Kriege

Ukraine: Waffenruhe im Donbass – Eskalation in Kiew

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von SEBASTIAN RANGE, 02. September 2015 –

Die unter Vermittlung der OSZE vergangene Woche ausgehandelte Waffenruhe verschafft der kriegsgebeutelten Bevölkerung in der Ostukraine vorerst eine Atempause. Sowohl die Regierung in Kiew als auch Vertreter der beiden „Volksrepubliken“ bestätigten die Einhaltung der am Dienstag formell in Kraft getretenen Waffenpause. Auch die OSZE konnte bislang keine „schweren Verstöße“ gegen die Vereinbarung feststellen. „Die letzten Tage haben gezeigt, dass beide Parteien, wenn sie es wollen, das Feuer einstellen können“, erklärte Alexander Hug von der OSZE-Beobachtermission der Deutschen Presse-Agentur. Experten hätten vereinzelt Schusswechsel von Waffen mit einem Kaliber von unter 100 Millimetern gehört. Die Mitte Februar im Rahmen des Zweiten Minsker Abkommens in Kraft getretene Waffenruhe war zuletzt nur noch Makulatur.

„Bereits den fünften Tag wird an der Front nicht aus Artillerie und Mörsern geschossen. Den fünften Tag sterben keine ukrainischen Soldaten mehr“, erklärte Präsident Poroschenko am Dienstag. Über die getöteten Zivilisten verlor der Staatschef jedoch kein Wort. Die Bewohner der „Volksrepubliken“ gelten der Kiewer Regierung ohnehin als feindliche Kraft, mit der kein ukrainischer Staat mehr zu machen ist. Mit dem in den vergangenen Wochen deutlich verstärkten wahllosen Beschuss von Wohngebieten hatte die ukrainische Armee diese Haltung erneut unter Beweis gestellt. (1) Angesichts der Rückverlegung schwerer Waffen an die Front durch die ukrainischen Truppen war die Befürchtung vor zwei Wochen noch groß, dass der Konflikt wieder zu einem offenen Krieg eskaliert und das Minsker-Abkommen endgültig scheitert.

Pünktlich zum Schulbeginn schweigen nun die Waffen – zumindest die großkalibrigen. Im Kriegsgebiet begann am Dienstag für mehr als 100 000 Kinder der Schulunterricht, auch wenn viele Schulgebäude durch den Beschuss der ukrainischen Armee nicht mehr nutzbar sind. Außenminister Frank-Walter Steinmeier ermahnte die Konfliktparteien zur Einhaltung der neuen Waffenruhe. „Eine erfolgreiche Waffenruhe und Fortschritte bei der Sicherheitslage sind der Schlüssel zur Lösung des Konflikts“, sagte Steinmeier am Mittwoch in Berlin. Der „spürbare Rückgang“ der Kämpfe müsse nun aber auch von Dauer sein. Der Minister warnte: „Es wäre nicht das erste Mal, dass das zarte Pflänzchen der Hoffnung schnell wieder von interessierter Seite zertreten würde.“

Ob mit der Rede von der „interessierten Seite“ (auch) die ukrainische Regierung gemeint ist, sei dahingestellt. Dass Kiew jedoch keine Anstrengungen unternimmt, das Minsker-Protokoll umzusetzen, ist offenkundig. Lässt sich der permanente Bruch der Waffenruhe auch beiden Seiten anlasten, so ist es die Regierung des Oligarchen Poroschenko, die sich weigert, wesentliche Punkte des Abkommens umzusetzen. Selbst gewohnt regimefreundlich berichtende Medien kommen nicht umhin, diese Tatsache anzuerkennen: „Im Minsker Abkommen hatte die Ukraine sich verpflichtet, die sozialwirtschaftlichen Verbindungen zu den Separatistengebieten inklusive Bankverkehr und Rentenzahlungen wiederherzustellen. Tatsächlich arbeitet dort keine einzige ukrainische Bankfiliale, Kiew hat alle Lkw-Transporte ins Rebellengebiet, auch den Busverkehr, gestoppt, das Reisen durch schikanös langsame Straßenkontrollen zusätzlich erschwert“, stellte die Frankfurter Rundschau vor Tagen fest. (2)

Seit Inkrafttreten der Minsker Abkommens hat Kiew die Wirtschaftsblockade gegenüber den „Volkrepubliken“ sogar noch verschärft. Auch Renten werden weiterhin nicht ausbezahlt. Mit der Konsequenz, dass nun der Rubel als offizielle Währung in den aufständischen Gebieten eingeführt wurde.

Verfassungsreform verursacht Regierungskrise

Auch in einem anderen wichtigen Punkt stellt sich Kiew quer: Der im Minsker Abkommen vereinbarte „Sonderstatus“ für die „Volksrepubliken“, der diesen größere Autonomie im Rahmen einer Selbstverwaltung gewähren soll. Zwar verabschiedete das Parlament in Kiew am Montag nach heftiger Debatte eine Verfassungsreform, die unter dem Schlagwort „Dezentralisierung“ auf verwaltungstechnischer Ebene einige Änderungen vorsieht, diese sind jedoch vor allem kosmetischer Natur – Kiew will den Schein bewahren, es setze das Minsker Abkommen um.

Anstelle von Gouverneuren sollen die Geschicke in den Oblasten Donezk und Lugansk künftig von Präfekten geleitet werden, die allerdings vom Präsidenten ernannt werden sollen. Eine Anerkennung der „Volksrepubliken“, die Gewährung einer Selbstverwaltung als Bedingung des Verbleibens der abtrünnigen Region im ukrainischen Staat, direkte Verhandlungen zwischen Kiew und den Vertretern der Aufständischen – von alldem will Poroschenko nichts wissen.

Vergangene Woche erklärte der Präsident erneut in aller Offenheit: „Es wird keinen Sonderstatus geben.“ Auch wenn der Staatschef bei jeder Gelegenheit betont, dass es weder einen Sonderstatus für das Konfliktgebiet geben werde, noch die Gesetzesreform einer Föderalisierung des Landes Vorschub leiste, wittern die ultranationalistischen Kräfte selbst in der kosmetischen Verfassungsreform  einen Verrat, und sehen darin einen Kotau vor dem Kreml.

Rund dreitausend Anhänger des Rechten Sektors, der faschistischen Swoboda und der Radikalen Partei ließen ihrem Zorn in gewohnter Gewalttätigkeit vor dem Parlament während der Abstimmung am Montag freien Lauf. Durch den Einsatz von Schusswaffen und einer Handgranate wurden drei Angehörige der Sicherheitskräfte getötet, über hundert verletzt. Inzwischen wurde ein Mann festgenommen, der den Sprengsatz geworfen haben soll. Bei dem Tatverdächtigen handelt es sich um den bekennenden Neonazi Igor Humenjuk, Mitglied der Swoboda und ihres paramilitärischen Arms „Sitsch“.

Poroschenko verurteilte die Ausschreitungen vor dem Parlament als „antiukrainische Aktion“ und sprach von einem „Stoß in den Rücken“. Ministerpräsident Arseni Jazenjuk bezeichnete die gewalttätigen Demonstranten als „Mob“. Sie seien schlimmer als die „russischen Gangster und Terroristen“ im Osten des Landes. (3) Inzwischen erklärte die Radikale Partei ihren Austritt aus der Regierung. Die Parlamentsfraktion mit ihren 21 Abgeordneten trete zur Opposition über, teilte Parteichef Oleg Ljaschko am Dienstag in Kiew mit. Die Partei gibt damit auch ihren einzigen Ministerposten im Kabinett auf. Unmittelbare Konsequenzen ergeben sich daraus nicht, denn die Rechtsextremisten waren ohnehin nicht als Mehrheitsbeschaffer von Poroschenko in die Regierung aufgenommen wurden.

Äußerst fraglich ist jedoch, ob die beschlossene Verfassungsreform überhaupt in Kraft treten wird. Denn dazu ist eine zweite Lesung im Parlament notwendig, bei der eine einfache Mehrheit nicht mehr ausreicht. Mindestens dreihundert Abgeordnete müssen dann zustimmen – bei der ersten Lesung am Montag waren es 265 Parlamentarier. Die Regierungskoalition aus dem Block von Präsident Poroschenko, Jazenjuks Volksfront, der Vereinigung Selbsthilfe (Samopomitsch) sowie der Vaterlandspartei der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko verfügt formal noch über rund 270 Abgeordnete. Allerdings stimmten die Vertreter der Vaterlandspartei sowie die Mehrheit der Samopomitsch-Abgeordneten gegen die Verfassungsreform. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Poroschenko die nötigen Stimmen für das Inkrafttreten der Gesetzesänderung zusammen bekommen wird. Damit wäre das Minsker Abkommen, zu dessen Umsetzung Kiew bis Ende des Jahres Zeit hat, hinfällig.

In gewisser Hinsicht mag das Poroschenko und Jazenjuk zu pass kommen. Sie könnte dann die ultranationalistischen Kräfte für das Scheitern des Minsker Abkommens verantwortlich machen, an dessen Umsetzung sie trotz aller Rhetorik von dessen Alternativlosigkeit kein ernsthaftes Interesse zeigen – wie die Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Hanna Hopko, vor Wochen deutlich machte. Ihr zufolge habe die Regierung das Abkommen allein aus militärtaktischem Kalkül unterzeichnet, um Zeit für eine Umgruppierung und Verstärkung der eigenen Truppen zu gewinnen. (4) Am Montagabend wurde die einstige Maidan-Aktivistin aus ihrer Partei, der Samopomitsch, ausgeschlossen – denn sie hatte zuvor für die Verfassungsreform gestimmt.


 

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mit dpa

(1) Siehe dazu: http://www.jungewelt.de/2015/08-31/015.php
http://www.jungewelt.de/2015/08-27/013.php
(2) http://www.fr-online.de/aktuelle-kommentare/ukraine-konflikt-tote-seelen-im-donbass,30085308,31638694.html
(3) http://www.kmu.gov.ua/control/en/publish/article?art_id=248445905&cat_id=244314971
(4) https://www.jungewelt.de/2015/08-18/045.php

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