Innenpolitik

Abhör-Skandal: Bundesregierung unter Druck – Protest formiert sich

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Von REDAKTION, 22. Juli 2013 –

Während sich die Bundesregierung weiterhin einer aktiven Aufklärung des  gigantischen Überwachungsprogramms des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA verweigert, werden immer mehr Details über die transatlantische Zusammenarbeit der „Schlapphüte“ bekannt.

Die deutschen Geheimdienste haben von dem regen Abhorchen der deutschen Bevölkerung nicht nur gewusst, sondern offenbar selbst kräftig mitgemischt.

Wie der Spiegel in seiner neuesten Ausgabe unter Berufung auf Papiere aus dem Archiv des früheren US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden enthüllte, haben der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz sogar selbst eine Spähsoftware namens „XKeyscore“ der NSA verwendet – und damit eines der ergiebigsten Schnüffelwerkzeuge der US-Amerikaner selbst genutzt.

Über die Verbindungsdaten soll sich mit der Software zum Beispiel rückwirkend sichtbar machen lassen, welche Stichworte Zielpersonen in Suchmaschinen eingegeben haben. Zudem sei das System in der Lage, für mehrere Tage einen „full take“ aller ungefilterten Daten aufzunehmen, also auch Kommunikationsinhalte, berichtet der Spiegel. Das sei auch deshalb relevant, weil von den monatlich rund 500 Millionen Datensätzen aus Deutschland, auf die die NSA Zugriff habe, ein großer Teil von „XKeyscore“ erfasst werde.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz räumte am Wochenende ein, dass es selbst ein Spähprogramm des US-Nachrichtendienstes NSA testet, es aber derzeit nicht für seine Arbeit einsetzt. „Sollte die Software im BfV zum Einsatz kommen, würde das BfV damit keinesfalls mehr Daten als bisher erheben“, betonte die Behörde in einer Stellungnahme. Zudem halte sich der Verfassungsschutz bei seiner Zusammenarbeit mit der NSA „strikt an seine gesetzlichen Befugnisse“.

Laut Spiegel wurde der Verfassungsschutz vor allem deshalb mit dem Programm ausgerüstet, „um dessen Fähigkeiten auszubauen, die NSA bei der gemeinsamen Terrorbekämpfung zu unterstützen“. Der BND solle den Inlandsgeheimdienst im Umgang damit unterweisen.

Zudem berichtet das Nachrichtenmagazin unter Berufung auf NSA-Dokumente vom Januar, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe sich für eine laxere Auslegung deutscher Datenschutzgesetze eingesetzt, um den Austausch zu erleichtern.

Wahlkampftheater: Empörte Opposition

Die Opposition im Bundestag reagierte empört. SPD-Chef Sigmar Gabriel brachte eine Ablösung von BND-Präsident Gerhard Schindler ins Gespräch. „Wenn es stimmt, dass der BND-Präsident die geltenden Datenschutzgesetze in Deutschland umgehen wollte, muss er abgelöst werden“, sagte Gabriel.

„Das erschüttert die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin bis ins Mark“, erklärte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Thomas Oppermann (SPD). Er warf der Kanzlerin vor, den BND nicht im Griff zu haben. „Der Vorgang offenbart, dass Frau Merkel die Kontrolle über den ihr unterstellten BND völlig entglitten ist. Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund“, so Oppermann gegenüber der Welt.

SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sagte der Bild-Zeitung, die Berichte bestätigten, „dass die Bundesregierung über die massive Grundrechtsverletzung in Deutschland entweder Unwissenheit vortäuscht und ihre Mitwisserschaft verschweigt oder die Geheimdienste außer Kontrolle geraten sind“.

Auch die Grünen forderten weitere Aufklärung. Parteichef Cem Özdemir sagte der Süddeutschen Zeitung, er frage sich, „wie lange die Kanzlerin noch bei ihrem Motto bleibt: Mein Name ist Merkel, ich weiß von nichts“.

Rücktrittsforderungen wurden auch aus den Reihen der Linken laut. Die Präsidenten von BND und Verfassungsschutz sollten suspendiert werden, forderte Parteichef Bernd Riexinger. Auch dessen Parteigenosse Klaus Ernst riet dem Parlament, wegen der Verwendung von NSA-Spähsoftware über eine Entlassung der Geheimdienstchefs nachzudenken. „Test oder Regelbetrieb, das ist unerheblich. Es bleibt Verfassungsbruch im Amt“, sagte Ernst der Passauer Neuen Presse.

Nicht zu Unrecht warf CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe der Opposition im Gegenzug „Heuchelei“ vor, weil die Geheimdienstkooperation schon zu Zeiten der rot-grünen Regierung gang und gäbe war.

Unbestritten ist, dass die Zusammenarbeit schon nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine neue Qualität bekam. Damals regierte in Deutschland Rot-Grün, SPD-Kanzler Gerhard Schröder sicherte den Vereinigten Staaten „uneingeschränkte Solidarität“ zu. Wie die Zusammenarbeit danach aussah, schildert der damalige NSA-Chef Hayden, der kurz nach den Attentaten persönlich zu einem Treffen mit den Geheimdienstkollegen nach Europa reiste, jetzt im ZDF.

„Wir waren sehr offen zu unseren Freunden. Nicht nur in Deutschland, aber dort fand das Treffen statt. Wir haben ihnen dargelegt, wie die Bedrohung aussah. Wir waren sehr klar darüber, was wir vorhatten in Bezug auf die Ziele, und wir baten sie um ihre Kooperation“, sagte Hayden. Diese sei auch zugesagt worden. Und sie funktioniert bis heute, so Hayden: „Ohne dass ich da in spezifische Details gehe: Es gibt eine breite Zusammenarbeit zwischen befreundeten Nachrichtendiensten, ja.“

Die Kooperation mit den US-Geheimdiensten wurde demnach in der Regierungszeit von Rot-Grün massiv ausgeweitet, und anschließend von allen Bundesregierungen fortgesetzt.  

Es ist eine gekünstelte Empörung, die Vertreter von Rot-Grün zur Schau stellen. Mit berechtigter Sorge um „massive Grundrechtsverletzungen“  hat das weniger zu tun als mit ritualisiertem Wahlkampftheater.

NSA-Spionage seit Jahrzehnten bekannt

Das massive Abschöpfen elektronischer Kommunikationsdaten seitens der USA war allerdings keine Folge der Anschläge des 11. September 2011. Wie aus einem Bericht des „Echelon“-Ausschusses des Europäischen Parlaments hervorgeht, der eine Woche vor den Angriffen auf das Pentagon und das World Trade Center veröffentlicht wurde, könne es „keinen Zweifel mehr an der Existenz eines globalen Kommunikationsabhörsystems geben, das von den USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada betrieben wird.“ (1)

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte heißt es dort aufschlussreich: „Als beunruhigend bezeichnen die Ausschussmitglieder die Tatsache, dass einige hohe Gemeinschaftspolitiker (darunter Kommissare der EU) behaupten, nichts über die Existenz eines solchen Systems zu wissen.“

Das unter dem Namen „Echolon“ bekannt gewordene Spionagesystem diente vermutlich auch der Wirtschaftsspionage. Diesbezüglich heißt es in dem EU-Bericht: „Von Seiten des Ausschusses wird die Gefahr gesehen, dass der US-Geheimdienst die im Wirtschaftsbereich gesammelten Informationen nicht allein im Kampf gegen Korruption einsetzt, sondern um den USA Wettbewerbsvorteile aufgrund von geheimen Nachrichten zu verschaffen. Nach Einschätzung der Parlamentarier ergibt sich eine untragbare Situation, wenn Nachrichtendienste sich dazu benutzen lassen, ausländische Firmen auszuspionieren, um ihren eigenen Firmen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Dies umso mehr, als dass von mehreren Seiten die Behauptung aufgestellt wird, dass das Echelon-System für diese Zwecke genutzt wird, auch wenn dies nicht an einem konkreten Fall festgemacht werden kann.“

„Die Mitgliedstaaten sollen dringend ihre Rechtssetzung an die Operationen von Geheimdiensten anpassen, damit letztere mit den Grundrechten in Einklang stehen“, so damals die sibyllinische Empfehlung des EU-Ausschusses.

In Folge des 11. Septembers dürfte diese „Anpassung“ dann im Rahmen der verabschiedeten Anti-Terror-Gesetze vorgenommen worden sein.

Bekam die Öffentlichkeit 2001 eine Ahnung davon, dass die NSA Deutschland großflächig ausspioniert, so wusste das Bundesinnenministerium seit über 20 Jahren von diesem Sachverhalt.

Wie der Focus berichtet, habe das Ministerium im Juli 1992 hoch geheime Akten der Stasi-Unterlagen-Behörde eingezogen. Aus den mehr als 13 000 originalen NSA-Dokumenten sei unter anderem hervorgegangen, wie der US-Geheimdienst in den 70er Jahren das Bundeskanzleramt und deutsche Unternehmen wie Siemens überwachte. Auch detaillierte Beschreibungen eines Hochleistungs-Abhör-Systems hätten sich in den Dossiers befunden – vermutlich erste Hinweise auf das „Echolon“-System. Wie großflächig die NSA bereits Ende der 80er Jahre arbeitete zeige auch, dass sie direkten Zugriff auf alle Einwohnermelderegister der Bundesrepublik hatte.

Die DDR-Staatssicherheit hatte die Geheimpapiere dem Bericht zufolge vor allem mit Hilfe eines US-Unteroffiziers abgeschöpft. Die damalige Gauck-Behörde lieferte die Originale an das Innenministerium. Bereits damals zeigten die deutschen Stellen kein Interesse daran, Licht in das Dunkel US-amerikanischer Spionageaktivitäten zu bringen: In untertäniger Manier übergab die Bundesregierung die Originaldokumente an die US-Behörden.  Zurück blieb lediglich ein 14-seitiges geheimes Übergabeprotokoll, das dem Focus nach dessen Angaben vorliegt. Das Innenministerium bestätigte, es habe 1992 „Unterlagen die NSA betreffend“ von der Stasi-Unterlagen-Behörde erhalten. Hintergrund und Verbleib der Akten würden noch überprüft.

Vertraut man auf die Demoskopie, dann hat die Strategie der Bundesregierung, alles auszusitzen und nur das einzugestehen, was bereits öffentlich bekannt wurde, noch zu keinem Einbruch in der Wählergunst geführt.

Eine durchaus riskante Strategie, denn nicht einmal der Medien-Mainstream kauft der Merkel-Regierung die Beteuerung ab, von nichts etwas gewusst zu haben. Immer stärker gerät die Passivität der Bundesregierung unter Druck, die „prüft“ und „anfragt“ was das Zeug hält, aber keine konkreten Schritte einleiten will, um den organisierten Verfassungsbruch zu beenden.

Ohnehin handelt es sich bei dem von deutscher Seite erstellten und an die US-Amerikaner übergebenen Fragekatalog um eine Theaterinszenierung, deren Schlussakt bereits festzustehen scheint.

Anders lassen sich die Worte von EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) kaum interpretieren, der prophezeiend erklärte, die Bundesregierung werde auf ihre Frage nach US-Aktivitäten in Deutschland Antworten bekommen, die zeigten, dass alles zum Erhalt des Datenschutzes getan werde.

Protest regt sich: Weltweiter Aktionstag

Gegen die flächendeckende Überwachung durch in- wie ausländische Geheimdienste und der Weigerung der Bundesregierung, die Verfassungsrechte der deutschen Bürger auch gegenüber dem großen Bruder USA durchzusetzen, regt sich auch außerparlamentarischer Protest.

In dutzenden Städten, darunter Berlin, Hamburg, Köln und München, finden an  diesem Wochenende anlässlich eines dezentralen, internationalen Aktionstages Protestaktionen statt. (2)

Unter dem Motto „Stop watching us –  We are all Edward Snowden“ wird vor allem – zur Freude der NSA – über soziale Netzwerke wie Facebook mobilisiert. Der US-Geheimdienst hat die Protestaktivitäten genau im Blick. Das bekam vor einer Woche auch der 28-jährige Daniel Bangert zu spüren. Nachdem er scherzhaft über Facebook Freunde zu einem gemeinsamen Spaziergang zur streng geheimen US-Einrichtung Dagger Complex in Griesheim eingeladen hatte, um „gemeinsam den bedrohten Lebensraum der NSA-Spione erforschen“, bekam er Hausbesuch vom Staatsschutz. Die deutschen Beamten waren vom US-Militär auf den Facebook-User aufmerksam gemacht worden und wollten nun wissen, was dieser denn im Schilde führe.

Auf den Kundgebungen und Demonstrationen am Wochenende soll nicht nur die Frage „Möchte ich Bürger oder Untertan sein?“ zur gesellschaftlichen Debatte gestellt werden, auch wird die Solidarität mit den Whistleblowern bekundet – jenen Menschen, die auf Missstände und Verbrechen durch die Veröffentlichung geheimer Informationen aufmerksam machen und somit ihre bisherige Existenz aufs Spiel setzen.

„Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der es unmöglich ist, dass ein Arzt vertraulich mit seinen Patienten kommunizieren kann, ein Rechtsanwalt mit seinen Klienten, ein Seelsorger mit Hilfesuchenden oder ein Priester mit einem Beichtenden. Und auch unsere private Korrespondenz geht niemanden, den wir nicht selbst als Adressat auswählen, etwas an“, heißt es in dem Aufruf für die Berliner Demonstration am Samstag.   

Der Aufruf schließt ab mit einem Zitat des derzeit berühmtesten Whistleblowers, dem sich vermutlich immer noch im Transitbereich des Moskauer Flughafens aufhaltenden Edward Snwoden: „Letzten Endes fürchtet sich die Obama-Regierung nicht vor Whistleblowern wie mir, Bradley Manning oder Thomas Drake. Wir sind staatenlos, eingesperrt, oder machtlos. Nein, die Obama-Regierung fürchtet sich vor euch. Sie fürchtet sich vor einer informierten, aufgebrachten Öffentlichkeit, die jene verfassungstreue Regierung einfordert, die ihr versprochen wurde – und das sollte sie sich auch.“

Deutsche Bürgerrechtler wollen den amerikanischen Ex-Geheimdienstmitarbeiter mit einem Preis ehren. Snowden soll den Whistleblower-Preis der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und der Organisation von Anwälten gegen Nuklearwaffen IALANA erhalten. Auch die Korruptionskritiker von Transparency International beteiligen sich dieses Jahr an dem Preis, wie die drei Organisationen am Montag in Berlin mitteilten.

Der Preis wird seit 1999 alle zwei Jahre verliehen. 2011 ging er an „eine anonyme Persönlichkeit“, die das Video eines tödlichen Hubschrauberangriffs von US-Soldaten im Irak öffentlich machte. Die Quelle dafür soll US-Soldat Bradley Manning sein, der sich gegenwärtig vor einem US-Militärgericht verantworten muss. Das Urteil wird zum Wochenende erwartet. Beobachter gehen von einer lebenslangen Freiheitsberaubung oder gar der Verhängung der Todesstrafe aus.

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Anmerkungen
(1) http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=PRESS&reference=DN-20010905-1&format=XML&language=DE#SECTION1
(2) http://demonstrare.de/termine/27-07-stopwatchingus-deutschlandweite-proteste-gegen-prism-und-tempora

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