Öffentlicher Appell an die deutsche Bundesregierung sowie die Institutionen des Europarates, der OSZE und der NATO

(26.07.2016/hg)

IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms) hat eine Stellungnahme zur Verhängung des Ausnahmezustandes in der Türkei abgegeben, die unter anderem an sämtliche Mitglieder des Bundestages versandt werden wird.  

Als das türkische Verfassungsgericht Ende Februar 2016 die angeordnete Untersuchungshaft gegen zwei Journalisten aufhob, die die Unterstützung militanter Islamisten in Syrien durch türkische Stellen aufgedeckt hatten, drohte der türkische Präsident Erdogan den Richtern: „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht.“ (1) Dieser Drohung hat er jetzt Taten folgen lassen.

Als Vorwand dafür hat er den am 15. Juli d. J. gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs genutzt. Seit der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 sind anhand von offenkundig lange vorbereiteten Listen fast 3 000 RichterInnen und StaatsanwältInnen durch die Exekutive ihres Amtes enthoben und ein Großteil von ihnen verhaftet worden. Die Suspendierungen und Repressionen sind auf Tausende von Journalisten, Lehrern, Professoren, Rechtsanwälten und Angehörigen von Bildungseinrichtungen ausgedehnt worden. Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsender sind geschlossen oder gleichgeschaltet worden. Unter Berufung auf die türkische Verfassung und Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die türkische Regierung zudem jetzt den „Ausnahmezustand“ verhängt, um sich lästiger rechtstaatlicher Fesseln zu entledigen.

Die NATO schweigt bisher zu diesen Vorgängen. Dabei sind alle NATO-Mitgliedsstaaten verpflichtet, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“ (Satz 2 der Präambel des NATO-Vertrages).

Wir stellen fest, dass das Vorgehen von Präsident Erdogan und seiner Regierung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen unvereinbar ist, die die Türkei jedenfalls durch den Beitritt zum Europarat und durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingegangen ist. Die mit einer Verhängung des Ausnahmezustandes verbundene „Aussetzung“ grundrechtlicher Garantien der EMRK käme nach Art. 15 EMRK allein dann in Betracht, wenn „das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht ist“. Diese Voraussetzung ist in der Türkei heute schon deshalb nicht gegeben, weil der versuchte Militärputsch bereits am 16. Juli d. J. niedergeschlagen und gescheitert war, also jedenfalls seitdem schon aus diesem Grunde nicht mehr als Rechtfertigung für die Verhängung des Ausnahmezustandes herangezogen werden darf. Die Türkei hat keinerlei Recht, die EMRK und die Unabhängigkeit der Justiz nach eigenem Belieben einzuschränken.

Es darf nicht hingenommen werden, dass die Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit sowie die Pressefreiheit in der Türkei entgegen Art. 9 und 10 EMRK eingeschränkt werden und dass entgegen Art. 5 und 8 EMRK die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens von Erdogan-Kritikern nicht gesichert sind. Ferner verstößt es gegen die EMRK, dass den nach Medienberichten zwischenzeitlich mehr als 50 000 suspendierten türkischen Staatsbediensteten und anderen Verhafteten die in Art. 6 EMRK garantierten Rechte auf ein faires Verfahren vorenthalten werden. Ausweislich der uns von betroffenen Richtern zugegangenen E-Mails werden die Betroffenen entgegen Art. 6 Abs. 3 EMRK jedenfalls nicht „innerhalb möglichst kurzer Frist … in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet“. Beweise für eine behauptete Verwicklung in den gescheiterten Militärputsch oder andere Amtspflichtverletzungen werden den Betroffenen über den schlichten Verweis auf die Listen hinaus weder mitgeteilt noch gar nachprüfbar vorgelegt.

Die Suspendierungen und Verhaftungen der mehr als 500 Verwaltungsrichter, von mehreren Verfassungsrichtern und mehr als 2 000 RichterInnen anderer Gerichte lassen die Zielrichtung erkennen: Die von Präsident Erdogan und seiner AKP-Regierung angeordneten und veranlassten Maßnahmen zielen vor allem auf die Ausschaltung einer unabhängigen Justiz, die Einschüchterung und Unterdrückung jeder Opposition, die Gleichschaltung der Presse und Medien sowie auf die möglichst ungehinderte Errichtung eines autoritären Präsidialregimes mit einem ungehemmten Führerkult.

Das dürfen die Vertragsstaaten der EMRK und die Institutionen des Europarates nicht länger widerspruchslos hinnehmen. Die Forderung der Bundeskanzlerin und von Bundesinnenminister de Maizière an Präsident Erdogan, das „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ zu wahren, stellt die repressiven Maßnahmen gegen die türkische Bevölkerung im Grundsatz nicht infrage, sondern geht von deren Legitimität aus. Sehr befremdlich ist es, dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am 21.7.2016 in Washington erklärt hat, der in der Türkei verhängte Notstand müsse „auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet“(2) werden. Auch das legitimiert den aktuell verhängten „Ausnahmezustand“. Präsident Erdogan wird all dies freuen.

1. Wir fordern die deutsche Bundesregierung und die Regierungen aller Vertragsstaaten des Europarates auf, beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine Staatenbeschwerde nach Art. 33 der EMRK (3) gegen die Türkei zu erheben, um ein EMRK-konformes Verhalten einzufordern und durchzusetzen. Zur Vorbereitung sollte unverzüglich eine Expertenkommission mit „fact finding“-Befugnissen entsandt werden. Sie sollte sicherstellen, dass sich verfolgte und verhaftete Bürgerinnen und Bürger in der Türkei ungehindert mit der Bitte um Unterstützung an sie wenden können.

2. Auch die OSZE ist gefordert. Das „Menschenrechtskomitee („Human Dimension Committee“) der OSZE muss sich unverzüglich mit der Menschenrechtslage in der Türkei befassen. Sie sollte eine sofortige Rücknahme der pauschalen listenmäßigen Suspendierung der RichterInnen und StaatsanwältInnen, der Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz und ein Ende der Verstöße gegen zentrale Menschenrechte einfordern.

3. Der NATO-Rat muss auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs baldmöglichst zu einer Sondersitzung zusammentreten, um die Türkei eindringlich auf ihre demokratischen und rechtsstaatlichen Pflichten als NATO-Mitgliedsstaat hinzuweisen. Die in der Türkei im NATO-Rahmen stationierten 102 Atomsprengköpfe müssen dort unverzüglich abgezogen werden. Alle Waffen- und Rüstungslieferungen sowie alle Finanztransfers an das Erdogan-Regime müssen sofort bis auf Weiteres gestoppt werden.

4. Die Tornado-Einheit der Bundes-Luftwaffe sollte unverzüglich aus Incirlik abgezogen werden.


 

(1) Vgl. u.a. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei-lange-haftstrafen-fuer-regierungskritische-journalisten-14219395.html
(2) http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/frank-walter-steinmeier-ruft-erdogan-zu-verhaeltnismaessigkeit-auf-14350353.html
(3) Art. 33 EMRK (Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms) – Inter-State cases: Any High Contracting Party may refer to the Court any alleged breach of the provisions of the Convention and the protocols thereto by another High Contracting Party.

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