Hamburger Piraten-Prozess wirft ein Schlaglicht auf Somalia

(22.11.2010/dpa)

Zum ersten Mal sind mutmaßliche Piraten aus Somalia vor einem deutschen Gericht angeklagt. Die zehn Männer kommen aus einer vom Bürgerkrieg zerfressenen Welt. Der Prozessauftakt am Montag wirft ein Schlaglicht auf Somalia.

Herkunft: Somalia. Alter: nicht genau bekannt. Vorwurf: Piraterie. Zehn Männer sitzen im Hamburger Landgericht auf der Anklagebank, tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt, keiner von ihnen spricht Deutsch. Zum ersten Mal sind in Deutschland mutmaßliche Piraten aus Somalia angeklagt, es ist der erste Seeräuber-Prozess seit mehreren Jahrhunderten in der Hansestadt. Das Verfahren, das am Montag begonnen hat, richtet auch den Blick auf das bürgerkriegsgeplagte Somalia, das nach ganz anderen Regeln funktioniert als Europa.

„Ich bin unter einem Baum geboren“, sagt einer von ihnen, als der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz eingangs die Personalien mit den Akten vergleicht. Ein anderer ist in der Regenzeit auf die Welt gekommen. „Ich bin jetzt 24 Jahre alt, das weiß ich“, sagt er, immer übersetzt von einem der drei Dolmetscher. Sein genaues Geburtsdatum kennt angeblich kaum einer der Angeklagten, Dokumente aus dem chaotischen Land gibt es nur wenige.

Die Angeklagten sitzen im bis auf den letzten Sitzplatz gefüllten Verhandlungssaal, die Gesichter den Richtern der Strafkammer zugewandt, mit dem Rücken zum Publikum. Die meisten tragen Trainingsjacken oder Sweatshirts.

Angeklagt sind sie des Angriffs auf den Seeverkehr und des erpresserischen Menschenraubs. Bis an die Zähne bewaffnet – mit vollautomatischen Sturmgewehren, Pistolen, Panzerabwehrwaffen und Messern – sollen sie am Ostermontag das Hamburger Frachtschiff „Taipan“ überfallen haben. Rund 530 Seemeilen vor der Küste Somalias enterten sie demnach das Schiff und hatten es knapp vier Stunden lang in ihrer Gewalt, bis ein niederländisches Marinekommando die zehn Piraten überwältigte. Die Besatzung verschanzte sich in einem besonders gesicherten Raum, es wurde niemand verletzt.

Sieben der Angeklagten sind erwachsen, zwei gelten als Heranwachsende und einer ist ein Jugendlicher – oder sogar noch ein Kind? Hier ist die Altersfrage entscheidend, um sie dreht sich das meiste am ersten Prozesstag.

Der Junge ist schmal, trägt einen weißen Kapuzenpulli, er weint und zittert. Ist er 15 Jahre oder älter, wie es ein Gutachten ergibt? 18 Jahre oder älter, wie ein zweites Gutachten nahelegt? Oder erst 13, wie es aus einer Geburtsurkunde hervorgeht? Dann wäre er nach deutschem Recht nicht strafmündig. „Ein Kind hat hier nicht vor Gericht zu stehen, wenn die Altersangabe 13 richtig ist“, sagt Richter Steinmetz.

Der Anwalt des Jungen, Thomas Jung, zieht die wissenschaftliche Aussagekraft der Gutachten in Zweifel und kritisiert das Vorgehen der Ärzte, welche die deutsche Expertise angefertigt haben, scharf. „Die Gutachter sind mit dem Angeklagten wie mit einem Stück Fleisch umgegangen.“ Sie hätten nicht einmal einen Dolmetscher hinzugezogen. Jung beantragt, das Verfahren gegen den Jungen einzustellen. Außerdem verlangt seine Verteidigerin, Nicola Toillie, die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen. Die Ängste des Jungen, der seit sieben Monaten in Haft sitzt, würden durch das große Medieninteresse nur verstärkt. Einige Verteidiger der Heranwachsenden schließen sich der Forderung an. Das Gericht will darüber zügig entscheiden.

Die 20 Verteidiger und einige Initiativen, die teilweise vor dem Landgericht Stellung bezogen haben, nutzen den Prozess, um auf die Situation in Somalia aufmerksam zu machen. Ein gescheiterter Staat, seit Jahren vom Bürgerkrieg zerfressen, weitgehend ohne medizinische Versorgung, ausgebeutet von Raubfischerei, vom Westen als Giftmülldeponie genutzt – dieses Bild entwerfen die Anwälte in einer Stellungnahme. Es müsse beleuchtet werden, welche Auswirkungen diese Lebensbedingungen auf die Angeklagten gehabt hätten, verlangen sie.

Den erwachsenen mutmaßlichen Piraten droht im Falle einer Verurteilung eine Höchststrafe von 15 Jahren, den Heranwachsenden eine von 10 Jahren. Die Verteidiger geben jetzt schon zu bedenken: „Eine Resozialisierung der Angeklagten in der Bundesrepublik Deutschland dürfte nicht erwünscht sein; eine Resozialisierung der Angeklagten für ihr Heimatland ist nicht möglich.“

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