Beruhigungspille für die Bürger: Verlängerung von Atomlaufzeiten vorerst ausgesetzt

(14.03.2011/dpa)

Nach wenigen Monaten hat Kanzlerin Merkel die längeren Atomlaufzeiten auf Eis gelegt – für drei Monate. Bis dahin bestimmen die Termine für wichtige Landtags- und Bürgerschaftswahlen (Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Bremen) politische Entscheidungen von CDU und FDP.

Nach der Atomkatastrophe in Japan, so Merkel, soll die Sicherheit der Meiler genau gecheckt werden – offensichtlich hatte man das vor dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung versäumt. Zwei Meiler sollen sogar bald vom Netz genommen werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zieht damit Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Japan. Alte Meiler, die nur wegen der längeren Laufzeiten noch am Netz sind, sollen abgeschaltet werden. Dies betrifft das Kraftwerk Biblis A in Hessen und das AKW Neckarwestheim I in Baden-Württemberg. Im Südwesten wird am 27. März ein neuer Landtag gewählt.

„Sicherheit steht über allem“, sagte Merkel. „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ Solche Erdbeben und Flutwellen wie in Japan seien in Deutschland zwar nicht wahrscheinlich. Dennoch zeigten die Ereignisse in Japan, dass für unmöglich gehaltene Risiken eintreten könnten. Deshalb würden alle Meiler im Lichte der Erkenntnisse aus Japan geprüft. „Es gibt bei dieser Sicherheitsprüfung keine Tabus.“ Dabei gehe es zum Beispiel um die Kühlsysteme. Erst dann folgten Entscheidungen.

Merkel will an diesem Dienstag mit den Ministerpräsidenten der Länder sprechen, in denen Atommeiler stehen. Über die Pläne für die Abschaltung älterer Anlagen will sie erst mit den Energiekonzernen Gespräche führen. Für die Aussetzung der Laufzeitverlängerung ist nach ihrer Ansicht keine Gesetzesänderung nötig.

Die Koalition will noch nicht auf die Atomkraft verzichten. Merkel sprach weiter von einer Brücke hin zu Öko-Energien. Im Herbst hatte Schwarz-Gelb eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke von durchschnittlich 12 Jahren beschlossen. Die 7 Meiler, die bis 1980 ans Netz gegangen waren, dürfen demnach 8 Jahre länger laufen, die jüngeren 14 Jahre. Die Regierung steht unter Zeitdruck. Am 20. März wird in Sachsen-Anhalt und am 27. März neben Baden-Württemberg auch in Rheinland-Pfalz ein neuer Landtag gewählt.

Die baden-württembergische Regierung rechnet damit, dass das zweitälteste deutsche Atomkraftwerk Neckarwestheim I bald vom Netz geht. Fachleute wollten am Montag mit einem Sicherheitscheck der Meiler in dem Land beginnen. Hessens Umweltministerin Lucia Puttrich (CDU) kündigte an, dass Biblis A Ende Mai für zunächst einmal acht Monate vom Netz gehe. Geplant seien Revisionsarbeiten. Biblis B stehe derzeit ohnehin planmäßig still.

Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), der sich im Herbst innerhalb der Koalition für kürzere Restlaufzeiten eingesetzt hatte, sagte: „Je länger Kernkraftwerke laufen, desto länger begleitet uns Restrisiko. Und wir müssen auch über Risiken neu reden, neue Annahmen treffen.“

Westerwelle sieht in dem Moratorium keine Vertagung. Er kündigte an, dass unabhängige Experten eine neue Risikoanalyse erstellten. Der Ausstieg aus der Atomenergie in Richtung erneuerbarer Energien müsse beschleunigt werden.

Nordrhein-Westfalen möchte über den Bundesrat einen Ausstieg aus der Atomenergie einleiten. Die rot-grüne Landesregierung will die Novelle zur Verlängerung der Laufzeiten nicht nur aussetzen, sondern komplett kippen. Die Grünen-Bundestagsfraktion kündigte einen Gesetzentwurf zur Stilllegung der sieben ältesten Atomkraftwerke in Deutschland an. Zudem solle das AKW Krümmel stillgelegt werden, sagte Fraktionschef Jürgen Trittinin Berlin. Mit dem Gesetz wolle die Partei auch die Atomlaufzeitverlängerung rückgängig machen.

Umwelt- und Anti-Atom-Verbände riefen zu weiteren Protesten gegen die Atomkraft auf. Nach Mahnwachen am Montagabend soll es am Samstag, 26. März, in mehreren Großstädten Großdemonstrationen geben, berichteten die Initiativen ausgestrahlt, BUND, und Campact. In Hunderten Städten hatten Initiativen für Montag zu Anti-Atom-Protesten aufgerufen.

Die SPD-Spitze bekräftigte ihre Forderung nach einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte mehr konkrete Schritte für die Sicherheit der Kraftwerke. Grünen-Chefin Claudia Roth sagte dem Bayerischen Rundfunk: „Kein Reaktor ist sicher bei Kernschmelze, auch kein deutscher Reaktor ist sicher.“ Die energiepolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Dorothée Menzner, nannte eine Aussetzung der Laufzeitverlängerung ohne Abschaltung weiße Salbe. Greenpeace-Atomexperte Tobias Riedl kritisierte die Aussetzung der als „Beruhigungspille für den Bürger“.

Auch Henrik Paulitz, Atomenergieexperte der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, kritisiert das dreimonatige Atom-Moratorium:

1. Umfangreiche periodische Sicherheitsüberprüfungen (PSÜs) werden auf der Grundlage des Atomgesetzes seit vielen Jahren für alle deutschen Atomkraftwerke durchgeführt. Für alle Reaktortypen liegen umfangreiche gutachterliche Stellungnahmen zum Sicherheitsstandard der Gesamtanlagen wie auch zu spezifischen Schwachstellen vor.

2. Alle deutschen Reaktortypen weisen zahlreiche gravierende Sicherheitsdefizite auf. Auch die zuletzt in Deutschland errichteten Konvoianlagen haben gefährliche Sicherheitslücken bei der Störfallbeherrschung, bei den Notfallmaßnahmen wie auch hinsichtlich der Kernschmelzfestigkeit. Ein Blick in die “Nachrüstliste” der deutschen Atombehörden vom September 2010 zeigt für Teilbereiche, wo es in deutschen Atomkraftwerken überall klemmt.

3. Die deutschen Atomkraftwerke entsprechen nicht dem atom- und verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Stand von Wissenschaft und Technik. Das ist der Bundesregierung bekannt und es muss ihr insofern auch klar sein, dass der Betrieb der Atomkraftwerke in Deutschland rechtswidrig ist.

4. Mit Neckarwestheim-1 in Baden-Württemberg und Biblis A in Hessen möchte die Bundesregierung jetzt möglicherweise zwei Atomkraftwerke ausgerechnet in den Bundesländern vorübergehend vom Netz nehmen, in denen eine Landtagswahl bzw. Kommunalwahlen stattfinden. In beiden Fällen handelt es sich um Atomkraftwerke der zweiten Druckwasserreaktor-Generation. Zu diesem Reaktortyp gehören aber auch die Anlagen Biblis B und Unterweser in Niedersachsen. In Niedersachsen wird derzeit aber nicht gewählt. Daher scheint das Atomkraftwerk Unterweser sicherer zu sein als Neckarwestheim-1. Eine solche an Wahlterminen orientierte Sicherheitsphilosophie ist selbstverständlich rechtswidrig.

5. Die Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 (Isar-1, Phillippsburg-1, Brunsbüttel, Krümmel) zählen zweifellos zu den gefährlichsten deutschen Atomkraftwerken. Warum werden diese nicht stillgelegt? Auch in Bayern wird derzeit nicht gewählt. Ist der bayerische Siedewasserreaktor Isar-1 deswegen in den Augen der Bundesregierung besonders sicher?

6. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, die Lage nach dem Moratorium werde eine andere sein als vor dem Moratorium. Ist das so zu verstehen, dass Biblis A und Neckarwestheim-1 für die Bundesregierung und die Atomindustrie jetzt die Bauernopfer sind, um Wahlen nicht zu verlieren und ansonsten so weitermachen zu können wie bisher?

7. Wie glaubwürdig ist das Bekenntnis zu den erneuerbaren Energien, wenn das Erneuerbare-Energien-Gesetz beständig und systematisch ausgehöhlt wird und die vorrangige Einspeisung der Erneuerbaren beseitigt werden soll? Die Bundesregierung hat dem dezentralen Ausbau der erneuerbaren Energien den Kampf angesagt und es ist bislang nicht erkennbar, dass sich an diesem verantwortungslosen Kurs irgendetwas geändert hätte.

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