Gegen Kriegsunwilligkeit hilft nur Propaganda
Die bundesdeutsche Gesellschaft soll wieder "kriegstüchtig" werden, verkündet die regierende Politik. Dafür holt sie aus der Mottenkiste der Propaganda die "russische Gefahr". Was dahintersteckt und warum es immer noch funktioniert, erklärt die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer im Interview mit Tilo Gräser.

HINTERGRUND Die neue Bundesregierung aus Union und SPD will laut Koalitionsvertrag „Lüge“ ebenso bekämpfen wie „Desinformation“, „Fake News“, „Hass“ und „Hetze“. Medienexperten warnen vor massiven Eingriffen in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Was halten Sie von den Koalitionsplänen?
SABINE SCHIFFER In der Tat wäre das ein Angriff auf die Basis demokratischer Auseinandersetzung. In der Wissenschaft weiß man, dass neue Erkenntnisse zum Überdenken alter Theorien führen, eine ständige Auseinandersetzung zur Findung des besten Erklärungsansatzes. Wer Wahrheit ein für allemal festschreiben will und eine Art staatliche Verordnung dessen, was erörtert werden darf, driftet in den autoritären Staat ab. Deshalb erwarte ich hier Verfassungsklagen, weil wir eigentlich grundrechtlich vor solchen Übergriffen geschützt sind. Tatsächlich wird auch das hehre Ziel, Hass und Hetze zu bekämpfen, inzwischen zur Legitimation von
Zensurmaßnahmen genutzt, die uns noch anderweitig auf die Füße fallen. Eine Verengung des Debattenraums ist ja bei einigen Konfliktthemen schon spürbar.
HINTERGRUND Gleichzeitig wird derzeit aktiv und massiv Propaganda für „Kriegstüchtigkeit“ gemacht, verbunden mit Angstmache vor einem russischen Angriff in den nächsten Jahren, ohne jegliche Belege dafür. Warum geschieht das?
SCHIFFER Es geht schlicht um Interessen. Bei dieser Propaganda werden immer wieder Fake News bemüht, die aber nicht bekämpft werden sollen. Hier zeigt sich schon, dass es nicht um die Pflege eines demokratischen Diskursraums geht, sondern um ganz bestimmte politische Ziele. Und die Zeichen der Zeit stehen auf Krieg. Dabei greift man zu bekannten Mitteln, die in der Propagandaforschung – allen voran Lord Arthur Ponsonby – längst bekannt sind: etwa zu der Projektion eigener Pläne auf den gerade ausgeschriebenen Gegner. Alles, was wir über russische Pläne, hybride Kriegsführung und dergleichen zurzeit hören, entstammt ebenso NATO-Plänen. Davon zeugen unter anderem die Dokumente, die Jonas Tögel in seinem Buch Kognitive Kriegsführung darlegt.
HINTERGRUND Der von Ihnen genannte britische Politiker Arthur Porsonby hat 1928 die Methoden der Kriegspropaganda beschrieben, die die belgische Historikerin Anne Morelli in ihrem 2014 auf Deutsch erschienenen Buch Die Prinzipien der Kriegspropaganda auf unsere heutige Zeit übertragen hat. Davon klingt vieles wie eine Vorlage für die aktuellen Ereignisse wie den Ukraine-Krieg oder den israelischen Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser. Wie schätzen Sie das ein?
SCHIFFER Ich empfehle dringend, den Beitrag „Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda“ auf der Website des Deutschlandfunks zu lesen und sich dann die Frage zu stellen, die wir oft stellen müssen: Warum wirkt die eigene Aufklärung nicht auf die Berichterstattung? Gibt es keine Qualitätssicherung in den Medien? Denn unsere Medien verlautbaren ohne jegliche Kontrolle Propaganda-Behauptungen bestimmter Pressestellen, die sie für glaubwürdig halten, statt im Sinne einer Vierten Gewalt staatliche Macht grundsätzlich zu hinterfragen und jede Aussage zu prüfen. So wird etwa der Eindruck, den das von EU und NATO eingesetzte Kooperationsprojekt Task Force für Strategische Kommunikation Ost (East StratCom Task Force) – vermittelt, eins zu eins als „EU-Expertise gegen russische Desinformation“ verlautbart, während sie genau das tut, was Ponsonby und Morelli benannt haben: die anderen seien die Aggressoren, lügen, wollen uns manipulieren und bekämpfen; wir verteidigen uns ja nur. Denn eigentlich tun die das auch, wenn auch deren kriegerische Mittel die falschen seien. Natürlich beziehungsweise propagandistisch muss man angesichts des Selbstbilds in Deutschland stark auf Verteidigungsmythen setzen, selbst Hitler behauptete bei seinem Angriff auf Polen „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“, aber das reicht nicht mehr aus für die zukünftigen Pläne, weshalb man nun offen zur Propagierung von „Kriegstüchtigkeit“ übergeht – aber sanft, indem man es immer noch als Verteidigungsmaßnahme framed. Kriegsgründe finden sich, und in der NATO-Doktrin von 1999 wurden bereits die aktuellen benannt: „humanitäre“ Intervention, Migrationsbewegungen, Ressourcensicherung.
HINTERGRUND Warum wirken die unter anderem von Ponsonby und Morelli beschriebenen Propaganda-Mechanismen auch heute noch unvermindert?
SCHIFFER Warum nicht? Wer hat sich denn mit solchen Mechanismen befasst? Vermittelt sie jemand im Geschichtsunter- richt, oder beschränkt man sich da doch eher nur auf das ungläubige Erstaunen und Erschrecken über die Untaten unserer Verfahren? Wer ist an ehrlicher Aufarbeitung solcher Mechanismen interessiert? Wer hat die antisemitische Propaganda eingehend untersucht, um vergleichbare Propaganda gegen andere Minderheiten heute zu erkennen? Letzteres ist ja geradezu verpönt und hat zum Beispiel dem renommierten Antisemitismus- und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz den Verdacht der Geschichtsrelativierung eingebracht.
HINTERGRUND Jonas Tögel macht auf die kognitive Kriegsführung aufmerksam, als neue Waffengattung der NATO. Was ist neu daran?
SCHIFFER Nichts. Er zerrt es ans Licht, das ist gut. Die nicht neuen NATO-Dokumente, die er auswertet, gehören zu den vielen Strategiepapieren – wie etwa PNAC und dergleichen aus den USA –, die ernster genommen werden müssen, während unsere Medien dabei helfen, nur auf die strategischen Überlegungen potenzieller Feinde zu starren. So was führt zu Polarisierung, Feind-und-Freundbild-Denken und Krieg, das hilft also den Kriegstreibern. Wer aufklärt und vor den Dynamiken warnt, wird dann – ganz wie es Ponsonby und Morelli erkannt haben – als unseriös oder gar Feindpropagandist diffamiert. Hier besteht offensichtlich kein Interesse an Diplomatie, Interessenausgleich und gegenseitigen Sicherheitsvereinbarungen. Dies besonders dann, wenn eine Seite wirklich übermächtig ist – und das ist nicht Russland, aber das sind im Nahostkonflikt ganz klar Israel und seine Verbündeten. Was aus diesem Machtgefälle entsteht, können wir also dort deutlich sehen: nicht, wie behauptet, Sicherheit und Frieden aus einer Situation der Stärke heraus, sondern die totale Vernichtung des Gegenübers, der palästinensischen Gesellschaft. Und das wird durch Propaganda ermöglicht, wie sie die Reut Group entworfen hat, die der israelischen Regierung nahesteht: mittels Antisemitismus-Vorwürfen verhindern, dass das Völkerrecht auch auf diesen Konflikt angewandt wird. Man vergleiche nur die Empörung über Angriffe in der Ukraine mit denen im Gazastreifen, um sofort erkennen zu können, wie die Propaganda wirkt.
HINTERGRUND Welche Rolle spielen die Medien dabei? Ausgehend vom Ideal der Vierten Gewalt müssten sie ja Aufklärung gegen politische und staatliche Propaganda betreiben. Doch in der Realität beteiligen sich die sogenannten Leitmedien daran. Warum ist das so?
SCHIFFER Medien sind Teil des Machtapparats und naiv gegenüber demokratisch verfassten Staaten. Das projektive Starren auf Diktaturen verleitet zur Selbstidealisierung und lässt unsere Medien die Rolle einer Vierten Gewalt aus den Augen verlieren. Das hat auch mit deren ökonomischer Situation zu tun, mit Abhängigkeiten, aber auch Belohnungssystemen des Dabeiseins in Regierungskreisen. Wenn Regierungen Medien „fördern“, dann weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Auch werden andere Machtakteure oft gar nicht erkannt, etwa Stiftungen wie Bertelsmann, Think Tanks oder die genannte East Strat Com Task Force, die Briefings für Journalisten anbietet und sie auf den Pfad antirussischer Propaganda setzt. Antichinesisch wird es in Zukunft noch ganz im Sinne der USA, deren Kurs ja bei aller Rhetorik weiterhin bestimmend ist.
Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 7/8 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
SABINE SCHIFFER gründete und leitet das Institut für Medienverantwortung. Sie lehrt an der Media University Journalismus und Organisationskommunikation. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen Vierter und Fünfter Gewalt, also PR und Lobbyismus, und umfassen auch Themen wie Minderheitendiskriminierung in Mediendiskursen. Mit ihrem kritischen Lehrbuch Medienanalyse legt sie den methodischen Grundstock für ein Schulfach Medienbildung.