Wachsende Kritik am EHEC-Krisenmanagement

(06.06.2011/hg)

Der Gesundheitszustand vieler schwer erkrankter EHEC-Patienten im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf wird besser. „Wir beobachten bei vielen unserer Patienten eine zunehmende Stabilisierung der Laborparameter und der Nierenfunktion“, erklärte der Nierenspezialist Prof. Rolf Stahl am Montag. Der Neurologe Prof. Christian Gerloff berichtete, auch die neurologischen Symptome seien insgesamt rückläufig. „Wir sind froh über diese Entwicklung und hoffen, dass sich dieser positive Trend auch in den nächsten Tagen bestätigt“, sagte der Chef des Klinikums, Prof. Jörg Debatin.

Unterdessen stiegen die Infektionszahlen weiter an. In Niedersachsen wurden am Montag 503 EHEC-Fälle und Verdachtsfälle gezählt, 45 mehr als am Samstag. „Der Scheitelpunkt ist leider noch nicht erreicht“, sagte der Sprecher des niedersächsischen Gesundheitsministeriums, Thomas Spieker.

Die ebenfalls schwer betroffenen Länder Hamburg und Schleswig-Holstein meldeten eine leichte Entspannung, weil die Zahl der EHEC-Erkrankungen nun zumindest langsamer als noch in der vergangenen Woche steigt. In Hamburg wurden bis Montagvormittag 849 EHEC-Fälle oder Verdachtsfälle gemeldet, 79 mehr als vor zwei Tagen. „Die heutigen Erkrankungszahlen geben zur Hoffnung Anlass, dass sich die Situation ein wenig entspannt“, erklärte Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks. Schleswig-Holstein meldete 554 bestätigte EHEC-Infektionen bis Sonntagabend, 37 mehr als am Donnerstag. Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein  berichtete, erstmals seit dem Beginn der EHEC-Welle seien mehr Patienten nach Hause entlassen worden als neue aufgenommen wurden.

Angesichts der EHEC-Infektionswelle wächst die Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung. „Ich frage mich, was der Gesundheitsminister und die Verbraucherministerin eigentlich machen“, sagte die grüne Bundestags-Fraktionschefin Renate Künast gegenüber der Berliner Zeitung. Schwere Vorwürfe erhob auch die stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende Bärbel Höhn: „Die Regierung hat diese Krise vollkommen unterschätzt und sich weggeduckt. Von den verantwortlichen Ministern war lange nichts zu hören“, sagte sie der Passauer Neuen Presse am Montag.

Gesundheitsminister Daniel Bahr und Verbraucherministerin Ilse Aigner wollen sich diese Woche mit den zuständigen Länderministern beraten. Das am Mittwoch geplante Spitzentreffen bezeichnete Künast als „reine Show“. Deutschland brauche stattdessen einen nationalen Kontrollplan mit einer Checkliste möglicher Übertragungswege vom Bauern über die Verarbeitung bis zum Restaurant. Künast kritisierte, bislang würden weder die Suche nach den Infektionsquellen noch die Forschung bundesweit koordiniert.

Es wäre am Anfang viel aussichtsreicher gewesen, den Erreger schnell zu finden, sagte Höhn. „Diese Möglichkeit hat man verschenkt. Jetzt wird es ungleich schwerer.“ Sie forderte eine bessere Koordinierung der Lebensmittelkontrollen. „Das hätten im Fall von EHEC der Bundesgesundheitsminister oder die Bundesverbraucherschutzministerin übernehmen müssen. Jeder hat die Verantwortung auf den anderen abgeschoben. Das hat die Probleme noch vergrößert.“

Der für Gesundheit und Verbraucherschutz zuständige stellvertretende Unions-Fraktionschef Johannes Singhammer brachte ein Prüfsiegel für Gemüse ins Gespräch, um weitere wirtschaftliche Verluste bei deutschen Erzeugern durch die EHEC-Krise zu unterbinden. „Allerdings müsste die Wissenschaft dafür grünes Licht geben“, sagte er der Saarbrücker Zeitung. Es gehe ja nicht nur um die Erzeugung der Produkte. „Eine Verseuchung könnte auch über den Vertriebsweg erfolgen. Auch darüber wissen wir leider noch zu wenig“, so der CSU-Politiker.

Von dem an diesem Mittwoch anberaumten EHEC-Krisengipfel erhofft sich Singhammer zwei konkrete Ergebnisse: Zum einen müsse sich die Runde darauf verständigen, „alle Kapazitäten in Bund und Ländern auf die Erforschung des Bakteriums zu konzentrieren“; zum anderen müssten „Wege gefunden werden, um deutschen Gemüse-Erzeugern wieder einen Absatzmarkt zu eröffnen“. Die Vorwürfe aus den Reihen der Opposition und  SPD-Forderung nach einem zentralen Krisenstab im Gesundheitsministerium hält Singhammer für unbegründet. Sowohl Gesundheitsminister als auch Verbraucherschutzministerin arbeiteten eng mit allen zuständigen Behörden in Bund und Ländern zusammen. „Mehr Koordinierung geht nicht.“

Doch gegen EHEC wird an vielen Fronten gekämpft – mit einer wenig übersichtlichen Aufteilung der Zuständigkeit. Die Verzehrwarnungen für Rohkost im Norden haben das Robert-Koch-Institut (RKI) und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) herausgegeben. Das RKI untersteht dem Ressort von Gesundheitsminister Daniel Bahr und „bewertet, analysiert und erforscht dabei Krankheiten von hoher Gefährlichkeit“, wie es offiziell heißt. Das BfR hingegen hat unter Federführung des Hauses von Agrarministerin Ilse Aigner den Auftrag, „über mögliche, identifizierte und bewertete Risiken zu informieren“.

Doch wie kommen die Informationen zusammen? Das RKI schickte Mitte Mai die ersten Mitarbeiter nach Hamburg, um EHEC-Patienten zu befragen. Weitere Befragungen folgten. Von diesen RKI-Recherchen rühren die Warnungen vor rohen Gurken, Tomaten und Salat her – in weitgehender Übereinstimmung hatten die Leute das gegessen.

Doch die Suche nach dem Erreger selbst ist ungleich schwieriger. Für die Lebensmittelkontrolle zuständig sind die Länder – unter Koordination einer weiteren Bundesbehörde, des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Die Ämter der Städte und Landkreise „legen die Zahl ihrer Stichproben dabei nach Höhe des Risikos fest“, so das Verbraucherministerium. Bereits im Skandal um Dioxin in Futter und Lebensmitteln Anfang des Jahres stand die Lebensmittelkontrolle in der Kritik – zu unkoordiniert, zu schwach besetzt, hieß es damals.

Riskante Erreger halten sich nicht an Zuständigkeits- und Ländergrenzen. Der Berliner Tierseuchenexperte Lothar Wieler kritisiert im Spiegel, dass behördliche Informationen über Krankheiten und Erreger einige Tage von den Städten, über die Länder bis zum RKI unterwegs sein können. „Warum kann man so etwas nicht einfach direkt elektronisch schicken?“

Die Opposition kritisiert vor allem das Fehlen einer zentralen Informationsstelle in der Krise – und zunehmend auch das Agieren der zuständigen Minister.

Im Internet geben die drei Institute RKI, BfR und BVL jeweils eigene Informationen zu EHEC. Das Gesundheits- und das Verbraucherministerium haben auch unterschiedliche Telefonnummern geschaltet. Eine BVL-Seite namens www.lebensmittelwarnung.de ist erst im Aufbau. Und als beim Gesundheitsministerium gefragt wurde, wo im Fall der Warnung vor Rohkost im Norden dieser Teil Deutschlands ende, lautete die Antwort: „Das kann ich nicht näher spezifizieren.“

Ursache weiterhin unklar

Unklar ist weiterhin, durch welche Lebensmittel die Erreger übertragen werden. Anfangs wurde der schwarze Peter noch spanischen Gurken zugewiesen. Obwohl der Verdacht noch nicht bestätigt war, forderte der verbraucherschutzpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Erik Schweickert, strengere Lebensmittelkontrollen von Spanien. „Es kann nicht sein, dass in Spanien bei der Lebensmittelkontrolle geschlampt wird und in Deutschland dadurch Menschen krank werden“, sagte Schweickert der Leipziger Volkszeitung am vergangenen Freitag.

Doch die Zuweisung der Schuld ans Ausland hat sich als vorschnell erwiesen. Mittlerweile gilt deutsches Gemüse als hauptverdächtig. Konkret im Verdacht ist Sprossengemüse aus einem  Biohof im niedersächsischen Uelzen.

Das Bundesverbraucherministerium betonte, alle Produkte des Betriebs seien unverzüglich vom Markt genommen worden. Nun gehe es darum, Lieferketten und Kundenlisten auszuwerten. Das Ministerium habe zudem die Länderbehörden gebeten, bundesweit schwerpunktmäßig Produzenten von Sprossen zu überprüfen. Das Robert Koch-Institut (RKI) und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hielten aber weiter an der Warnung vor rohen Gurken, Tomaten und Salat insbesondere in Norddeutschland fest.

Ein Sprecher von Verbraucherministerin  Aigner erläuterte, Sprossengemüse sei als eine mögliche Infektionsquelle „sehr plausibel“. Die sieht auch der Mikrobiologe Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg so: „Sprossen waren von Anfang an einer der üblichen Verdächtigen, die man hätte schon von Anfang an verhaften können“, sagte er im ARD-Morgenmagazin. Sie seien ein typisches Gemüse, das auf vielen verschiedenen Mahlzeiten ist, in ganz Deutschland verteilt wird und über längere Zeit immer wieder Infektionen auslösen kann.

Nun ergab am Montagnachmittag die Auswertung erster Sprossen-Proben, dass die angebliche EHEC-Spur wieder ins Leere führte. Zumindest konnten in ersten Labortests keine EHEC-Erreger auf den Sprossen aus Niedersachsen gefunden werden.

Der hannoversche Nierenarzt Jan Kielstein berichtete, Sprossengemüse sei bei den EHEC-Patienten der Medizinischen Hochschule Hannover bisher nicht in Verdacht geraten. Bei der Aufnahme in die Klinik würden die Patienten, die sich mit dem aggressiven Darmkeim infiziert haben, ausführlich nach ihren Ernährungsgewohnheiten befragt. „Das Wort Sprossen ist dort nie explizit in Erscheinung getreten“, sagte der Mediziner.

Die Infektionen können nach Ansicht eines Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihren Ursprung eher im Fleisch als im Gemüse haben. Donato Greco sagte der italienischen Zeitung La Repubblica: „Der Erreger ist üblicherweise im Darm von Rindern zu finden und damit auch in rohem Fleisch wie Tartar oder schlecht gekochten Hamburgern.“ Er habe noch nie derart gefährliche Darmkeime auf Obst und Gemüse festgestellt. Wäre Rindfleisch die Quelle für den gefährlichen Keim, könnte das auch mit der massiven Beigabe von Antibiotika in Tierfutter zu tun haben, sagte er. Dadurch seien die Bakterien zusätzlich resistent geworden.

Würde sich Grecos Verdacht erhärten, wäre dies mit weitreichenden Konsequenzen für die Landwirtschaft verbunden. Denn im Gegensatz zur Gurken- oder Sprossen-Theorie ließen sich bei der Antibiotika-These nicht einzelne Betriebe als schuldig ausmachen, weil sie Hygiene-Vorschriften missachtet haben. Vielmehr wäre dann die Fleischproduktion insgesamt betroffen.

(mit dpa)

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