Terrorismus

Toulouse-Mordserie: Anwältin widerspricht offizieller Darstellung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 4. April 2012 –

Im Fall des mutmaßlichen Attentäters von Toulouse, dem 23-jährigen Mohamed Merah, der bei einem Polizeieinsatz mit zwanzig Kugeln getötet wurde, tauchen neue Zweifel an der offiziellen Darstellung auf.

Die Anwältin des in Algerien lebenden Vaters von Merah, Zahia Mokhtari, erklärte am Sonntag, ihr läge der Beweis vor, demzufolge Mohamed Merah vorsätzlich „liquidiert“ worden sei. Sie sei im Besitz zweier 20-minütiger Videos, die während der Belagerung der Wohnung des mutmaßlichen Attentäters durch die Polizei aufgenommen worden waren.  Auf diesen sei zu hören, wie Merah zu den Polizisten die Sätze äußerte, „warum tötet ihr mich“ und „ich bin unschuldig“.

Die Videos will sie von Personen aus dem „Zentrum des Ereignisses“ erhalten haben, die daran interessiert seien, dass die Wahrheit herauskommt. Sie behalte sich eine Weitergabe an die französische Justiz vor und zeigte sich überzeugt, dass Merah „von französischen Geheimdiensten manipuliert und benutzt und anschließend liquidiert wurde, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt.“ (1)

In starkem Kontrast dazu steht die Version der Polizei. Ihr zufolge habe Merah während der Belagerung die Morde an drei französischen Soldaten sowie drei Kindern und einem Lehrer einer jüdischen Schule gestanden. Auch seien die Verhandlungen der Polizei mit dem mutmaßlichen Serienmörder auf Video aufgezeichnet worden. Die Aufnahmen sollen laut Ankündigung der Polizei in die Ermittlungen eingehen.

Im Zusammenhang mit seinem Geständnis soll Merah auch behauptet haben, in einem Trainingslager in der nördlichen Region Pakistans (Waziristan) ausgebildet worden zu sein. Laut den Ermittlungen habe er aber nie ein Ausbildungscamp besucht, wie auch Präsident Sarkozy in jüngsten Äußerungen betonte.

Zwar habe Merah jeweils Afghanistan und Pakistan mit der Absicht bereist, sich dort ausbilden zu lassen, doch seien seine Versuche erfolglos gewesen. In Afghanistan sei Merah nur wenige Tage nach seiner Ankunft in US-Gefangenschaft geraten. Seine Reisetätigkeit entging auch den französischen Behörden nicht, die ihn nach seiner Rückkehr nach Frankreich zu seinem Auslandsaufenthalt befragten. Die USA setzte Merah auf eine Einreiseverbotsliste, der französische Inlandsgeheimdienst DCRI nahm sich des Franzosen mit algerischer Abstammung an.

Frankreichs Premierminister Francois Fillon attestierte dem DCRI, „perfekte Arbeit“ geleistet zu haben. „Sie haben ihn ausreichend überwacht, um zu sehen, dass es keine Anzeichen dafür gab, dass er ein gefährlicher Mann ist“, so der Premierminister. (2)

Der Geheimdienst war in die Kritik geraten, Anzeichen für Merahs Mord-Entschluss nicht rechtzeitig erkannt zu haben.

Auch eine andere angeblich gegenüber der Polizei gemachte Aussage des 23-jährigen hat sich als falsch erwiesen. Demnach habe er Videoaufnahmen seiner Taten ins Internet gestellt – Augenzeugen hatten zuvor berichtet, der maskierte Täter habe eine Kamera bei sich getragen. Ermittler konnten aber keine Spuren finden, die Merahs Behauptung erhärteten. Laut Aussage des Pariser Staatsanwalts Francois Molins sei aber in dessen Wohnung entsprechendes Videomaterial gefunden worden. So sei darin der Mord an einem Soldaten zu sehen, auf den zwei mal geschossen wurde. „Du tötest meine Brüder, ich töte dich“, soll Merah während der Ausführung seiner Tat gesagt haben. (3)

Nach wie vor ist unklar, wie die Aufnahmen in die Hände des Fernsehsenders al-Jazeera gelangen konnten, dem ein Datenträger mit Videoaufnahmen der Morde übersandt wurde. Laut Angaben der Pariser Polizei kann es nicht von Mohammed Merah verschickt worden sein. (4)

„Man kann die Stimme der Person hören, die diese Anschläge begangen hat. Man kann auch die Schreie der Opfer hören, aber die Stimmen wurden verzerrt,“ sagte der Pariser Büroleiter des Senders, Zied Tarrouche. (5)

In einem beigelegten Schreiben hieß es, die Morde seien im Namen von al-Qaeda verübt worden. Die in Katar ansässige Fernsehanstalt will das Video aus Respekt vor den Opfern nicht ausstrahlen.

Zweifel an offizieller Version

Auch aus den Reihen der Polizei wurden Zweifel an der Vorgehensweise bei der Erstürmung der Wohnung des mutmaßlichen Attentäters laut. Christian Prouteau, Gründer der Groupe d’Intervention de la Gendarmerie Nationale (GIGN), einer Spezialeinheit der französischen Gendarmerie mit dem Schwerpunkt der Terrorismusbekämpfung, fragte, warum die Eliteeinheit RAID nicht in der Lage war, einen einzelnen Mann lebend zu fassen. Nach Darstellung der Behörden sollte Merah lebend gefasst werden, um mehr über seine Motive und mögliche Komplizen zu erfahren. Insbesondere bemängelte Prouteau, dass der Versuch unterlassen wurde, Merah mittels Tränengas-Einsatzes zur Aufgabe zu zwingen. „Das hätte er keine fünf Minuten ausgehalten,“ so Prouteau. (6)

Der Einsatz von Gas werde von internationalen Konventionen verboten, hielt Innenminister Claude Guéant dagegen. (7) Eine äußerst fadenscheinige Begründung angesichts der Tatsache, dass Tränengas auch gegen Demonstranten eingesetzt wird.

Sollte Merah gar nicht lebend gefasst werden – womöglich um einen Geheimdiensthintergrund zu verschleiern? Schließlich hatte der frühere Chef der Spionageabwehr DST, Yves Bonnet, eine Spitzeltätigkeit des Mannes vermutet. Laut Bonnet sei Merah dem DCRI nicht nur als Islamist bekannt gewesen, sondern habe dort einen festen Ansprechpartner gehabt – was auf eine Informantentätigkeit des mutmaßlichen Attentäters schließen lassen würde. (8)

War Mohamed Merah der siebenfache Attentäter? Und wenn ja, handelte er allein? Sollten sich etwaige Geheimdienstverbindungen verdichten oder die von der Anwältin seines Vaters getätigten Äußerungen den Tatsachen entsprechen, dann gerieten die Behörden in mehr als nur Erklärungsnöte. Es ist daher fraglich, ob ein wirkliches Interesse an Aufklärung besteht, zumal es  „inakzeptabel“ sei, „die Effizienz der Polizei zu hinterfragen“, so Frankreichs Innenminister. (9)

Eines steht zumindest fest: Der Täter leistete Präsident Sarkozy bei seinen Ambitionen zur Wiederwahl – buchstäblich – Schützenhilfe. Dieser kann sich nun auf seinem Steckenpferd, dem Bereich der inneren Sicherheit, als starker Mann präsentieren und befindet sich dementsprechend bei den Wahlprognosen im Aufwind.


(1) http://www.sueddeutsche.de/panorama/familie-merah-erhebt-vorwuerfe-gegen-frankreich-warum-toetet-ihr-mich-1.1324829

(2) http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-17484121

(3) http://worldnews.msnbc.msn.com/_news/2012/03/22/10815563-graphic-video-may-help-answer-whether-french-gunman-mohamed-merah-worked-alone

(4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,824016,00.html

(5) http://www.taz.de/!90432/

(6) http://www.sudouest.fr/2012/03/23/mohamed-merah-il-fallait-le-bourrer-de-gaz-lacrymogene-critique-le-fondateur-du-gign-667514-5215.php

(7)
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-03/toulouse-kritik-polizeieinsatz

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(8) http://www.jungewelt.de/2012/03-28/053.php

(9) http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-03/toulouse-kritik-polizeieinsatz

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