Umwelt

Fukushima: Todeskandidaten und der Mut der Verzweiflung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 17. März 2011 –

Mit Hubschraubern, Wasserwerfern und Notstrom will Japan die dramatische Überhitzung der Reaktorblöcke in Fukushima stoppen. Über dem teilweise eingestürzten Atomkraftwerk schütteten Armee-Hubschrauber am Donnerstag Tonnen von Wasser auf den Reaktor 3. Erstmals wurden auch Wasserwerfer eingesetzt, um den Reaktor abzukühlen. So soll eine Kernschmelze verhindert werden. An Block 4 könnten die nächsten zwei Tage entscheidend sein.

Japanische Freiwillige wollen die Arbeiter im havarierten AKW unterstützen. Darunter sind Angestellte des Betreibers Tepco sowie anderer Firmen, wie der britische Sender BBC berichtete. Die letzten verbliebenen Arbeiter im Katastrophen-Atomkraftwerk Fukushima Eins sind nach Einschätzung des Präsidenten der Gesellschaft für Strahlenschutz „Todeskandidaten“. Die gewaltige radioaktive Strahlung sei für sie eine „Katastrophe“, die sie wohl früher sterben lasse, sagte Sebastian Pflugbeil der Nachrichtenagentur dpa am Donnerstag.

„Wenn es nötig ist, dass Leute gezielt in den Tod gehen, um die Bevölkerung vor schlimmen Schäden zu bewahren, dann ist das eine schlechte

Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz:  „Da wird keiner mehr aufs Dosimeter gucken. Die machen einfach ihre Arbeit und versuchen irgendwie noch, die Sache einzugrenzen oder zumindest zu verzögern.“

Technologie“, sagte er. In Bezug auf die Notfall-Kräfte am Unglücksort sagte Pflugbeil weiter: „Da wird keiner mehr aufs Dosimeter gucken. Die machen einfach ihre Arbeit und versuchen irgendwie noch, die Sache einzugrenzen oder zumindest zu verzögern.“

Der Einsatz wird seit dem heutigen Donnerstagmorgen auch aus der Luft geführt. Die dabei eingesetzten Hubschrauber können 7,5 Tonnen Wasser fassen. Doch das zielgenaue Treffen ist schwierig. Die Strahlung über dem Reaktor ist noch 40 Mal höher als am Boden. Die Helikopter durften daher nicht über dem Kraftwerk kreisen, sondern mussten in mindestens 90 Metern Höhe im Vorbeifliegen Wasser ablassen. Viermal in rund 20 Minuten ergoss sich ein Schwall über den Block 3, dessen Dach bei einer Explosion abgerissen worden war.

Hubschrauber-Piloten entdeckten, dass das Kühlbecken dieses Blockes noch weniger Wasser enthält als das im Nachbarreaktor 4. Auch das Dach des Reaktors 4 war nach einer Explosionen zerstört worden. Die Wasserstände in den Becken der Reaktoren 1 bis 4 genau zu kontrollieren ist nach diversen Wasserstoff-Explosionen und Bränden nicht mehr möglich.

Laut Gesetz dürfen japanische Soldaten einer Strahlenbelastung von höchstens 100 Millisievert pro Stunde ausgesetzt sein.  In Deutschland liegt der Grenzwert für zusätzliche radioaktive Strahlung bei 1 Millisievert pro Jahr.

Bereits am gestrigen Mittwoch wurde versucht, die Reaktoren aus der Luft zu kühlen. Der Versuch musste aber abgebrochen werden, da 250 Millisievert über dem Reaktor gemessen worden waren. Am Donnerstag sank die Belastung auf 87 Millisievert in einer Höhe von 90 Metern. Damit die Strahlenbelastung für die Einsatzkräfte nicht zu groß wird, dürfen die am Boden mit Bleiplatten verstärkten Hubschrauber maximal 40 Minuten im Einsatz sein.

In Bodennähe betrug die radioaktive Strahlung am Atomkraftwerk am Donnerstag nach Angaben von Verteidigungsminister Toshimi Kitazawa 4,13 Millisievert pro Stunde.

Nach dem Hubschrauber-Einsatz blieb die nukleare Verstrahlung aber unverändert hoch. Dies muss nach Einschätzung von Experten nicht zwangsläufig auf einen Misserfolg hinweisen. Denn es ist einkalkuliert, dass durch das Verdampfen von Wasser am stark erhitzten Druckbehälter zusätzlich radioaktive Partikel in die Luft gewirbelt werden.

Die Entwicklung in Reaktorblock 3 ist besonders brisant, da die dortigen Brennelemente  hochgiftiges Plutonium enthalten und teilweise frei liegen. Die wichtige innere Reaktorhülle des Blocks 3 sei möglicherweise beschädigt, hatte Regierungssprecher Yukio Edano am Mittwoch berichtet. Später hieß es, die Hülle sei intakt. Ein weiteres Beispiel für die widersprüchlichen Aussagen der Verantwortlichen.

Auch mit Wasserwerfern wird versucht, Reaktor 3 abzukühlen. Fünf Spezialfahrzeuge des japanischen Militärs haben den Reaktor mit rund 30 Tonnen Wasser bespritzt. Den Einsatz an der Reaktor-Ruine bewertete der Betreiber Tepco als Erfolg: Es sei Dampf aufgestiegen, folglich hätten die Wasserwerfer das Becken mit den Brennstäben getroffen, zitierte die Nachrichtenagentur Kyodo einen Tepco-Sprecher..

Bei den Wasserwerfern handelt es sich um Spezialfahrzeuge des Militärs, wie sie sonst etwa bei Flughafen-Bränden zum Einsatz kommen. Ihre Wasserkanonen können rund 80 Meter weit spritzen. Der Wasserwerfer-Einsatz wurde am Abend zunächst beendet und soll am Freitag fortgesetzt werden.

Zuvor gestartete Versuche, mittels Polizei-Wasserwerfern Reaktor 3 zu kühlen, mussten jedoch abgebrochen werden. Ihre Wasserkanonen waren unter den gegebenen Umständen nicht in der Lage, die Ruine zu erreichen.

„Am wichtigsten ist jetzt, große Wassermengen auf die Reaktorblöcke 3 und 4 zu schütten, vor allem um die Kühl-Becken zu füllen“, sagte Hidehiko Nishiyama, Sprecher der nationalen Agentur für Atomsicherheit der Agentur Kyodo.

Doch bei diesen Maßnahmen handelt es sich um den sprichwörtlichen Tropfen auf dem heißen Stein. Das Kühlbecken eines Reaktors fasst 2000 Tonnen, die insgesamt bislang relativ ungenau versprühten 60 Tonnen Wasser können der weiteren Erhitzung der Brennstäbe kaum etwas entgegensetzen. Vielmehr zeigen diese Maßnahmen, wie groß die Verzweiflung ist. Sie zielen wohl auch weniger darauf ab, den GAU ernsthaft abzuwenden, als gegenüber der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit zu simulieren und das Aufkommen einer Massenpanik zu verhindern. Die widersprüchlichen und lückenhaften Stellungnahmen der japanischen Behörden gerieten in den vergangenen Tagen immer wieder in die Kritik. Einige fühlten sich an die Informationspolitik der Sowjetunion nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl erinnert.  

Größere Aussicht auf Erfolg bei der Abwendung eines GAU bzw. Super-GAU als das Besprühen mit Wasser aus großer Höhe verspricht die Installierung einer Behelfs-Stromleitung. Erstmals seit dem Beben vom Freitag könnte das AKW heute wieder mit Strom versorgt werden. Damit soll die Kühltechnik in den Blöcken 1 und 2 wieder in Gang gebracht werden. Das Vorhaben verzögerte sich aber. An einer relativ wenig verstrahlten Stelle innerhalb des AKW-Gebäudes soll ein Stromgenerator aufgestellt werden. Wie Verteidigungsminister Kitazawa sagte, sind leistungsstarke Pumpen der US-Streitkräfte auf dem Weg nach Japan.

Allein, dass es fast eine Woche gedauert hat, einen Stromgenerator aufzustellen und eine Außenleitung zu verlegen, zeigt, dass die Lage von Anbeginn – entgegen dem Eindruck, den die japanischen Behörden öffentlich vermitteln wollten – völlig außer Kontrolle geraten war.

Regierungssprecher Yukio Edano sagte am Donnerstag, die Kühlversuche in den Reaktoren 5 und 6 hätten noch nicht begonnen. Es bleibe noch „etwas Zeit“, bis es dort gefährlich werden könnte. Wie die japanische Nachrichtenagentur Kyodo weiter mitteilte, sank der Wasserstand in Block 5, während der Druck stieg. Die Reaktoren 5 und 6 waren ebenso wie Reaktor 4 zum Zeitpunkt des Bebens aufgrund von Wartungsarbeiten nicht im Betrieb.

Ob das große Atom-Desaster noch verhindert werden kann, entscheidet sich nach Einschätzung der Gesellschaft für Strahlenschutz vermutlich bis Samstag. Wenn die Kühlversuche am havarierten Atomkraftwerk an Block 4 scheiterten, komme es zur Katastrophe. „Das wird sich wahrscheinlich morgen, spätestens übermorgen entscheiden, ob es noch gelingt, da irgendwas zu machen“, sagte Sebastian Pflugbeil der dpa.

Derweil verschärft sich die Situation der Flüchtlinge in Japan. In der Präfektur Fukushima verlassen immer mehr Menschen ihre Häuser und bringen sich in Sicherheit. Wie der Fernsehsender NHK berichtete, flohen weitere 28.000 Menschen vor der Gefahr radioaktiver Verstrahlung. Weiter im Nordosten kämpfen die Menschen unterdessen gegen bittere Kälte. Benzin und Nahrungsmittel werden nach der Erdbebenkatastrophe immer knapper. Für den Großraum Tokio warnte die Regierung vor einem Kollaps der Stromversorgung.

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International scheint es kaum Vertrauen in die Fähigkeit der japanischen Behörden und des AKW-Betreibers Tepco zu geben, die atomare Katastrophe noch abwenden zu können. Wegen der dramatischen Entwicklung im Atomkraftwerk Fukushima  hat Russland mehr als 50 seiner Staatsbürger aus Japan ausgeflogen. Weitere dürften folgen. Auch die USA haben begonnen, ihre Bürger auszufliegen. Zunächst werden Angehörige von Diplomaten sowie Kranke ausgeflogen, hieß es. Auch andere US-Bürger könnten sich melden, so das US-Außenministerium.

Mittlerweile haben auch fast alle deutschen Medienvertreter Tokio verlassen. Die letzten ARD-Mitarbeiter räumten heute ihre Büros in der japanischen Hauptstadt. Sie werden die Berichterstattung im südlicher gelegenen Osaka fortsetzen, hieß es vom verantwortlichen NDR am Donnerstag. Der NDR verwies auch auf den Rat der Deutschen Botschaft an alle Bundesbürger, den Großraum Tokio zu verlassen. Zuvor hatten bereits andere große deutsche Medien ihre Büros in Tokio geräumt, welches von radioaktiver Strahlung bedroht ist. Lediglich N24-Mitarbeiter Christoph Wanner berichtete weiterhin aus der japanischen Hauptstadt, wie eine Sprecherin des privaten Nachrichtenkanals bestätigte. Wanner beurteilte die Lage in Tokio selbst als „ruhig“ und habe sich daher selbst zum Bleiben entschlossen. Die Sprecherin wies auf Wanners Erfahrungsschatz in Sachen radioaktiver Strahlung hin. Der reguläre Moskau-Korrespondent habe schon mehrfach aus dem radioaktiv belasteten Tschernobyl berichtet und wisse genau, „wie man einen Geigerzähler bedient“. Es bleibt zu hoffen, dass die japanische Bevölkerung den alltäglichen Umgang mit einem Geigerzähler nicht erlernen muss.

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