs aus etwa 20 Ländern das Ereignis. Zu ihnen zählten unter anderen Ägyptens Staatschef Abdel Fattah al-Sissi, der indische Ministerpräsident Narendra Modi, der kubanische Staatschef Raúl Castro, Südafrikas Präsident Jacob Zuma und Venezuelas Präsident Nicolás Maduro. Die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs, die EU-Spitze und der damalige US-Präsident Barack Obama boykottierten aus Protest gegen Russlands Politik im Ukraine-Konflikt Moskaus Militärparade.
HINTERGRUND Ist schon bekannt, welche Staaten in diesem Jahr Vertreter zu der Parade schicken?
HEYDEN Für die diesjährige Parade hat Russland an „unfreundliche Länder“ keine Einladungen verschickt. Der deutsche Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, soll nach einer Meldung des Portals news.ru erklärt haben, Berlin werde erst einen Vertreter schicken, wenn der Konflikt in der Ukraine beendet ist. Nach Angaben der Kanzlei von Viktor Orbán will man keinen Vertreter schicken. Die Einladung angenommen haben der Vorsitzende der Volksrepublik China, Xi Jinping, der Ministerpräsident der Slowakei, Robert Fico, und der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić.
HINTERGRUND Was bedeutet der 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 heute für die russisch-deutschen Beziehungen?
HEYDEN Eigentlich sollten diese beiden Tage nicht nur in Russland, sondern in gleichem Maße auch in Deutschland im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Ohne die Befreiung durch Soldaten der Roten Armee würden wir Deutschen vielleicht heute noch im Faschismus leben. Wir müssen den sowjetischen Soldaten dankbar sein. Das hatte selbst Bundespräsident Richard von Weizsäcker begriffen, als er 1985 von „Befreiung“ sprach. Das hat nichts mit „Schuldkult“ zu tun. Es ist einfach die Anerkennung einer Tatsache.
Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
ULRICH HEYDEN wurde 1954 in Hamburg geboren. Er lebt seit 1992 in Moskau und arbeitet für deutschsprachige Medien. Er war tätig für den Deutschlandfunk, die „Sächsische Zeitung“ und „Die Presse“ (Wien). Seit 2014 arbeitet er für alternative Medien, wie die „Nachdenkseiten“. In Hamburg lernte er den Beruf Metallflugzeugbauer und arbeitete in Hamburger Metallbetrieben. Dann studierte er Volkswirtschaft und Geschichte. Von ihm erschienen mehrere Bücher über die Ukraine und Russland. Er ist Co-Regisseur des Filmes „Lauffeuer“ über den Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa 2014. Website: www.ulrich-heyden.de
Von Ulrich Heyden erschien am 2024 das Buch „Mein Weg nach Russland – Erinnerungen eines Journalisten“, Verlag Promedia, Wien
