Terrorismus

Der Doppelanschlag von Oslo: „Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode.“

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Von FREERK HUISKEN, 5. August 2011 –

Alle Medien sind sich ziemlich (1) einig: „Die Tat eines Irrsinnigen“, „Wahnsinn“, Psycho“ usw. Deswegen sei die Tat auch „nicht zu begreifen“, „nicht zu erklären“ und „nicht zu kommentieren“. Das mag als erste Reaktion verständlich sein. Immerhin stehen jedermann die Bilder von der Insel und der Innenstadt von Oslo vor Augen und hat jedermann die Zahl der Toten im Kopf. Doch es handelt sich bei diesen Verlautbarungen gar nicht um erste verstörte Reaktionen. Keiner der Schreiberlinge, die sich für unfähig erklären, angesichts der „Wahnsinnstat“ einen Kommentar abzugeben, legen Griffel oder Laptop weg, sondern legen los. Und wie. Der Befund „Wahnsinn“ oder „Irrsinn“ steht deshalb auch nicht für erste Sprachlosigkeit, sondern transportiert bereits knallharte Befunde: Die Attentate, so lauten sie, sind Ausgeburten eines kranken Gehirns, der Täter nicht bei Verstand (2), weswegen sich eine ernsthafte Befassung mit der Tat verbietet – als ob die im Interesse von Presse und TV liegen würde.

Dabei wird überall ausführlich aus dem 1.500 Seiten umfassenden Manifest des Attentäters zitiert und es werden Ausschnitte aus seiner Erklärung bei der ersten Anhörung vor Gericht vorgelegt, in denen er seine Motive klar und deutlich offenbart. Zusätzlich werden Hintergründe recherchiert, etwa über Norwegens Ausländerpolitik berichtet oder die rechtsextreme Szene in Skandinavien beleuchtet. Das scheint jedermann sofort zu wissen: Die Gedanken, die seine Motive ausmachen, hat er nicht erfunden; er weiß sich da einig mit rechten Gruppierungen, die Ähnliches denken wie er, und außerdem reagiert auf die norwegische Ausländerpolitik. Schließlich wird auf „verblüffende Parallelen“ zu ähnlichen Taten in den USA verwiesen. So habe auch der „Unabomber“ einen Hass auf alles Linke gehabt; so wie A. Breivik, der die „Kultusmarxisten und Multikulturalisten“ zu seinen Feinden erklärt hat. Den Attentäter von Oklahoma-City verbinde, heißt es, mit dem Täter aus Oslo der „rechtsextreme Hintergrund“. Beide hätten es zudem auf Zivilisten abgesehen und ihre Taten nicht bedauert. Und noch etwas wird festgehalten: Alle drei seien keine mulimischen Terroristen, keine Al-Quaeda-Jünger, keine Mitglieder einer Aun-Sekte, keine fanatischen afrikanischen Stammeskrieger, sondern Weiße und zwar zwei von ihnen gebildete Weiße mit literarischen Qualitäten, christlich geprägt und jeweils Bürger des Staates, in welchem sie ihren Massenmord verübten.

Alles zusammen ergibt ein recht deutliches Bild von dem Attentäter und den Gedanken, die er sich über Gott und Welt gemacht hat. Er selbst fasst seine Einstellung in einem im Internet publizierten Tagebuch zusammen, dem er ein Gebet anvertraut: „..ich habe Gott erklärt, dass er dafür sorgen muss, dass die Krieger, die für den Erhalt des Europäischen Christentums kämpfen, obsiegen müssen. Es sei denn, er wünscht, dass die Marxistisch-Islamische Allianz … das Europäische Christentum vernichtet. Er muss sicherstellen, dass ich Erfolg habe mit meiner Mission, und dazu beitragen, Tausende andere revolutionäre Konservative/Nationalisten, Anti-Kommunisten und Anti-Islamisten in der europäischen Welt zu inspirieren.“ (SZ, 25.7.11) Was ist daran Wahnsinn? Weder der Anti-Kommunismus, der – von den Nazis übernommen – die europäische Nachkriegszeit bis heute charakterisiert; noch der Anti-Islamismus, der – allerdings neueren Datums – in westlicher Innen-, Sicherheits- und Militärpolitik eine zentrale Rolle spielt. Auch die Konkurrenz zwischen den Religionen, bei der die christlichen Konfessionen gar nicht zimperlich mit „Ungläubigen“ und Heiden verfahren sind, kennt man. Nur die Sache mit der „Marxistisch-Islamische Allianz“ passt zunächst nicht in das Feindbild. Natürlich gibt es die nicht. Nirgendwo auf der Welt haben sich Marxisten, immerhin bekennende Atheisten, mit gläubigen Moslems zu einer „Allianz“ zusammengeschlossen.

Allerdings hat auch dies nichts mit krankhaftem Wahn eines Irren zu tun. Es handelt sich dabei um den geistigen Zusammenschluss von zwei Standpunkten, die sich der A. Breivik zurecht gelegt hat: Seine Feindschaftserklärung an den Islam schließt er mit dem Hass auf die regierenden norwegischen Sozialdemokraten deswegen zu dieser „Allianz“ zusammen, weil er die „Arbeiderpartiet“ mit ihrer Ausländerpolitik der Beihilfe bei der „Vernichtung des Europäischen Christentums“ bezichtigt. Die einen, die Moslems, haben seiner Konstruktion zufolge vor, das Christentum zu vernichten; die anderen, die regierenden Labors machen nur nichts dagegen, sondern lassen sie auch noch ins Land und leisten so einem islamischen Angriff auf das Christentum aus dessen Zentren heraus Vorschub. Die einen sind seine Erzfeinde, die anderen – weiße, christliche, norwegische Abendländler sozialdemokratischer Couleur (3) – stellen für ihn die Verräter des europäischen Christentums dar: „Wenn die Arbeiterpartei ihre ideologische Linie weiter verfolgt und die norwegische Kultur zerstört und Moslems massenhaft importiert, müsse sie für diesen Verrat auch die Verantwortung übernehmen.“ (aus der ersten Anhörung; in: WK, 26.7.11) Deswegen ist es für ihn auch kein Widerspruch, wenn er mit seinen Bomben nicht gegen Moslems zu Felde zieht, sondern Landsleute, Jugendliche zumal, Europäer und darunter sicher nicht wenige Christenmenschen tötet. Die haben, so sein Verdikt, ihre wahre christlich-europäische Pflicht verraten. Die einen als Regierende: dafür stand die Bombe im Zentrum Oslos. Die anderen als die Nachwuchskader der Arbeiterpartei: unter denen hat A. Breivik das Massaker auf der Ferieninsel angerichtet. Soweit sein Programm.

Und das ist beileibe keine politische Konstruktion eines wirren Psychopathen. Gerade hier in Deutschland hat dieselbe Konstruktion erst vor kurzem Furore gemacht. Ein Werk, in dem der Islam als Zerstörungspotential benannt und in dem deutsche Regierungen dafür als Verräter gebrandmarkt werden, dass sie mit Moslems nicht wie mit Teufeln, sondern nach den Regeln ihrer wenig gemütlichen Ausländerpolitik verfahren, hat wochenlang sogar die Bestsellerlisten seriöser Zeitschriften angeführt. Stimmt! Ich meine natürlich die Thesen des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin. (4) Und auch er steht mit dieser doppelten Feindschaftserklärung in Europa nicht allein. Skandinavische Rechtsparteien machen seit Jahren mit dieser Programmatik Stimmen und der Niederländer Geert Wilders hat es darüber zu einer Position gebracht, in der er Regierungspolitik mit bestimmen kann usw.

Alles Wahnsinn?! Irgendwie schon – nicht im Sinne eines Krankheitsbefundes, aber schon als Haufen absurder Verdrehungen über den Islam, über das Christentum und über europäische Einwanderungspolitik, in der die Verhältnisse auf dem imperialistisch beherrschten Globus auf dem Kopf stehen: Wer will eigentlich wen vernichten? Wenn man in die jüngere Geschichte zurückblickt, dann kommt man wohl um die Feststellung nicht herum, dass vom Westen aus und zwar im Namen des christlichen Gottes so etliche NATO-Freiheitsfeldzüge vor allem gegen Staaten geführt worden sind, in denen an Mohammed geglaubt wurde – und zwar mit einer asymmetrischen Vernichtungsqualität, von der ein A. Breivik nur träumen kann. Und wenn dann fanatisierte Anhänger dieses Glaubens mit Mitteln, die ungeachtet ihrer punktuellen Wirkung eben nur auf ihre Ohnmacht verweisen – sie haben keine Waffen, weswegen sie sich selbst als Waffen einsetzen müssen –, zurückschlagen, ist der ganzen westlichen Welt sofort klar, von wem da die terroristische Gefahr ausgeht. Und dann wird eine Sicherheitspolitik organisiert, mit der auch der letzte Bürger davon überzeugt wird, dass im muslimischen Glauben „die Gefahr“ lauert. Auch die Einwanderungs- und Ausländerpolitik nimmt eifrig daran Maß. Das produziert die nächste Gemeinheit: Wegen der „muslemischen Gefahr“ werden – nicht nur in Deutschland, Dänemark oder Holland (5) – strengere Gesetze aufgelegt und gerade den Muslimen die Alternative aufgemacht, entweder sich zu integrieren, d.h. ein 150-prozentiger Staatsbürger zu werden oder das Land zu verlassen.

Ein reinrassiges Staatsvolk will man wenigstens nach nationaler Gesinnung, Rechtstreue, Arbeits- und Sozialverhalten, wenn es schon national-demographisch und phänotypisch nicht zu haben ist.

All das wird als politische Position in europäischen Ländern nicht nur toleriert, sondern ist überall regierungsfähig. Und es fällt keinem der Kommentatoren ein, journalistisch auf die Barrikaden zu steigen und den Geisteszustand der europäischen Politikergarde anzuprangern. Warum eigentlich nicht? Und warum wird der bei A. Breivik bezweifelt? Nur weil die Damen und Herren in Regierung und Opposition weder höchstpersönlich solche Bomben basteln noch höchstpersönlich mit Schießeisen private Rachefeldzüge gegen Verräter durchführen? In der Tat: Den Schreiberlingen und Talkmastern gilt nämlich weniger der Fanatismus des Programms von A. Breivik als Wahnsinn; sondern vor allem, dass der sich unbefugt, also ohne politische Legitimation per demokratischer Wahl auf einen privaten Rachefeldzug begeben hat und dabei zum Massenmörder geworden ist. Denken darf jedermann diese Verdrehungen, sogar aufschreiben darf er sie. Dafür haben wir ja unsere Freiheiten. Und die sind eben auch dafür da, dass der Privatmensch seinen Anti-Islamismus und Anti-Kommunismus nur als Meinung im Kopf herum trägt, ansonsten aber seinen bürgerlichen Pflichten nachgeht: arbeitet, wählt, Familien gründet, sich also mit der Verfolgung seiner privaten Interessen in den Dienst des bürgerlichen Gemeinwesens stellt. Dann gilt so einer nicht als wahnsinnig. Für die Macher der Öffentlichkeit beginnt Wahnsinn erst dort, wo ein Privatmensch sein Leben diesem geistigen Gebäude vollständig unterordnet, es mitsamt seinem bisschen hierzulande erlaubten Materialismus ganz der fixen Idee opfert, den brutalen Standpunkt dann auch noch in die brutale Praxis umsetzt und sich als Rächer an der und gegen die herrschende Räson aufspielt. Das ist für sie das „Unbegreifliche“ der Taten von Oslo. (6)

Für Politiker, die Kriege gegen islamisch geführte Staaten anzetteln, die Europa mit der täglich neue Todesopfer produzierenden Schengenmauer vor unerwünschten Ausländern schützen und den Anhängern des in Terrorismusverdacht geratenen Glaubens in den europäischen Metropolen per Staatsgewalt – z.B. durch Bourka- bzw. Kopftuchverbot – die Schönheiten und Herrlichkeiten der europäische Kultur aufzwingen, gilt dieser Urteilsmaßstab nicht. Ihnen wird umgekehrt und sehr zu unrecht ständig vorgehalten, sie würden nur quasseln und zu wenig tun. Dabei lassen sie in Sachen Anti-Islamismus wirklich nichts anbrennen. Natürlich verfolgen sie mit der Feindschaftserklärung des A. Breivik nicht dessen Ziele. Eine Berufung auf den Erhalt der „christlich abendländisch-europäischen Werte“ steht bei ihnen für den Erhalt ganz anderer Verhältnisse: Dass muslimische oder auch andere „Schurkenstaaten“ notfalls mit militärischer Gewalt an der Verfolgung eigenständiger politischer Ziele gehindert werden, verdankt sich nicht einem Kultur- oder Glaubensfanatismus. Die Sicherung der politischen, ökonomischen und strategischen Benutzbarkeit solcher Länder für Souveränitätsausbau und Kapitalerfolge steht für ihren imperialistischen Fanatismus. Und für nicht anderes. Dabei bemüht nicht nur ein Bush jr. auch schon mal den Allerhöchsten als Kronzeugen und Schutzpatron. Dafür in Hinterhöfen aus Dünger Bomben zu basteln, haben sie wirklich nicht nötig. Diese und vieles andere liefert die internationale Rüstungsindustrie den Damen und Herren, die im freien Westen über die Staatsgewalt verfügen, zu freiem Gebrauch frei Haus. Welch Wahnsinn! (7)


Der Autor:

Freerk Huisken, Jahrgang 1941, Pädagogikstudium in Oldenburg, Tätigkeit als Lehrer bis 1967, dann zweites Studium Pädagogik, Politik und Psychologie in Erlangen-Nürnberg, 1971 Promotion. Seit 1971 Professur an der Universität Bremen: Politische Ökonomie des Ausbildungssektors. Seit März 2006 im Ruhestand.


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Anmerkungen zu Der Dopppelanschlag von Oslo: „Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode.“

(1)    Einzige mir bekannte Ausnahme stellt der Kommentar von Thomas Steinfeld in der SZ vom 25.7. dar.
(2)    Der Verteidiger von A. Breivik plädiert inzwischen auf „Unzurechnungsfähigkeit“, weil sein Mandant sich in einem Krieg wähnte, den es nirgendwo gibt. Stimmt: Das ist es gerade, was der Attentäter nicht ausgehalten hat. Deswegen hat er ihn begonnen.  
(3)    Dass er bürgerliche Sozis in Marxisten verwandelt, erklärt sich aus der Tour der politischen Rechtsextremen, jede Partei, die etwas weiter links von ihnen steht mit dem Etikett „Marxismus“ oder „Kommunismus“ zu verunglimpfen. Es muss jedoch mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass er die norwegische Arbeiterpartei zu unrecht beschimpft. Auch wenn man wenig über sie weiß, so weiß man doch mit Sicherheit, dass es sich bei ihr nicht um eine Organisation von Marxisten handelt.
(4)    Vgl. GegenRede
(5)    „Bei der Zuwanderungs- und Ausländerpolitik hat der sozialdemokratische Regierungschef (Norwegens) nach Meinung von Kritikern nach und nach immer mehr Positionen der rechtspopulistischen Fortschrittspartei übernommen, nachdem deren Chefin Siv Jensen in Umfragen zeitweise den Sprung über die 30 Prozent geschafft hatte.“ (Bild.de) Das fällt unter Ironie der Zeitgeschichte, dass die norwegische Arbeiterpartei wegen ihrer Ausländerpolitik zu einem Zeitpunkt Opfer eines wüsten Angriffs wird, wo sie sich – mit Sicherheit nicht in totaler Verleugnung eigener politischer Anliegen – der politischen Position des Attentäters nähert.
(6)    Deswegen interessieren sich Presseleute bei Demonstrationen auch weniger für ihr Anliegen, sondern fragen, ob von den Demonstranten Gewalt ausging.
(7)    Darunter fallen auch die Trauerveranstaltungen, die zu Orgien in Nationalismus ausgestaltet worden sind. Warum fällt es wohl den Veranstaltern ein, zum Höhepunkt der Trauerfeier die norwegische Nationalhymne zu intonieren? Ihre letzte Strophe lautet: Ja, wir lieben dieses Land, wie es aufsteigt, zerfurcht und wettergegerbt aus dem Wasser, mit den tausend Heimen. Und wie der Kampf unserer Väter erhob es von Not zu Sieg, auch wir, wenn es verlangt wird, für dessen Frieden Lager schlagen.

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