Der Zweite Weltkrieg wurde an der Ostfront entschieden
Nicht nur die Zahl der rund 27 Millionen sowjetischen Opfer des faschistisch-deutschen Vernichtungskrieges soll anscheinend in Deutschland vergessen werden. Das gilt auch für die Tatsache, dass die sowjetische Armee die Hauptlast des Kampfes und Sieges über den deutschen Faschismus trug. Eine Erinnerung an die Fakten.

Mein erster Gedanke, als ich mich an die Arbeit an diesem Text machte: Wen kümmern der Zweite Weltkrieg und die Ostfront in einer Zeit großer innenpolitischer Turbulenzen? In einer Zeit zwischen der Bundestagswahl und dem Antritt einer neuen Bundesregierung? Der zweite Gedanke: Gerade jetzt ist ein Rückblick auf das grausamste Kapitel der deutsch-sowjetischen/russischen Geschichte so brennend aktuell wie nie zuvor seit 1945.
Heute bereitet sich die deutsche politisch-mediale Klasse auf einen Krieg gegen Russland vor. Eine neue Ostfront wird in den Köpfen aufgezogen – erst mal propagandistisch. Denn wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sagen pflegte: „Aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten.“ Oder, um mit dem britischen Historiker Arnold J. Toynbee zu sprechen: „The one thing we learn from history is that we learn nothing from history.“ („Das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.“ Das Zitat wird in leicht abgeänderter Form dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeschrieben.)
Ein Blick auf den Kriegsschauplatz Ostfront, an der die Wehrmacht und damit „das tausendjährige Dritte Reich“ binnen vier Jahren untergegangen sind, lohnt sich in diesen Tagen ganz besonders.
27 Millionen sowjetische Opfer
Wenn heute die wenigen „Russland-Versteher“ an das historische Gedächtnis der Deutschen appellieren, dann wird immer die Zahl 27 Millionen genannt, die von Historikern als der Wahrheit wohl am nächsten kommende Zahl der sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten angesehen wird.
Genauer genommen hat sich in der russischen Geschichtsforschung die Zahl 26,6 Millionen etabliert. Diese Schätzung ist ein Ergebnis aus der mehrjährigen Tätigkeit der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Staatlichen Statistik-Behörde der UdSSR (Goskomstat), der Wehrersatz-Hauptverwaltung des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs, die 1990 abgeschlossen war. Gegenüber der bisherigen sowjetischen Angabe von 20 Millionen gilt diese als politisch „nicht frisiert“.
Diese Zahlen flossen in das Buch des russischen Militärhistorikers Grigorij Kriwoschejew „Russland und die UdSSR in den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Verluste der Streitkräfte“ ein, 2001 erschienen im Moskauer Verlag Olma-Press 1. Dieses gilt trotz einiger Fachkritik seit über 20 Jahren als das maßgebliche Standardwerk in der russischen Kriegsgeschichtsforschung. Die Zahlen, die ich hier anführe, sind diesem Buch entnommen.
Diese allgemeine Zahl von 27 Millionen ist zwar in Deutschland hinlänglich bekannt, wird aber selten, wenn überhaupt, aufgeschlüsselt. Der militärische Anteil der Gesamtverluste liegt laut Kriwoschejew bei circa 9 Millionen (8.668.400 unwiederbringliche Verluste: Gefallene, Vermisste, an Verletzungen Gestorbene; darunter ca. 3,5 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die durch Hunger, Krankheit, Erschöpfung, Erfrierung, Zwangsarbeit gestorben sind oder hingerichtet wurden). 2
Die anderen 18 Millionen sind Zivilisten. Darunter wurden nach den Ermittlungen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (TschGK) 6,8 Millionen Menschen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten der UdSSR gezielt vernichtet. In Leningrad wurden über eine Million Menschen durch die deutsche Blockade ausgehungert, überwiegend Zivilbevölkerung. Eigentlich sollte ein Besuch auf dem Blockade-Friedhof Piskarjowskoje in St. Petersburg für jeden
deutschen Politiker, erst recht für jeden Außenpolitiker, neben der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem Pflicht sein. Am besten ohne Pressetross und ohne Kameras, um Betroffenheit nicht schauspielern zu müssen.
Verluste der Wehrmacht an der Ostfront
Aber die Ostfront war nicht nur Schauplatz eines unvorstellbaren Völkermordes. Sie war der Kriegsschauplatz, an dem der Zweite Weltkrieg entschieden wurde. Hier, im Osten, hat die deutsche Wehrmacht Verluste erlitten, die ihr das Rückgrat gebrochen haben.
Nach Rüdiger Overmans, einem der profiliertesten deutschen Militärhistoriker, Oberstleutnant a. D., Mitglied des Arbeitskreises Militärgeschichte und des Deutschen Historikerverbandes, betrugen die sogenannten blutigen Wehrmacht-Verluste an der Ostfront (Gefallene, Vermisste, in Gefangenschaft Geratene, kampfunfähige Schwerverletzte) zwischen Juni 1941 und Dezember 1944 monatlich im Schnitt 123.328 Mann. Ihren Höchststand erreichten sie im September 1944 mit 439.953 Mann. 3 Overmans weist darauf hin, dass selbst diese horrenden Zahlen unvollständig sind. Ab Sommer 1944 fallen die Verlustberichte auf den zwei Standard-Meldewegen IIa und IVb zunehmend aus. Entweder erreichten sie die oberen Stellen wegen des chaotischen Rückzugs nicht oder wurden gar nicht erst rausgeschickt, weil ganze Wehrmachts- und Waffen-SS-Verbände samt ihren Stäben und Versorgungsabteilungen zerschlagen wurden. Es war schlicht niemand mehr da, um die Verluste zu zählen, zu bearbeiten und weiterzuleiten: „Im Extremfall wurden sogar Einheiten [der Wehr- macht] von der Roten Armee vollständig zerschlagen, wie die 6. Armee bei Stalingrad oder die Heeresgruppen auf dem Balkan. Solche Einheiten konnten ihre Verluste nicht mehr melden.“ 4
Die mit Abstand schwersten einmaligen Verluste binnen zweier Monate hat die Wehrmacht durch die sowjetische „Operation Bagration“ von Juni bis August 1944 erlitten, die zu der vollständigen Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte geführt hat. Auf diese kommen wir später noch zu sprechen.
Dem Oberkommando Wehrmacht seien die Defizite in der Erfassung der Verluste bewusst gewesen, merkt der Autor an, doch sie seien schlichtweg in Kauf genommen worden, da nur bedingt relevant für die operative Planung: Man habe sich mit annähernden, meistens untertriebenen Zahlen zufriedengegeben, weil für die Entscheidungen auf der operativen Ebene ein „grober Überblick“ ausreichte. Ab Juni 1941 konnten die Verluste an der Ostfront sowieso nie vollständig ersetzt werden. Daher herrschte nun ein derart pragmatisch-zynischer Ansatz vor. Die genauen Verluste waren nur den Hinterbliebenen im Reich wichtig, nicht der Wehrmachtsführung.
Das Gemetzel an der Ostfront illustriert Overmans mit der folgenden Statistik: „Die Zahl der wehrfähigen Männer pro Geburtsjahrgang lag in Deutschland zwischen 400.000 und 500.000 Mann; folglich war nach ca. 3 bis 4 Monaten ein ganzer Geburtenjahrgang ‚verheizt'“.
Die kumulierten Wehrmachtsverluste (Heer, Luftwaffe, Marine) an der Ostfront zum Dezember 1944 beziffert der Historiker mit 5.873.268 Mann. Zum 1. Juli 1944 fallen 87,1 Prozent der Gesamtverluste des Heeres einschließlich Waffen-SS an der Ostfront an. Die addierten Gesamtverluste aller Wehrmachtsteile liegen bei 90,4 Prozent. 5
Der Anteil der monatlichen deutschen Kampfverluste an der Ostfront liegt im Juni 1941 bei 99 Prozent. Erst mit der Landung der Westalliierten in der Normandie am D-Day, dem 6. Juni 1944, sinkt er erstmals auf 86 Prozent und dann sukzessive bis Dezember auf 77 Prozent. Was wiederum verdeutlicht, dass selbst auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Westen diese Front eben die „Zweite Front“ blieb. Mit mehr als drei Viertel der dem gemeinsamen Gegner zugefügten Verluste trug die Sowjetarmee auch nach der Alliierten-Landung in Frankreich entscheidend zum Sieg bei. 6
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Ivon Rodionov, studierter Germanist, hat lange Jahre für deutsche Medien (Der Spiegel, ZDF) in Russland gearbeitet, bevor er zum russischen Fernsehen wechselte. Er war Kriegs- und Konfliktreporter im Kaukasus, Zentralasien, dem Nahost und Afghanistan und später Korrespondent in Berlin, wo er seit 10 Jahren lebt. Seit 2014 leitete er RT Deutsch (RTDE) und wurde In den deutschen Talkshows als der Russe vom Dienst herumgereicht. Heute kommentiert er das politische Geschehen bei InfraRot Medien.
1 erstmals 1993 veröffentlicht unter dem Titel: „Verschlusssache: Verluste der Streitkräfte/UdSSR in Kriegen, Feindseligkeiten und militärischen Konflikten: Eine statistische Studie“
2 Die von anderen Historikern wie Wiktor Semskow als die Zahl der Gesamtverluste angeführten 11,5 Millionen Militärangehöriger umfasst laut Kriwoschejew ca. 940.000 Soldaten, die zuvor als vermisst gemeldet worden waren und später nach der Befreiung oder Flucht aus den besetzten Gebieten wiederholt in die≈Sowjetarmee eingetreten sind, sowie ca. 0,5 Millionen nicht kriegsbedingte Tote: durch Unfälle und Krankheiten gestorbene oder vom Tribunal verurteilte und hingerichtete Personen.
3 Rüdiger Overmans, „Das andere Gesicht des Krieges: Leben und Sterben der 6. Armee“, in: Jürgen Förster (Hrsg.), Stalingrad, München 1992, S. 419–455
4 Ebenda, S. 444
5 Ebenda, S. 11
6 Ebenda, S. xxx