Abkehr von Vorratsdatenspeicherung in EU gefordert

(09.07.2013/dpa)

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fordert eine Abkehr von der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in ganz Europa. Die Ressortchefin appellierte am Dienstag zum Start der Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof an die EU-Akteure, das Ergebnis des Verfahrens nicht erst abzuwarten, sondern den bisherigen „Irrweg“ gleich zu verlassen. „Es wird Zeit für eine neue europäische Richtlinie, die nicht mehr jeden EU-Bürger unter Generalverdacht stellt“, schrieb die Ministerin in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Weite Teile der Union – allen voran Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) – halten die Vorratsdatenspeicherung dagegen für unentbehrlich.

Seit einigen Jahren sind Telekommunikationsunternehmen in der EU verpflichtet, Verbindungsdaten ihrer Kunden auch ohne konkreten Anlass oder Verdacht bis zu zwei Jahre lang aufzubewahren, damit Fahnder darauf zugreifen können. Die Regelung ist in Europa aber hoch umstritten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg verhandelt nun über die Verhältnismäßigkeit des Instruments. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.

Das Gericht soll unter anderem klären, ob die Pflicht zur Aufbewahrung der Daten mit den Rechten auf Privatsphäre und freie Meinungsäußerung sowie dem Datenschutz vereinbar ist. Im konkreten Fall geht es um Klagen aus Irland und Österreich, die nationalen Gerichte baten den EuGH um Hilfe bei der Auslegung von EU-Recht. Die Entscheidung hat aber Bedeutung über die Einzelfälle hinaus.

In Deutschland gibt es derzeit keine gesetzliche Vorgabe zur Vorratsdatenspeicherung, weil sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition in der Frage uneins ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte die deutsche Regelung 2010 gekippt. Seitdem streiten Union und FDP über eine Neufassung.

Leutheusser-Schnarrenberger wehrt sich vehement dagegen, die EU-Richtlinie umzusetzen. Sie hält die Regelung für einen besonders schweren Eingriff in die Grundrechte. „Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung der EU gehört in die Geschichtsbücher und nicht in die nationalen Gesetze“, sagte sie der Welt.

Die Piratenpartei bezeichnete die Vorratsdatenspeicherung als „Dammbruch schlechthin zu einer vollprotokollierten Kommunikationsgesellschaft“. Die Grünen beklagten, das Instrument sei „nichts anderes als der Überwachungsstaat“. Beide verlangten ein klares Votum des Gerichtshofs gegen die Datenspeicherung.

Die Verhandlung in Luxemburg stehen unter dem Eindruck der Vorwürfe gegen den US-Geheimdienst NSA, massenhaft Mails, Telefonate und Internetkommunikation in Europa und Deutschland im Rahmen des als „PRISM“ bezeichneten Programms  zu überwachen. In der Union hatte es zuletzt einzelne Stimmen gegeben – allen voran von CSU-Chef Horst Seehofer -, die dafür warben, sich angesichts des Spähskandals von der bisherigen harten Linie zu verabschieden.

Bundesinnenminister Friedrich plädierte demgegenüber trotz des Datenskandals für ein Festhalten an der Vorratsdatenspeicherung. Zum Schutz der Bürger vor Terrorismus und Kriminalität müssten Verbindungsdaten eine Zeit lang gespeichert werden, sagte er der Bild-Zeitung. „Dabei muss der Schutz vor unberechtigtem Zugriff in die Privatsphäre stets gewährleistet bleiben.“

Wie der Minister den „Schutz vor unberechtigtem Zugriff“, etwa durch US-Geheimdienste, sicherstellen will, ließ er ebenso offen wie die Frage, wer die Bürger vor einem Staat schützt, der sie wie Terroristen und Kriminelle behandelt, indem er verdachtsunabhängig ihre Privatsphäre ausschnüffelt.

Gerade die (Nicht-)Reaktion der Bundesregierung auf den NSA-Skandal lässt an ihrem Willen zweifeln, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um den  grundgesetzlich gebotenen Schutz der Privatsphäre der Bürger zu verwirklichen. Einer eigenen Untersuchung der vom Whistleblower Edward Snowden erhobenen Vorwürfe hat die Bundesregierung bereits eine Absage erteilt. Stattdessen will sie sich von den US-Amerikanern darüber aufklären lassen, was es mit dem NSA-Spionage-Programm auf sich hat. (1)

Die Bundesregierung bleibe seit Wochen die  Antwort schuldig, „welche konkreten Folgen die Erkenntnisse und die daraus folgende Empörung denn nun haben sollen“, kommentiert die Sächsische Zeitung die Haltung der Merkel-Regierung. Anfängliche Signale der Entschlossenheit seien „in einer weichen Wolke der Konsequenzlosigkeit“ verpufft.

Unterdessen trat der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Hans-Georg Wieck, die Flucht nach vorne an und plädierte für eine Ausweitung der technischen Aufklärung bei den deutschen Diensten. „Wegen des aufgekommenen Misstrauens zwischen Deutschland und Amerika müssen wir uns darauf einstellen, künftig mehr Daten selber zu sammeln“, sagte Wieck der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Die Bereitschaft der USA, uns alles zu sagen, wird sinken.“

Damit gesteht Wieck indirekt ein, dass die USA Daten mit den deutschen Diensten teilten, die im Rahmen des PRISM-Programms gesammelt wurden.

Dennoch schloss der ehemalige Geheimdienstchef einen Datenmissbrauch durch den BND aus. „Wir haben in Deutschland eine ganz andere politische Kultur als etwa in den USA oder auch in Frankreich“, glaubt der 85-Jährige, der von 1985 bis 1990 BND-Präsident war.

Die Bundesregierung streitet bislang jedwede Mitwisser- und Mittäterschaft deutscher Dienste an dem NSA-Spionageprogramm ab.


Anmerkungen
(1) Siehe: http://www.hintergrund.de/201307042661/politik/inland/aufklaerung-unerwuenscht.html

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