Medien

Tod der Tagespresse

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Von IGNACIO RAMONET, 7. Oktober 2009 –

Die Katastrophe hat immense Ausmaße erreicht. Dutzende Zeitungen sind bankrott. Allein in den Vereinigten Staaten wurden bereits über 120 eingestellt. Und nun erreicht der Tsunami Europa. Noch nicht einmal die „Referenzmedien“ können sich retten: El País aus Spanien, Le Monde aus Frankreich, The Times und The Independent aus Großbritannien. In Italien sind es die Corriere della Sera, La Repubblica und andere. Alle diese Blätter erleiden schwere wirtschaftliche Verluste, Auflageneinbrüche und einen Rückgang des Anzeigenaufkommens (1).

Die angesehene New York Times musste den mexikanischen Millionär Carlos Slim um Hilfe bitten, während das Verlagshaus von The Chicago Tribune und der Los Angeles Times sowie die Hearst Corporation, die Herausgeberin der San Francisco Chronicle, Insolvenz anmelden mussten. News Corp, die mächtige Multimediagruppe von Rupert Murdoch, Herausgeberin des Wall Street Journals, fährt jährliche Verluste in Höhe von umgerechnet 2,5 Milliarden Euro ein.

Um Kosten einzusparen müssen viele Publikationen ihre Seitenzahlen reduzieren. Die Washington Post hat ihre renommierte Literaturbeilage Bookworld eingestellt, der Christian Science Monitor existiert nur noch im Internet. Die Financial Times bietet einem Teil ihrer Redakteure Drei-Tages-Verträge an und hat die Belegschaft radikal verkleinert. Es gibt Massenentlassungen. Seit Januar 2008 sind 21.000 Arbeitsplätze bei US-amerikanischen Zeitungen gestrichen worden. In Spanien haben „zwischen Juni 2008 und April 2009 2.221 Journalisten ihre Arbeitsplätze verloren“ (2). Tagespresse, die von Abonnements und Kioskverkäufen lebt, steht am Abgrund und sucht verzweifelt nach Auswegen, um zu überleben. Zugleich sehen einige Analytiker diese Art der Informationsverbreitung als überholt an. Michael Wolf vom Informationsportal Newser prognostiziert das Verschwinden von 80 Prozent der US-amerikanischen Printmedien (3). Rupert Murdoch ist pessimistischer. Seiner Meinung nach werden im kommenden Jahrzehnt alle gedruckten Tageszeitungen verschwinden.

Welche Einflüsse sind es aber, die diesen bekannten Trend bei der gedruckten Tagespresse derart kritisch zuspitzen? Zum einen ist es ein konjunktureller Faktor: Die Weltwirtschaftskrise provoziert den Rückgang des Anzeigenaufkommens und eine Einschränkung des Zugangs zu Krediten. Zudem verstärkt die Krise zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt die strukturellen Probleme der Branche: die Vermarktung der Information als Ware, die Abhängigkeit von Anzeigen, der Verlust an Glaubwürdigkeit, der Schwund an Abonnements, die Konkurrenz der Gratismedien und der wachsende Altersdurchschnitt der Leserschaft. In Lateinamerika sorgen die notwendigen demokratischen Reformen einiger Regierungen (Argentinien, Ecuador, Bolivien oder Venezuela) gegen den „medialen Großgrundbesitz“ privater Monopolisten für zusätzliche Probleme. Diese Kontroverse hat die dominanten Medien in ihrer Verzweiflung über die neue Reformpolitik zu einer Welle von Diffamierungen gegen diese Regierungen motiviert. Auf internationale Ebene bekommen sie von ihren bekannten Komplizen Beistand, in Spanien etwa von der Tageszeitung El País, die nebenbei gegen Ministerpräsident José Luis Zapatero schießt (4).

Die Tagespresse folgt weiterhin einem überholten Wirtschafts- und Industriemodell. Die Strategie, immer größere international agierende Multimedia-Gruppen zu bilden, wie noch in den 1980er und 1990er Jahren, hilft nicht mehr gegen die neuen Wege der Informationsverbreitung sowie gegen die Bindung der Konsumenten an Internet und Mobilfunk (5).

Paradoxerweise hatten die Tageszeitungen noch nie zuvor derart viel Zuspruch wie heute. Durch das Internet ist die Zahl der Leser exponentiell in die Höhe geschossen (6). Aber die Nutzung des Netzes durch die Tagesmedien gestaltet sich weiterhin schwierig. In erster Linie, weil die Onlinepräsenz den Kioskleser, der täglich seine Zeitung kauft, dazu zwingt, den Onlineleser zu subventionieren, obwohl dieser für das oft umfangreichere und unterhaltsamere digitale Produkt nichts bezahlt. Und weil die Onlinewerbung keine ausreichenden Einkünfte bringt, da sie gegenüber den gedruckten Anzeigen weitaus günstiger ist (7). Verluste und Einnahmen stehen in einem Missverhältnis.

Blindlings versuchen sich die Medien in immer neuen Methoden, um dem Geldabfluss beizukommen und ihr Überleben zu sichern. Nach dem Vorbild des Musikanbieters iTunes verlangen einige von ihnen Kleinstbeträge von ihren Onlinelesern, wenn diese auf exklusive Informationen zugreifen wollen (8). Rupert Murdoch hat bereits verkündet, dass er ab Januar 2010 für jeglichen Zugriff auf das Wall Street Journal Geld verlangen wird, sei es über Blackberrys, iPhones, Twitter oder das Kindle-System. Die Suchmaschine Google denkt über eine Methode nach, wie jeder Zugriff auf ein Tagesmedium berechnet werden kann, damit ein Teil dieser Einkünfte wieder den Unternehmen zugute kommt. Aber werden diese Almosen genügen, um die tödliche Krankheit zu besiegen? Wenige Beobachter glauben dies – wie der Journalist Serge Halimi in seinem Text „El combate de Le Monde diplomatique“ beschreibt. Denn zu allem Genannten kommt ein weiteres schwerwiegendes Element: der Verlust der Glaubwürdigkeit. Die Obsession der Tagespresse, immer aktueller zu berichten, mehrt die Fehler. Das verführerische Angebot eines „Bürgerjournalismus“, in dessen Rahmen jeder Nutzer auf der Seite des Mediums seinen eigenen Blog mit Texten, Fotos und Videos einrichten kann, erhöht das Risiko von Falschinformationen. Und die Übernahme der Unternehmensstrategie als Teil der Redaktionspolitik – was heutzutage bei großen Printmedien zu beobachten ist – erhöht die Gefahr des subjektiven, willkürlichen und parteilichen Umgangs mit der Information.

Angesichts solcher journalistischer „Kapitalverbrechen“ fühlen sich Bürger in ihren Rechten beschnitten. Die Mediennutzer wissen, dass glaubwürdige und qualitative Information wichtiger denn je ist. Für sie und für die Demokratie. Und sie fragen sich, wo die Wahrheit zu finden ist. Unsere aufmerksamen Leser kennen die Antwort (zum Teil): Die Wahrheit ist in der unabhängigen und kritischen Presse zu finden. Le Monde diplomatique trägt ihren Teil dazu bei.


Anmerkungen:
(1) Hayes, Inés: En quiebra los principales diarios del mundo. In: América XXI, Caracas, April 2009.
(2) Angaben der Spanischen Journalistenvereinigung, Madrid, 13. April 2009.
(3) The Washington Post, 21. April 2009.
(4) Über die Angriffe von El País gegen Zapatero hat Doreen Carvajal in The New York Times am 13. September 2009 in ihrem Text „El País in Rare Braek With Socialist Leader” geschrieben.
(5) Navarro Hernández, Luis: La crisis de la prensa escrita. In: La Jornada, Mexiko, 3. März 2009.
(6) Siehe: Newspapers in Crisis. Im Internet: http://www.emarketer.com/Reports/All/Emarketer_2000552.aspx (04.10.2009)
(7) 2008 war die Leserschaft der New York Times im Internet zehnmal höher als die der Printausgabe. Zugleich machten die Werbeeinnahmen im Netz nur ein Zehntel der Einkünfte aus dem klassischen Anzeigengeschäft aus.
(8) Crovitz, Gordon: El futuro de los diarios en Internet. In: La Nación, Buenos Aires, 15. August 2009/ In: El País, Madrid, 11. September 2009.

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Über den Autor:
Ignacio Ramonet ist spanischer Journalist und war von 1991 bis März 2008 Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik „Le Monde diplomatique“. Seit seinem Ausscheiden bei der französischen Mutterausgabe leitet er die spanische Edition. Seine Leitartikel der spanischen Ausgabe von Le Monde diplomatique erscheinen ab November 2008 monatlich in deutscher Übersetzung bei www.hintergrund.de. Ignacio Ramonet ist Ehrenpräsident von Attac und Mitorganisator des Weltsozialforums.

Übersetzung für Hintergrund: Harald Neuber

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