Kriege

Im Sog der Krise: Europas Eliten verlieren den Kompass

Die stetige Osterweiterung der NATO in den letzten Jahrzehnten hat eine atlantisch-globalistische Sekte geschaffen, stellt der ungarische Alt-Botschafter György Varga fest. Varga machte reichhaltige Erfahrungen in hohen diplomatischen Positionen im postsowjetischen Raum und war zwischen 2017 und 2021 Leiter der OSZE-Beobachtermission an der ukrainisch-russischen Grenze. Das Interview mit György Varga führte und übersetzte aus dem Ungarischen ÉVA PÉLI.

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Foto: Joa70; Quelle: Pixabay; Lizenz
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HINTERGRUND Herr Botschafter Varga, zunächst zu einem aktuellen Thema: Sie haben Ende Februar 2025 in Berlin auf einer Veranstaltung der Eurasien Gesellschaft gesagt, dass es gute Chancen für ein Ende des Krieges in der Ukraine gibt. Worauf stützen Sie sich dabei?

GYÖRGY VARGA Ja, im Februar sah ich noch mehr Chancen für ein schnelles Ende des Krieges, basierend auf den bekannten Friedensabsichten des neuen US-Präsidenten, für die er von seinen Wählern ein bedeutendes Mandat erhalten hat. Ich sah, dass es den Eliten der EU und der NATO schwerfallen wird, sich von ihrer eigenen schädlichen Politik gegenüber der Ukraine und Russland zu distanzieren, aber mit einem solchen Widerstand habe ich nicht gerechnet. Ich hielt es für eine rationale Option, dass die europäische Elite die Gelegenheit ergreift, den Krieg zu beenden und sich auf die Seite Washingtons zu stellen. Der EU-Gipfel am 6. März bestätigte, dass Brüsseler Bürokraten und europäische Globalisten, die mit der Demokratischen Partei der USA verbündet sind, entschlossen sind, den Krieg fortzusetzen und die Ukraine weiter zu bewaffnen. Sie tun dies trotz der Tatsache, dass der Krieg zu einer weiteren Zerstörung der Ukraine und einem Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft führen wird.

HINTERGRUND Wie schätzen Sie den zum Krieg gewordenen Konflikt in und um die Ukraine ein? Wie wäre er zu vermeiden gewesen?

VARGA Der Krieg in der und um die Ukraine war vermeidbar und hätte zwei Monate nach seinem Ausbruch beendet werden können. Heute hören wir von der Trump-Administration, dass Russland legitime Sicherheitsinteressen hat, dass die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO berechtigte Sorgen in Moskau ausgelöst hat und dass sie eine der Ursachen für den Ausbruch des Krieges war. Hätte die Biden-Administration das auch so gesehen, gäbe es heute in Europa keinen bewaffneten Konflikt, der immer wieder einem Weltkrieg näher kommt.

Ich sehe das Grundproblem im Jahr 2008, als die NATO die Souveränität der Ukraine verletzte: Das Bündnis benannte die Ukraine in der Erklärung des Bukarester Gipfels als künftiges Mitglied, während der in der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung verankerte und durch ein Referendum bestätigte Status der Ukraine als neutraler und blockfreier Staat eine international anerkannte Tatsache war. Die NATO hat den Status quo der europäischen Sicherheit aus dem Gleichgewicht gebracht.

HINTERGRUND Sie haben als Diplomat und Botschafter Ungarns die Entwicklung in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges gewissermaßen in der ersten Reihe miterlebt. Wie kommt es, dass die EU heute wieder zu den „alten Zeiten“ zurückkehrt und wegen der „russischen Gefahr“ wieder massiv aufrüsten will, weil angeblich ein Angriff Russlands droht? Wie haben Sie diese Entwicklung erlebt?

VARGA Ich halte die von Brüssel, Paris, Berlin und Warschau betriebene Panikmache für äußerst schädlich: Sie beruht nicht auf Fakten, sie schafft Hysterie, sie legitimiert einen Aufrüstungsprozess, der aber nicht im Interesse der 450 Millionen Bürger der EU ist. Sie ist auch nicht im Interesse der Ukraine, die wir durch den Krieg jeden Tag weiter zerstören. Wir sehen die Heuchelei der Politiker jeden Tag. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) behauptet alarmistisch, dass Russland Deutschland angreifen werde. Mitten in dieser Panikmache weigert er sich hartnäckig, die Ukraine als neutrales Land, als Sicherheitsgarantie, als Pufferzone zwischen der NATO und Russland zuzulassen. Mit anderen Worten: Er alarmiert, aber in Wirklichkeit fürchtet er keine russische Aggression.

Sterben heute deutsche Soldaten in Deutschland durch Granaten russischer Panzer? Beschießen russische Panzer in diesen Tagen deutsche Dörfer? Nein, aber Leopard-Panzer töten täglich russische Soldaten und zerstören Dörfer in der Region Kursk in Russland, einer Region, die den Deutschen gut bekannt ist. Einige in Berlin planen, Taurus-Marschflugkörper, die Moskau erreichen können, an die Ukraine zu übergeben. Wer aus nationalem Stolz eine Atommacht provoziert, sollte sich im Falle einer verdienten Vergeltung nicht auf kollektive Verteidigung berufen wollen. Wenn Prinzipien heilig sind, würde Berlin es dann wagen, Taurus an ein Opfer der US-Aggression zu übergeben? Oder würde sich hier der gesunde Menschenverstand durchsetzen?

HINTERGRUND Oft wird im Rückblick auf die Chancen für eine dauerhafte Sicherheitsordnung in Europa die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 erwähnt, die das Ziel einer gemeinsamen Sicherheit auf dem gesamten Kontinent beschrieben hat. Warum und seit wann spielt diese keine Rolle mehr? Warum wurde stattdessen auf NATO- und EU-Osterweiterung gegen Russland gesetzt?

VARGA Die stetige Osterweiterung der NATO in den letzten Jahrzehnten hat eine atlantisch-globalistische Sekte geschaffen. Die militärische Dimension des globalen Einflusses und die Ausweitung des Bündnisses wurden mit einer moralischen Soße – im Namen der Ausbreitung der Demokratie – übergossen, die die Prinzipien der internationalen Beziehungen und der Militärwissenschaft in Bezug auf das Gleichgewicht der Mächte verschleierte. In den Massenmedien wurden Kategorien geschaffen, wie Diktatur und Demokratie, und diese wurden den Menschen eingebläut. Demokratien haben in diesem Sinne das Recht, sich auf Kosten eines jeden souveränen Staates auszudehnen. Diktaturen müssten die ständige Annäherung der militärischen Organisation demokratischer Staaten hinnehmen, denn die Absichten der Demokratien seien immer korrekt, es stecke kein spezifisches nationales Interesse dahinter – in Form von Rohstoffen, Energieträgern, seltenen Metallen, Arbeitskräften, Märkten –, sie würden immer uneigennützig in unserem Interesse Kriege führen.

Ein Russland oder ein China hat kein Recht, sich auch nur mit der eigenen Ethnie zu vereinigen, wie im Falle der Krim und Taiwans. Aber eine westliche Demokratie – die USA – zerstückelt rechtmäßig Länder auf einem anderen Kontinent, siehe Serbien, wenn es sich auf die Rechte der albanischen Minderheit im Kosovo beruft. Mittlerweile sind durchaus konkrete Interessen der Länder, die im Namen der „Demokratie“ handeln, deutlich zu sehen. Denken wir nur an die seltenen Metalle, die Rolle der Instrumente (USAID) und die Zeichen ihrer Absicht, globale Prozesse zu kontrollieren.

Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

Dr. GYÖRGY VARGA ist Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum. Er hat in Theorie der Internationalen Beziehungen promoviert und als Universitätsdozent strategische Planung, Sicherheitspolitik und Theorie der Internationalen Beziehungen gelehrt. Als Diplomat vertrat er Ungarn in der Ukraine und in Moskau, er war Botschafter in Moldawien und von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Russland. In dieser Funktion verbrachte er die vier Jahre vor dem Krieg im Namen der 57-Länder-Organisation in einem Teil Russlands und im Gebiet des Donbass, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Er leitete eine ununterbrochene internationale Überwachung, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollte. Varga ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).

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