11. September 2001

Mit Propaganda gegen die Erkenntnis

Die aktuellen Krisen überdecken die vergangenen. Dabei sind der 11. September 2001 und dessen Folgen immer noch sehr wichtig zum Verständnis der Gegenwart. Auch und gerade aus dem Blick der Medien. Sie stehen im Mittelpunkt der folgenden Rezension des Buches von Ansgar Schneider und Klaus-Dieter Kolenda zum 20. Jahrestag des 11. Septembers. Es geht um eine sachlich-nüchterne Auseinandersetzung mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“, eine Abrechnung mit den Leitmedien und Hinweise auf die Kräfte hinter der Propaganda.

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Das World Trade Center brennt am 11. September 2001.
Quelle: Photographs Division, Library of Congress., Mehr Infos

Ansgar Schneider hat Physik studiert, in Mathematik promoviert und all das gemacht, was zu einer akademischen Karriere gehört. Lehren, publizieren, auf internationale Kongresse fahren, andere Universitätskulturen kennenlernen. Wenn so ein Naturwissenschaftler plötzlich anfängt, sich mit den Medien zu beschäftigen und dafür seine eigene Forschung zu vernachlässigen, muss es einen gewichtigen Grund geben.

„Kein 11. September ist auch keine Lösung“, steht über der „persönlichen Einführung“ (S. 30) [1], mit der das Buch beginnt. Diesen „Kriminalfall“ aufdröseln (S. 31), sicher. Das kann jemand, der sich mit Baustatik auskennt und kein Problem damit hat, die Videos vom Einsturz der drei WTC-Türme wieder und wieder anzuschauen, Millisekunde um Millisekunde, aus dieser Perspektive und aus jener. Es gibt online einen (langen) Vortrag, bei dem man sehen kann, wie Ansgar Schneider arbeitet und argumentiert. Beeindruckend. [2] Sein eigentliches Thema ist aber ein anderes: „die Ächtung der Aufklärung, die damit einhergehende gesellschaftliche Leugnung des Verbrechens und die Duldung des erneuten Rückfalls in die real existierende Barbarei von Krieg und Überwachungsstaat“ (S. 31).

Ansgar Schneider hat schon vor drei Jahren ein Buch zu seinem Lebensthema veröffentlicht, bei Peace Press, einem Verlag, in dem man eine ganze Reihe von Texten zum 11. September findet [3]. Jetzt ist er zu fifty-fifty gegangen, einer Westend-Marke, und hat die Form verändert. Das neue Buch kommt als ein langes Gespräch daher, geführt im Sommer 2020 in Frankfurt am Main. Interviewer ist Klaus-Dieter Kolenda, ein Arzt und Friedensaktivist, der Schneider schon 2019 für die Nachdenkseiten befragt hatte [4]. Das macht den Stoff leichter zugänglich und verdaulich, auch wenn sich der Journalist in mir hier noch mehr Mut und Konsequenz gewünscht hätte.

Der Stoff, den Ansgar Schneider ausbreitet, hat solche Anstrengungen allemal verdient. Das beginnt schon bei der These (die natürlich empirisch zu prüfen wäre), dass Akademiker „zu mehr Vertrauen und Gehorsam gegenüber Institutionen neigen als Mitglieder anderer Gesellschaftsschichten“. Schneider zielt hier nicht nur auf „die Hand, die einen füttert“ (S. 58), sondern auch auf „die Bequemlichkeit, sich nicht die Mühe machen zu wollen, ein fehlerhaftes Weltbild zu korrigieren“. Ansgar Schneider sagt: In der „realen Demokratie“ sind nicht „die offenkundigen kleineren Ungerechtigkeiten das Problem“, sondern „fundamentaler Machtmissbrauch und tiefgreifende kriminelle Strukturen auf staatlicher Ebene“ (S. 60). Es geht um den „tiefen Staat“.

„Damit bezeichnet man außerhalb der verfassungsgemäßen Ordnung stehende Machtstrukturen, auf die der Rechtsstaat nicht zugreift: Nehmen Sie es als eine Schnittmenge von organisierter Kriminalität und Elementen aus dem Regierungsapparat, aus geheimdienstlichen oder militärischen Kreisen, die beispielsweise Terroranschläge oder politische Morde veranlassen oder verüben, um Stimmungen in der Bevölkerung oder Wahlen zu beeinflussen, so wie das in Italien oder der Türkei durch NATO- Kräfte geschehen ist, um solche Anschläge der politischen Linken anzulasten und um diese damit zu schwächen. [5] Aber es geht nicht nur um Terror, sondern auch um Propagandaoperationen oder anderes systematisches illegales Wirken von staatlichen Akteuren oder solchen, die von staatlicher Seite gedeckt werden, wobei hier nicht der Korruptionsskandal im Landkreis gemeint ist, sondern Vorgänge, die von nationaler und geostrategischer Bedeutung sind“ (S. 61)

Das führt direkt zu einer „intellektuellen Nebelkerze“ (S. 82) – zum Wort Verschwörungstheorie. Ansgar Schneider schaut sich an, welche Behauptungen die Leitmedien mit diesem Begriff verbinden, und unterscheidet dabei drei Kategorien (S. 85):

(1) „pseudowissenschaftliche oder boulevardeske Aussagen“ („Elvis lebt“),
(2) „gruppenbezogene Vorwürfe“ („Die Juden sind an allem schuld“) und
(3) „kriminalistische Aussagen über (mögliche) Verbrechen, die eine Beteiligung von Personen aus westlichen Regierungen (oder Institutionen) beinhalten oder implizieren (oft die US-Regierung) oder die einer gegebenen Erklärung einer westlichen Regierung zu einem Verbrechen/politisch bedeutsamen Ereignis widersprechen“ („Die drei Wolkenkratzer des WTC wurden gesprengt“).

„Natürlich sind diese Bereiche überlappend: Zum Beispiel kann man jede Aussage aus der Kategorie der kriminalistischen Aussagen entsachlichen, indem man diese mit grotesken Übertreibungen oder einem antisemitischen Zusatz versieht oder in einem Kontext diskutiert, der solche Zusätze beinhaltet, was in den Leitmedien, wie oben dokumentiert, typischerweise der Fall ist. Die Leser solcher Zeitungsartikel werden dann also genötigt, nicht die Sachaussagen, sondern verschiedene Varianten von grotesken, pauschalisierten oder rassistischen Formen zu bewerten. Das ist natürlich eine Irreführung. Irreführungen, die auf einer übertriebenen Darstellung der eigentlichen Sachfrage beruhen, nennt man auch Strohmann-Argumente: Der Strohmann ist ohne große Mühe k.o. zu schlagen, während die eigentliche Sachfrage verdeckt bleibt.“ (S. 85f.)

Verschwörungstheorie: Das ist in dieser Lesart alles, was der hegemonialen Ideologie widerspricht, zu der hierzulande Rationalität und Wissenschaft gehören, die Ächtung jeder Form der Diskriminierung und der Glaube, in einer Demokratie zu leben, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Ansgar Schneider sagt sogar: Verschwörungstheorie heißt im Moment alles, was „im Widerspruch zu einer in den Leitmedien verbreiteten ‚Wahrheit‘“ steht. Es handele sich um einen „erkenntnistheoretisch sinnlosen Oberbegriff“ für Aussagen aus drei ganz unterschiedlichen Bereichen, der nicht nur „irreführend und diffamierend“ sei, sondern auch eine „spezielle Form der Herrschaftskritik“ tabuisiere, „bei der es um die Aufklärung potenzieller Verbrechen oder illegitime Einflussnahmen durch staatliche Akteure geht“ (S. 92).

Der Physiker und Mathematiker Ansgar Schneider glaubt an die Wissenschaft. Im Gespräch mit Klaus-Dieter Kolenda wirbt er dafür, „maximal kritisch, selbstkritisch und transparent zu sein“, stets von „ungezweifelten Gründen“ auszugehen (von „nachvollziehbar beobachteten und festgestellten Daten“) sowie mit „geeigneten und angemessenen“ Begriffen zu arbeiten (S. 104). Das Buch von Michael Butter zum Thema Verschwörungstheorie, [6] wie sein Autor wichtig geworden in der öffentlichen Debatte und von mir an anderem Ort schon gewürdigt [7], kann Schneider vor diesem Hintergrund nur für „pseudowissenschaftlich“ halten (S. 103).

Für den Medienforscher mindestens genauso interessant sind die Beispiele für die doppelten Standards, mit denen westliche Leitmedien ganz ähnliche Ereignisse bei Freund und Feind bewerten. „Über mögliche Verbrechen, die der Russe begangen haben mag, darf man freimütig spekulieren, wenn’s aber der Amerikaner gewesen sein könnte, dann überschreitet man eine rote Linie“ (S. 91).

Ansgar Schneider begründet das auch damit, dass Propaganda und vor allem „die Einbindung von Akademikern in die öffentliche Debatte, die sich an das Bildungsbürgertum und intellektuelle Eliten richtet“, zum Standardprogramm der Geheimdienste gehören (S. 146). Er beruft sich hier auf den Bericht der Church-Kommission von 1976, der seinerzeit festgestellt hatte, dass „einige hundert amerikanische Akademiker“ für die CIA tätig waren (S. 147). Dazu würden Geld oder Material für Bücher kommen sowie der Versuch, auch die großen Zeitungen zu beeinflussen – über Personal, Ressourcen oder Druck, wenn Geschichten verhindert werden müssen (S. 148). Der Church-Bericht habe auch auf die großen Stiftungen hingewiesen (damals Ford, Rockefeller und Carnegie), die genutzt worden seien, um die „notwendigen Geldflüsse zu verdecken“ (S. 149). Weiter im Text: „Es ist kein Geheimnis, dass der staatliche Sicherheitsapparat gemeinsame Interessen mit gewissen Industriezweigen hat. Zum Beispiel sehen wir eine Schnittstelle von global agierenden Technologiekonzernen und dem staatlichen Sicherheitsapparat in der Rüstungsindustrie, in der Bio-Tech-Industrie (Forschung an Krankheitserregern und Gegenmitteln) und natürlich in der Informationstechnologie“ (S. 156).

Ansgar Schneider meint, dass alles eine Frage des Geldes ist und schon ein Jahresbudget von sechs Millionen Dollar reichen würde, um die „unsachliche und stigmatisierende Debatte über den 11. September in den Leitmedien“ und damit letztlich „die flächendeckende Uninformiertheit in der breiten Leserschaft“ zu beenden (S. 156). Vielleicht muss man das so sehen, wenn man sich der Aufklärung verschrieben hat. Vielleicht darf man dann auf eine „demokratische Revolution“ hoffen und auf „eine richterliche Instanz, die nach höchsten ethischen und rechtlichen Standards operiert“ (S. 180).

„Ich denke, aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sind die Ereignisse des 11. September selbst – so tragisch sie auch sind – gar nicht der dramatische Höhepunkt, sondern das Totalversagen der großen Medien und die daraus folgende Übernahme der Propaganda in breiten Bevölkerungsschichten mit der vollständigen Resistenz gegen wissenschaftliche Erkenntnis, gegen kritisches Nachfragen und die Ächtung und Entmenschlichung der Kritiker. Die nachfolgenden Kriege und das Wandeln der offenen Gesellschaft in einen zunehmend autoritären Staat mit real existierender digitaler Zensur und Überwachung sind und waren nur möglich, weil die großen Medien effektiv einen Schutzschirm über die politischen Akteure halten.“ (S. 181)


Folgt man Ansgar Schneider, dann geht das nur, wenn wir die „Filterblase der Leitmedien zum Platzen“ (S. 181) bringen und vor allem verstehen, wie Propaganda funktioniert.

Ansgar Schneider, Klaus-Dieter Kolenda: Generation 9/11. Die verhinderte Aufklärung des 11. September im Zeitalter der Desinformation. Mit einem Vorwort von Dirk Pohlmann. Frankfurt/Main: fifty-fifty 2021, 224 Seiten, 18 Euro.

Endnoten

[1] Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf das rezensierte Buch von Schneider/Kolenda.

[2] https://gloria.tv/post/CqnAnQUppwVf31RMwN68cgPWc

[3] Ansgar Schneider: Stigmatisierung statt Aufklärung. Das Unwesen des Wortes „Verschwörungstheorie“ und die unerwähnte Wissenschaft des 11. September als Beispiel einer kontrafaktischen Debatte. Peace Press 2018

[4] Klaus-Dieter Kolenda: Der 11. September 2001 wird volljährig – Zeit, um endlich erwachsen zu werden. Interview mit Ansgar Schneider. In: Nachdenkseiten vom 9. September 2019

[5] Daniele Ganser: NATO-Geheimarmeen in Europa: Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Orell Fuessli 2009, Teiabdruck in Hintergrund Heft 1/2009 und Ole Tunander: The Dual State: The Case of Sweden, erschienen als Kapitel 8, Seite 171 ff. in: Eric Wilson (Hrsg.): The Dual State – Parapolitics, Carl Schmitt and the National Security Complex, Ashgate 2012

[6] Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp 2018

[7] Michael Meyen: Vom Kampf um die Öffentlichkeit. In: Medienrealität 2020.

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Die Rezension erschien zunächst im Blog „Medienrealität“ von Prof. Dr. Michael Meyen und wurde für diese Zweitveröffentlichung durch einige Zitate aus dem Buch ergänzt: https://medienblog.hypotheses.org/10094

Michael Meyen hat als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung und beim Radio begonnen. Seit 2002 ist er Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und arbeitet dort mit angehenden Journalisten, PR-Profis und Medienforschern. Zuletzt erschien von ihm „Die Propaganda Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft“.

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