Zweiter Weltkrieg

Die russisch- deutsche Aussöhnung war einzigartig

Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg mit seinem enormen Verlust an Menschenleben wurde zu einem Grundpfeiler der russischen nationalen Identität, wobei der Sieg als ein Denkmal für die Widerstandsfähigkeit und den Geist des Volkes dient. Von der einstigen historischen Aussöhnung zwischen Russland und Deutschland ist wenig übrig. Eine russische Sicht.

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Foto: KRiemer
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Der 9. Mai – der Tag des Sieges – wurde in der Sowjetunion seit 1965, als viele Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges noch lebten, groß gefeiert. Seitdem ist der Tag des Sieges zum wichtigsten Nationalfeiertag des Landes geworden. Zunächst handelte es sich in erster Linie um Treffen von Soldatenkameraden, die sich viele Jahre lang nicht gesehen hatten. Dann – mehr und mehr Erinnerungen an Freunde und Gefährten, die im Krieg gefallen sind: „ein Feiertag mit Tränen in den Augen“, wie es in einem berühmten Lied heißt. Im Laufe der Jahre gab es immer weniger Veteranen, und der Feiertag wurde mehr und mehr zu einem Tag der nationalen Einheit, der auch historisch-aufklärerische und erzieherische Funktionen erfüllte.

Der härteste Krieg, der jeden einzelnen Bürger Sowjetrusslands berührte und 27 Millionen Menschenleben forderte, wurde zum wichtigsten Element der russischen Identität, und der Sieg wurde zum Symbol der Fähigkeiten und der Geistesstärke des siegreichen Volkes. Kein anderer Feiertag, weder der 7. November in der UdSSR, der Jahrestag der Oktoberrevolution 1917, noch der 12. Juni, der heutige offizielle „Tag Russlands“, kann sich auch nur annähernd mit dem 9. Mai vergleichen.

Der Straßenumzug des „Unsterblichen Regiments“ auf Initiative des Volkes, bei dem die Menschen die Porträts ihrer Verwand- ten, die im Krieg gekämpft haben, mit sich führen, wurde zu einer Brücke, die die Generationen verbindet und die Menschen durch die Erfahrung der Vergangenheit, die niemals vergeht, vereint.

Die „spezielle Militäroperation“ (SMO), die im Jahr 2022 begann, erinnert in vielerlei Hinsicht an den Großen Vaterländischen Krieg, wenn auch sicher nicht in allen Punkten. Sie dauert bereits seit drei Jahren an. Der Schauplatz der militärischen Operationen befindet sich an denselben Orten, an denen die Rote Armee gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. Der aktuelle Gegner auf dem Schlachtfeld – das ultranationalistische Kiewer Regime – wird in Russland als Neonazi bezeichnet, und seine aktiven Anhänger werden als „Naziki“ bezeichnet (Wikipedia: Offenbar leitet sich der Begriff von der englischen Bezeichnung nazi ab, an die mit -k die Nuance der Erniedrigung angehängt ist.) Eine Koalition westlicher Mächte als Hauptgegner hat sich zum Ziel gesetzt, Russland eine strategische Niederlage beizubringen. (Anders als 1812 und 1941 hat Russland heute jedoch keine Verbündeten im Westen, obwohl es im Osten und Süden wichtige Partner hat). Die SMO ist mit hohen Kampfverlusten und menschlichen Opfern verbunden. Obwohl Russland außerhalb der Zone der „speziellen Militäroperation“ überwiegend ein friedliches Leben führt, fliegen ukrainische Drohnen Städte an, die tief im Hinterland liegen. Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass der gegenwärtige Krieg in der Ukraine wie der Große Vaterländische Krieg zu einem Volkskrieg geworden ist. Freiwillige schließen sich der Armee an, Ehrenamtliche helfen ihnen. Es werden Lieder über den Krieg geschrieben, Gedichte verfasst, Filme gedreht.

Unter den Bedingungen der SMO in Russland wird die Interpretation des Großen Vaterländischen Krieges immer breiter. Vor einigen Jahren wurde in St. Petersburg eine Gedenktafel zu Ehren von Marschall Mannerheim angebracht, einem ehemaligen General des Russischen Reiches, der Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte und Präsident des Landes wurde. Später musste die Gedenktafel entfernt werden: Mannerheims finnische Truppen blockierten zusammen mit der Wehrmacht Leningrad. Heute wird viel darüber gesprochen, was während der Sowjetunion diplomatisch verschwiegen wurde: über die von Finnen in Karelien errichteten Konzentrationslager, über die französischen Freiwilligen an der Ostfront, über die Gräueltaten der rumänischen Besatzer in Odessa, über die Tatsache, dass an Hitlers Aggression ebenso wie an Napoleons Russlandfeldzug 1812 Truppen aus fast allen Ländern Kontinentaleuropas beteiligt waren. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll zu betrachten, wie sich die Einstellung zu Deutschland in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Historische Aussöhnung

Historiker, die sich ausführlich mit der Versöhnung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befasst haben, haben allenfalls spärlich über die Aussöhnung zwischen der UdSSR und der DDR/BRD geschrieben. Obwohl der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 unvergleichlich mehr menschliche Verluste und Zerstörungen zur Folge hatte – in absoluten und relativen Zahlen – als der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich und die Besetzung Europas. Dennoch begannen sich die sowjetisch-deutschen Beziehungen kurz nach Friedensschluss konstruktiv zu entwickeln.

Dazu trugen mehrere Faktoren bei. Die Behörden der UdSSR vertraten eine klassenbezogene und keine nationalistische Ideologie. Nachdem die Sowjetunion Ostdeutschland als Verantwortungszone erhalten hatte, baute sie es als Vorposten des Sozialismus und als dessen Aushängeschild auf; die ostdeutschen Kommunisten waren die engsten Verbündeten der KPdSU; trotz der militärischen Besetzung und der anschließenden Anwesenheit einer großen Gruppe sowjetischer Truppen in der DDR waren die Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung im Allgemeinen korrekt und oft freundlich. Heute, dreieinhalb Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung, ist die Bevölkerung in den östlichen Bundesländern der Bundesrepublik im Allgemeinen viel positiver gegenüber Russland eingestellt als die Bevölkerung im westlichen Teil des Landes, wo es nie sowjetische Truppen gab.

Moskau nahm 1955 diplomatische Beziehungen zu Bonn auf, 18 Jahre früher als die Westmächte zu Ost-Berlin. Zur gleichen Zeit kehrten deutsche Kriegsgefangene aus der UdSSR nach Hause zurück, deren Lage in der Sowjetunion während des Krieges unvergleichlich besser war als die der sowjetischen Kriegsgefangenen in Hitlers Lagern. Bald darauf begannen sich die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der UdSSR und der BRD aktiv zu entwickeln: Deutschland gewann seine traditionelle Position als Hauptquelle für technologische Importe nach Russland seit dem 19. Jahrhundert zurück. Trotz der Besorgnis der UdSSR über das Versäumnis der deutschen Führung, die politischen Realitäten im Osten der Nachkriegszeit anzuerkennen, entwickelten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern weiter.

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DMITRI TRENIN ist akademischer Direktor des Instituts für Weltmilitärwirtschaft und -strategie an der Higher School of Economics (HSE University) in Moskau.

Aus dem Russischen übersetzte Éva Péli.

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