Die Orks aus dem Osten* Deutschland-Blick aus Russland
Das Bild von der "russischen Gefahr", mit dem Deutschland derzeit wieder "kriegstüchtig" gemacht wird, hat tiefe Wurzeln. In Russland trifft das auf Verwunderung.
Foto: seadog; Quelle: pixabay; LizenzEs ist ein seltsames Gefühl, das mich beschleicht, wenn ich die deutsche Narrativ-Glocke für ein paar Wochen verlasse und aus einer Entfernung auf das Treiben in den Medien und auf sozialen Plattformen blicke. Alles, was den Diskursraum zwischen Flensburg und Konstanz beherrscht, was Medien- und Meinungsmacher beschäftigt oder gar in Rage versetzt, erscheint plötzlich so winzig klein wie durch ein Fernrohr, das man verkehrtherum hält. Ob dringende Hitzeschutzkonzepte (bei 18 Grad und Nieselregen), Gendersprache, geschlechtliche Selbstbestimmung, Georgina Liebich oder Marla Svenja Kellermann – diese großen, weltbewegenden Fragen und Figuren der deutschen Meinungsblase schrumpfen auf einmal auf eine Minigröße, werden blass und lächerlich. Und das Leben fühlt sich erstaunlich moralinfrei an.
Diesmal war mein Außenblick besonders durch den Umstand geprägt, dass der Blickpunkt Russland war. Jenes „Mordor“, wo alle Deutschen auf der Straße gefasst und in den Gulag gesteckt würden (so die Erzählung meiner Freunde über die Reaktion ihrer Verwandtschaft auf die Nachricht, sie würden nach Russland in die Ferien reisen) oder wo auf Nicht-Denunziation der homosexuellen Nachbarn Gefängnisstrafe stünde (so die Erzählung einer journalistischen Kollegin, die es aus der deutschen Presse erfahren haben wollte). Nur als ein kleiner Strich zum verfestigten Zerrbild Russlands in den Köpfen.
Ein Kontrast, der besonders stark beim Deutschland-Blick aus Russland ins Auge sticht: die Asymmetrie in der gegenseitigen Wahrnehmung. Die Russland-Obsession der deutschen machtmedialen Klasse, ihre antirussische Hysterie, wird in Russland nicht ansatzweise mit einer vergleichbaren pauschalen Deutschland-Schelte erwidert. In den russischen Online-Kinos läuft (floppt vielmehr) Das Licht von Tom Tykwer, und Mascha Schilinskis In die Sonne schauen wird im November dieses Jahres in Russland erstaufgeführt. Von den Altklassikern Wim Wenders und Volker Schlöndorff gar nicht zu sprechen. Und niemand fragt nach der Positionierung der Filmemacher in den aktuellen Konflikten, während die Thüringer Allgemeine Zeitung es – zu Recht – „erstaunlich“ findet, dass überhaupt „ein neuer Film aus Russland in deutsche Kinos kommt“. 1 Die Rede ist von Der Meister und Margarita des Regisseurs Michail Lokshin aus dem Jahr 2024. Das Blatt gibt Entwarnung: Lokshin ist in den USA geboren und lebt jetzt wieder dort (soll heißen, sein Russen-Stigma wiegt nur halb so schwer), und dieser Film „bringt Putin-Dogmatiker in Rage“ (auch wenn er mit russischer staatlicher Filmförderung realisiert wurde), im Grunde reicht es als Filmkritik: Was braucht man noch über Russen-Filme zu wissen?
Das Deutsche Theater in Berlin rechtfertigt sich für die Aufführung des Stücks Platonow von Anton Tschechow damit, Tschechow Putin nicht überlassen zu wollen. Der russische Regisseur Timofej Kuljabin musste sich zuerst als ausgewiesener „Putin-Kritiker“ beweisen, besser noch „Parallelen zwischen Putins Russland und Hitler-Deutschland erkennen“ 2, um an einer deutschen Bühne inszenieren zu dürfen. Denn seine Haltung zu Putin ist wichtiger als die zu Tschechow.
Was es bedeutet, als russischer Künstler mit falscher (oder auch nur ungeklärter) Haltung in Deutschland zu sein, haben der Ex-Chefdirigent der Münchner Philharmoniker Walerij Gergijew (bzw. Valery Gergiev) und Opernsängerin Anna Netrebko in aller Deutlichkeit zu spüren bekommen. 3 In den russischen Supermärkten steht deutsches Bier im Regal (kostet anderthalbmal so viel wie das einheimische), und niemand flippt aus wie Georg Restle, als er einmal im Kaufland den „Wodka Russian Standard“ gesichtet hat. Dieser Anblick war dem öffentlich-rechtlichen Journalisten so unerträglich, dass er in einer denunziatorischen Aufwallung das Kaufland–
Management auf X zur Rede gestellt hat. 4 Die Handelskette ist sofort in die Knie gegangen und versuchte sich damit zu rechtfertigen, dies seien alte Vorkriegsvorräte, die noch ausverkauft würden. Für „Putins Wodka“ gilt: lieber auf den Boden ausgießen als sich der Feindkollaboration verdächtig machen. Wohlgemerkt: Es war die Handelskette Kaufland, die kurz zuvor ukrainische Nationalfahnen mit einer Waffen-SS-Wolfsangel im Online-Angebot geführt hat. 5 War damit die Demokratie-Treue nicht genug unter Beweis gestellt? (Ironie)
Im kleinen Moskauer Vorstadt-Café um die Ecke heißt die Grillwürstchen-Platte „Altes München“, während der Russe in Charlottenburg seinen russischen Borschtsch auf der Karte vorsorglich in die „Ukrainiskij Rote Beete-Weißkohl-Suppe“ umbenannt hat 6 (»Beef Stroganoff« hält sich noch auf der Karte als eine kulinarische Manifestation des russischen Imperialismus, fragt sich, wie lange noch, bis „Rind Bandera“ es zeitgeistgemäß ersetzt).
In den russischen Buchhandlungen liegt Dirk Oschmanns Bestseller Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Der Titel der russischen Ausgabe, auf Deutsch „Die Orks aus dem Osten: Wie der Westen das Bild des Ostens prägt“ („Орки с Востока: Как Запад формирует образ Востока“) 7, den ich persönlich für ein übersetzerisches Meisterstück interkultureller Kommunikation halte, hat in Deutschland Wutkrämpfe ausgelöst. Der Ullstein Verlag hat dem russischen Verlag Azbooka-Atticus 8 die Lizenz entzogen und den Vertrieb untersagt.
Die mediale Empörung richtet sich gegen die Übertragung des Fantasy-Begriffs „Ork“« aus den Romanen J. R. R. Tolkiens auf die Ostdeutschen, denn „Orks“ ist das ukrainische Schmähwort für die Russen. Niemand von den Kritikern stört sich dabei an der pauschalen Dämonisierung der Russen als brutaler, primitiver, halb-menschlicher Wesen, welche die Orks sind. Alle stören sich nur daran, dass die Russen nun diesen Begriff kapern wollen! Und sich damit auch noch eine Deutung eines innerdeutschen Konflikts erlauben! Die implizite Botschaft: Das „Orks“-Label soll den Russen vorbehalten bleiben.
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IVAN RODIONOW, studierter Germanist, hat lange Jahre für deutsche Medien (Der Spiegel, ZDF) in Russland gearbeitet, bevor er zum russischen Fernsehen wechselte. Er war Kriegs- und Konfliktreporter im Kaukasus, Zentralasien, im Nahen Osten und in Afghanistan sowie später Korrespondent in Berlin, wo er seit 2012 lebt. Seit 2014 leitete er RT Deutsch (RT DE) und wurde eine Zeit lang in den deutschen Talkshows als der Russe vom Dienst herumgereicht. Heute kommentiert er das politische Geschehen bei InfraRot Medien.
* Die Orks aus dem Osten ist die teilweise Rückübersetzung aus dem Russischen des Buchtitels Der Osten: eine westdeutsche Erfindung von Dirk Oschmann, Ullstein Verlag, 2022
1 „Erstaunlich: Ein neuer Film aus Russland kommt in deutsche Kinos“, in: Thüringer Allgemeine Zeitung, 30. April 2025, https://www.thueringer-allgemeine. de/politik/article408895926/erstaunlich-ein-neuer-film-aus-russland-kommt-in- deutsche-kinos.html
2 „Russischer Exil-Regisseur warnt in Karlsruhe vor totalitärer Unterdrückung“, in: Badische Neueste Nachrichten, 30. Oktober 2024, https://bnn.de/karlsruhe/ karlsruhe-stadt/russischer-exil-regisseur-warnt-in-karlsruhe-vor-totalitaerer- unterdrueckung
3 Siehe zu Gergiev: „Ultimatum für Gergiev: Münchner Philharmoniker oder Putin?“, in: BR Klassik, 28. Februar 2022, https://www.br-klassik.de/aktuell/ news-kritik/gergiev-reaktion-stadt-muenchen-muenchner-philharmoniker-100. html; „Der Hofnarr des Zaren und seine Freunde“, in: Süddeutsche Zeitung,
22. Juli 2025, https://www.sueddeutsche.de/kultur/caserta-italien-konzert- absage-muenchner-philharmoniker-li.3287673?reduced=true; siehe zu Netrebko: „Warum Anna Netrebko den Putin-Makel nicht loswird“, in: n tv, 15. September 2023, https://www.n-tv.de/politik/Warum-Anna-Netrebko-den-Putin-Makel- nicht-loswird-article24397169.html; „Putin-Freundin oder missverstandene Künstlerin?“, in: tagesschau, 14. September 2023, https://www.tagesschau.de/ inland/gesellschaft/netrebko-berlin-100.html
4 @georgrestle, gepostet am 20. März 2023, https://x.com/georgrestle/status/ 1637736267197603840; Siehe auch: „ARD-Moderator blickt in Kaufland-Regal und wendet sich umgehend an Supermarkt“, in: tz.de, 30. März 2023, https://www.tz.de/verbraucher/ard-journalist-kaufland-regal-russischer-wodka- kritik-spott-netz-twitter-foto-92160416.html
5 kaufland.de, Asow-Fahne, archiviert https://www.kaufland.de/ product/429111834/?search_value=flagge%2090%C3%97150%20ukraine
6 Restaurant Samowar, Speisekarte https://restaurant-samowar.de/speisekarte/ 7 »Орки с Востока: Как Запад формирует образ Востока« auf dem Bücher-Portal
chitai-gorod.ru, https://www.chitai-gorod.ru/product/orki-s-vostoka-kak-zapad- formiruet-obraz-vostoka-germanskiy-scenariy-3037920?ysclid=mex5mx8s wt89361987