Geschichtsklitterung

Die Gunst der Gedenkstunde

Zeitenwende auch in der Vergangenheitspolitik: Memorial-Gründerin Irina Scherbakowa hielt zum Holocaust-Gedenktag Gericht über die Befreier vom Nazi-Terror – und bei dieser Gelegenheit auch ein Plädoyer für den totalen Krieg gegen Russland.

Irina Scherbakowas steile Thesen: Statt Gedenken der Opfer des NAZI-Regimes eine Tour de Force durch die Geschichte Russlands.
Foto: Heinrich-Böll-Stiftung, Lizenz: CC BY-SA 2.0, Mehr Infos

Die trauernde Erinnerung an die Opfer des Hitlerfaschismus wird in diesem Jahr als Ideologiegeschütz gegen Russland in Stellung gebracht. Das war zu erwarten. Vertreter des historischen Nachfolgers der Sowjetunion werden in Deutschland seit Beginn der Ukraine-Krise 2014 sukzessive aus der Gedenkkultur ausgegrenzt. Rabiat geschieht das, seit die NATO sich in einem Stellvertreterkrieg gegen den neuen-alten Todfeind befindet. 2022 hat der rot-rot-grüne Senat der Bundeshauptstadt sogar für den Tag des Sieges an den Ehrenmalen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten das Zeigen von Fahnen und Symbolen der Befreier von der Naziherrschaft verboten.1

Es wird auch immer deutlicher, dass im Täterland ein seit 1945 einzigartiger Prozess des Geschichtsrevisionismus in Gange ist. Für die Durchsetzung sind vorwiegend Stiftungen und Wissenschaftsinstitutionen zuständig. Von denen wollten zumindest einige am 78. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee offenbar vor allem eines nicht: über die Verbrechen Nazideutschlands reden. Dafür luden die Goethe-Universität in Frankfurt und das ihr seit dem Jahr 2000 eingegliederte Fritz Bauer Institut die derzeit prominenteste Expertin der „Menschenfresser-Zeit“ in der Sowjetunion unter Stalin ein: Irina Scherbakowa.1

Die in Deutschland lebende Kulturwissenschaftlerin ist Gründerin der Ende 2021 in ihrem Land aufgelösten, aber international weiterhin aktiven Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Memorial wurde während des Zusammenbruchs des Realsozialismus in Moskau gegründet und wird vorwiegend von westlichen Botschaften und Regime-Change-Stiftungen, aber auch von prowestlichen Oligarchen aus Russland, wie Boris Zimin, gefördert.3

Entsprechend überraschte es auch nicht, dass Scherbakowa am Freitag in ihrem fast zweistündigen Vortrag inklusive Fragerunde die gängigen Narrative des Wertewestens über Russland reproduzierte: Sie prangerte „koloniale Ansprüche“ und die Verbreitung „nationalistischer Mythen“ an. Ebenso skandalisierte sie die Einschränkungen von Grund- und Bürgerrechten und andere Rechtstendenzen „nach der gefährlichen Wende“ unter Putin. Zu den kriminellen Verwerfungen von dessen durch und durch korruptem Vorgänger und NATO-Vasallen, Boris Jelzin, hatte sie erwartungsgemäß nichts zu sagen.

Vergangenheitspolitisch mehr als grenzwertig und obskur sind die Parallelen, die Scherbakowa meint, zwischen der UdSSR und Hitlerdeutschland ziehen zu sollen. Beispielsweise stellte sie fragwürdige Beziehungen mit Zahlen aus den „massiven Terror-Kampagnen“ in der Sowjetzeit von 1918 bis zu Stalins Tod 1953 her: „Mehr als sechseinhalb Millionen“ seien „in arbeitslagerähnlichen Siedlungen“ und „über sechs Millionen Bauern, vor allem ukrainische, in Folge des künstlichen Hungers im Jahre 1932/33“ umgekommen, deutete Scherbakowa nur an, was sie wohl nicht offen aussprechen wollte: Russland unter kommunistischer Herrschaft hatte doppelt so viel Menschen auf dem Gewissen wie Deutschland unter faschistischer. Eine Rechnung, die besonders die Abgeordneten begeistern dürfte, die vergangenen November im Bundestag die Einordnung der von ukrainischen Nationalisten wohlweislich „Holodomor“ genannten Hungerskatastrophe als „Völkermord“ durchgedrückt hatten. Außenministerin Annalena Baerbock hatte sie vorsorglich schon kurz vor der Eskalation des Ukraine-Kriegs als „Menschheitsverbrechen“ bezeichnet und damit auf eine Stufe mit dem Massenmord gestellt, der planmäßig in Todesfabriken durchgeführt worden war4 – eine Relativierung der NS-Gräuel, wie sie der Historiker Stéphane Courtois betreibt, der in den 1990er-Jahren den „Roten Holocaust“ ersonnen hatte.

Scherbakowas Tour de Force durch die Geschichte Russlands kulminierte schließlich in einer steilen und zunehmend beliebten These, die allen deutschen Revanchisten runtergeht wie Öl: Der „stalinistische Terrorstaat“ findet – nach einem kurzen Frühling der Perestroika und einem eine Dekade langen Sommer der „Reformen“ und „Demokratisierung“, wie sie die Zeit der Plünderungszüge marktradikaler Mafiabanden bezeichnet – seine Fortsetzung in der „Diktatur“ von Putin. Und dass es in einem Land, das durch den Überfall Nazideutschlands 27 Millionen Menschen verloren hat, der Vergleich zwischen den Regimes von Hitler und Stalin geächtet ist, findet Scherbakowa einfach empörend. Denn der Putinismus sei eine „Mischung“ aus Faschismus und Stalinismus, präsentierte die Referentin eine postmoderne Variante der Totalitarismustheorie.

Mit dem „bösen Unberechenbaren“, das so schlimm ist wie Hitler und Stalin zusammen, kann man freilich nicht verhandeln, erst recht kein Waffenstillstandsabkommen schließen, kam Scherbakowa schließlich zu ihrem eigentlichen Anliegen. Nicht zufällig gehört sie zu den von den deutschen Medien derzeit meistzitierten Kronzeugen gegen den Kreml. „Der Krieg wird nur enden mit einer deutlichen militärischen Niederlage Russlands“, sagte sie vor einigen Tagen und verlangte von Deutschland mehr Waffen für die Ukraine. Die russische Regierung verstehe „nur die militärische Sprache“.5 Die Gunst der Holocaust-Gedenkstunde nutzend, tadelte sie gestern auch alle Kriegsgegner, die sich noch dem Schwur von Buchenwald verpflichtet fühlen. Das Festhalten an der Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“ sei nichts anderes als „Selbsttäuschung“. Folglich plädierte Scherbakowa für die Aufgabe der letzten deutschen Zurückhaltung: Die Ukraine müsse jetzt „mit allen möglichen Mitteln unterstützt werden“, forderte sie. „Möglich“ ist sehr viel: Aus den deutschen Kampfpanzern, die bald in Richtung Ukraine rollen, könnten wie damals deutsche Soldaten steigen – im Donbass, vielleicht sogar auf der Krim.

„Wie kontextualisieren Sie Ihren Vortrag in Bezug auf den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus?“, lautete am Ende der Veranstaltung die einzige kritische Frage, die eine Zuschauerin, die offenbar das Gefühl hatte, im „falschen Film“ zu sein, im Livestream-Chat stellte. Scherbakowa ist nicht mehr darauf eingegangen. Aber sie hatte die Antwort schon längst in ihrem Vortrag gegeben, indem sie einfach die revisionistischen Ansätze der Bonner Republik konsequent für die sich ihrer imperialen Macht bewussten Berliner Republik weitergedacht hat. Wurden die einst von Wehrmacht und SS als „slawische Untermenschen“ abgeschlachteten Russen in der westdeutschen Geschichtsschreibung als vernachlässigungswürdige Größe gehandelt – heute müssen deren Kinder und Enkel das Alibi für die von oben verordnete vergangenheitspolitische Zeitenwende liefern, die die außenpolitische moralisch legitimieren soll. Das heißt nichts anderes als die ideologische Verkehrung der kategorischen Imperative nach Auschwitz. Und es führt unwiderruflich zum Bruch mit dem obersten Prinzip aufrichtiger Sühne, das Fritz Bauer – dessen Vermächtnis nun ausgerechnet von der Institution beschädigt wurde, die seinem Namen trägt –, 1962, kurz vor Beginn der Auschwitzprozesse in Frankfurt, formuliert hatte: „,Bewältigung unserer Vergangenheit‘ heißt Gerichtstag halten über uns selbst.“

 

Quellen

1 www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-polizei-verbietet-auch-sowjetfahnen-am-8-und-9-mai-8020318.html

2 www.youtube.com/watch?v=zUCa6JJnkoc

3 www.hintergrund.de/politik/welt/hauptsache-schmerzen-fuer-putin/

4 www.tagesschau.de/ausland/europa/baerbock-ukraine-113.html

5 www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-montag-227.html

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