Kriege

"Israel wollte nie Frieden"

Der israelisch-deutsche Soziologe und Philosoph Moshe Zuckermann spricht im Interview mit Tilo Gräser über die Hintergründe des fortgesetzten israelischen Vernichtungsfeldzuges gegen die Palästinenser.

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Foto: rquevenco; Quelle: pixabay; Lizenz
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HINTERGRUND Der israelische Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser wird nach dem Waffenstillstand seit Mitte März anscheinend ungehindert fortgesetzt. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?

MOSHE ZUCKERMANN Der zentrale Grund ist fremdbestimmt: Netanjahu braucht den Krieg, damit seine Koalition nicht auseinanderfällt. Die Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, vor allem Letzterer, haben angedroht, dass die Beendigung der Kampfhandlungen für sie Anlass sei, aus der Koalition auszusteigen. Ob sie es wirklich tun würden, ist nicht ausgemacht, aber die Drohung besteht. Und das ist für Netanjahu Grund genug, den Krieg weiterzuführen, denn seine Beendigung könnte die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission zur Folge haben, die für den Minsterpräsidenten ein schlimmes Resultat zeitigen dürfte, namentlich seine Schuld am Desaster des 7. Oktober zu erweisen. Hinzu kommt, dass der Krieg es ihm auch ermöglicht, den Abschluss seines Prozesses wegen Korruption, Veruntreuung und Betrug noch lange hinauszuzögern. Offiziell gibt er vor, die in Hamas-Gefangenschaft verbliebenen Geiseln durch Militärdruck befreien zu wollen, aber die allermeisten Israelis haben mittlerweile begriffen, dass der Krieg nicht „total“ zu gewinnen ist, mithin sinn- und zwecklos geworden ist.

HINTERGRUND Wie wird das Vorgehen in Israel aufgenommen?

ZUCKERMANN Die israelische Bevölkerung ist dem entsetzlichen Schicksal der Bewohner Gazas gegenüber weitgehend indifferent. Viele rationalisieren ihre Gleichgültigkeit mit der Begründung, dass ja Hamas „angefangen“ habe. Andere erklären offen, dass sie nach dem 7. Oktober keinerlei Empathie für die Palästinenser im Gazastreifen aufbringen können, es mithin auch gar nicht wollen. Man hat ja schon in früheren Phasen des Krieges gesehen, dass die Gewaltexzesse der Israel Defense Forces (IDF), die mittlerweile über 50.000 Tote in Gaza, unter ihnen ein Großteil Kinder, Frauen und alte Menschen, gefordert haben, die israelische Bevölkerung (mit wenigen Ausnahmen) mehr oder minder kaltgelassen haben.

HINTERGRUND Wie stark ist der Druck in der israelischen Gesellschaft auf die Regierung, für die Freilassung der letzten Geiseln der Hamas auch den Feldzug zu beenden? Zuletzt haben sich auch israelische aktive Soldaten und Reservisten dafür ausgesprochen.

ZUCKERMANN Obwohl die meisten Israelis die Befreiung aller Geiseln fordern, auch um den „Preis“ der Beendigung des Krieges, hat sich bislang keine kritische Demonstrationsmasse gebildet, die diesem Willen im Protest effektiven Ausdruck verleiht. Demonstrationen dafür gibt es schon lange, aber es sind eben nicht Hunderttausende, die dafür auf die Straße gehen, sondern nur einige wenige Tausende. Inzwischen haben, wie Sie sagen, viele Reservisten in der Luftwaffe und in anderen Einheiten der IDF offene Erklärungen für die Beendigung des Krieges publiziert, freilich nicht im Hinblick auf die humanitäre Situation in Gaza. Man muss abwarten, ob dies eine Wende einläuten wird. Im Moment, Mitte April, kritisiert sowohl die Politik als auch das Militär diese Aktionen, man verunglimpft die Unterzeichner der Petitionen als Verweigerer und Verräter.

HINTERGRUND Warum setzt sich in Israel anscheinend niemand für die Menschenrechte der Palästinenser ein, zu denen das Recht auf Leben zuallererst gehört?

ZUCKERMANN Menschenrechte? In Israel? Wann hat sich das hegemoniale Israel jemals um Menschenrechte im Allgemeinen und um die der Palästinenser im Besonderen gekümmert? Es gab immer vereinzelte Publizisten und Menschenrechtler, die sich zu Wort gemeldet haben, auch NGO-Gruppen, aber sie bildeten immer schon nicht mehr als eine verschwindende Minderheit. Die zudem immer arg verleumdet und unter Netanjahu auch verfolgt worden ist. Israel betreibt schon seit bald 60 Jahren staatsoffiziell ein barbarisches Besatzungsregime, wieso sollte es sich da um Mensch- rechte kümmern? Israel hat sich im Gegenteil darin hervorgetan, Menschenrechte zu übertreten, nicht zu vertreten.

HINTERGRUND Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass die Palästinenser von den Israelis nicht als Menschen gesehen und behandelt werden, dass sie entmenschlicht werden. Wie weit ist das verbreitet?

ZUCKERMANN Bei ausgemachten (kahanistischen) Faschisten wie Ben-Gvir und Smotrich und ihren Anhängern, aber auch unter ultrarechten Likud-Anhängern ist das fest verankerte Ideologie. Ihre verbalen Auslassungen und die mit diesen ein- hergehenden Pogrom-Aktionen im Westjordanland lassen daran nicht den geringsten Zweifel. Aber die Dehumanisierung beginnt ja nicht erst im Faschismus. Viel- mehr herrschte in Israel immer schon ein Alltagsrassismus, welcher der Indifferenz gegenüber der palästinensischen Leiderfahrung verschwistert ist, ein Rassismus, der sich bei sehr vielen jüdischen Bewohnern Israels der Dehumanisierung bedient, um sich gegen mögliche humane Empathieanwandlungen zu wappnen. Man lebt einigermaßen „gut“ und „beruhigt“ in unmittelbarer Nachbarschaft der Unterdrückung.

HINTERGRUND Während in der Ukraine jeder russische Angriff auf militärische Ziele mit zivilen Opfern im Westen zu Forderungen nach mehr Waffenlieferungen für Kiew führt, wird das israelische Vorgehen im Gazastreifen mit Zigtausenden zivilen Opfern und wie jüngst wieder mit Angriffen auf Krankenhäuser nicht nur anscheinend hingenommen, sondern noch weiter vom Westen unterstützt. Wie sehen Sie diese Doppelmoral?

ZUCKERMANN Na ja, wie sehe ich sie schon – eben als perfide Doppelmoral. Aber die ist in Deutschland ja nicht neu. Seit
Jahren versuche ich dem deutschen Publikum klarzumachen, dass man dem militaristischen Israel, das die Okkupation betreibt und Kriegsverbrechen begeht, keinen Gefallen erweist, wenn man es wahllos und automatisch unterstützt. Aber ich weiß ja, dass ich dabei gleichsam den Mond anbelle. Die deutsch-jüdische Vergangenheit im 20. Jahrhundert beziehungsweise ihre ideologische Kodifizierung wirkt sich da in voller Wucht aus. Dass man dabei gerade das Andenken jener verrät, in deren Namen man Israel die „Solidarität“ erweist, ist die große Ironie, um nicht zu sagen ein handfester Zynismus. Denn wenn man die Erinnerung an die Opfer heran- zieht, um eine Politik zu unterstützen, die immer neue Opfer produziert (und dabei, wie gesagt, auch Menschenrechte verletzt), dann hat man nichts aus der Vergangenheit gelernt, auch nicht sehr viel wesentlich aufgearbeitet.

HINTERGRUND Wie schätzen Sie ein, dass Politiker wie US-Präsident Donald Trump und der ungarische Premierminister Viktor Orbán den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ignorieren? Auch der mögliche neue Bundeskanzler Friedrich Merz hat Netanjahu zugesagt, er würde bei einem Besuch in Deutschland nicht verhaftet.

ZUCKERMANN Dass Netanjahu sich mit einem ungarischen Politiker anfreundet, der erklärtermaßen ein Anhänger von Miklós Horthy ist, überrascht nicht allzusehr, wenn man bedenkt, wer schon alles während Netanjahus Regierungszeit einen Kranz in Yad Vashem niederlegen durfte. Dass Donald Trump, einer der größten Zyniker der gegenwärtigen Weltpolitik, sich als Israel-Freund gibt, ist eine optische Täuschung, der auch der israelische Premier erlegen ist. Trump interessiert sich weder für Israel noch für die Palästinenser; er geht das ihn nervende „leidige Problem“ des Nahostkonflikts wie ein Geschäftsmann beziehungsweise Immobilienhändler an. Ich bin nicht überzeugt davon, dass er wirklich begreift, worum es hier geht. Dass Netanjahu sich mit ihm (gegen die letzten beiden demokratischen US-Präsidenten) identifiziert, rührt von einem zynischen Kalkül her, das ihm aber bislang nicht aufgegangen ist. Und Friedrich Merz? Er sollte davon absehen, Netanjahu einzuladen.

Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 7/8 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

Prof. MOSHE ZUCKERMANN (Jahrgang 1949) wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. Im Westend-Verlag erschien zuletzt sein mit Moshe Zimmermann gemeinsam verfasstes Buch Denk ich an Deutschland … Ein Dialog in Israel (2023.)

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