Innenpolitik

Blutige Nase für Bayerns Schnüffler

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Geheimer „Leitfaden zum Datenzugriff“ der Münchner Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht. Er belegt, was heute an Überwachung möglich ist.

Von RALF WURZBACHER, 30. November 2011 –

In Bayerns Sicherheits- und Justizapparat ist irgendwo der Wurm drin. Der gräbt und wühlt und bringt Sachen ans Tageslicht, die eigentlich niemand wissen darf. Vor zwei Monaten erst hatte er dem Chaos Computer Club (CCC) einen Staatstrojaner des bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) in die Hände gespielt, dessen Fertigkeiten weit über die Grenzen des gesetzlich Statthaften hinausgehen. (1) Aber das war längst nicht alles: Am gestrigen Dienstag (29.11.) gelangte ein „Leitfaden zum Datenzugriff“ der Münchner Generalstaatsanwaltschaft an die Öffentlichkeit, der praktisch das ganze Instrumentarium der Fahndungsbehörden zur Informationsbeschaffung enthüllt. (2) Und der abermals belegt, dass beim Schnüffeln im Freistaat nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht. Publik gemacht hat diesen der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat), für den das „brisante Dokument“ das ganze „Ausmaß an Überwachung in Deutschland“ offenbart.   

Nach einem Bericht des IT- und Technikkanals gulli ist das Schriftstück in Teilen bereits seit Ende September in Umlauf. (3) Veröffentlicht wurde es demnach zunächst vom US-Leakingportal Cryptome, später durch AnonyPwnies, eine Untergruppe des Hackerkollektivs Anonymous. Als undichte Stelle sei dabei ein Bundeswehr-Server genannt worden, was Kritiker allerdings in Zweifel gezogen hätten. Wie der AK Vorrat zu der „nur für den Dienstgebrauch!“ gedachten Verschlusssache in der 39-seitigen Volltextversion gekommen ist, konnte und wollte ihrer Sprecher Kai-Uwe Steffens gegenüber Hintergrund nicht preisgeben. „Die Verantwortlichen werden darüber sicherlich nicht sehr glücklich sein“, meinte er und setzte nach: „Daran zeige sich wieder einmal, dass der Freistaat beim Einsatz von Überwachungstechnik gerne mal fünfe gerade sein lässt und den Vorreiter für den Rest der Republik gibt.“ Auf jeden Fall habe man „ernsthafte und begründete Sorge“, in den anderen Bundesländern könnten „ganz ähnliche Zustände“ herrschen. Alarmierend findet Steffens vor allem die Haltung von Bayerns Fahndern und Staatsanwälten, „so zu tun, als wäre das alles von Recht und Gesetz abgedeckt, während viele Maßnahmen tatsächlich höchst fragwürdig sind oder sogar eklatante Rechtsbrüche darstellen“.

In einer Medienmitteilung listet die Datenschutzinitiative eine Reihe an Dienstvergehen auf. (4) So werde bei der Telefonüberwachung nicht nur in ermittlungsrelevanten Zeiten ausgeforscht, sondern bei Auskunftsersuchen wegen angeblicher Kostenersparnis „ein einheitlicher, gesamter Zeitraum angegeben“. Mitunter würden Staatsanwälte eine Komplettüberwachung der Telekommunikation anordnen, weil die eigentlich erforderlichen Einzeldaten nicht schnell genug zu beschaffen wären. Außerdem würden Netzbetreiber mit unhaltbaren Drohungen unter Druck gesetzt, Verbindungs- und Standortdaten ihrer Kunden herauszurücken. Diese müssten qua Gesetz nur nach Vorlage einer richterlichen Beschlagnahmeanordnung übergeben werden und nicht – wie von der Generalsstaatsanwaltschaft suggeriert – auf einfache Anfrage eines Staatanwalts oder der Polizei.

Obendrein erhielten die Provider laut AK Vorrat keinen “richterlichen Beschluss im Original“ über die Weitergabe von Personendaten. Das lade zu Missbrauch ein, monieren die Datenschützer. Ferner sicherten sich deutsche Staatsanwälte in Eilfällen sämtliche im Ausland gespeicherten Daten „eigenmächtig“, darunter auch Fotos oder Online-Speicherplatz. EU-Recht gestatte dies ohne Einschaltung der zuständigen Behörden allerdings nur im Bereich der Telekommunikation. Im „Leitfaden“ finden sich all die aufgeführten Punkte quasi als Anleitung zur Rechtsbeugung in der Rubrik „Tipps für die Praxis“. Für die Datenschützer sind sie Belege für einen „fahrlässigen Umgang der Ermittler mit verfügbaren Daten und einzuhaltenden Rechtsvorschriften“. Erschreckend ist das Dokument aber auch deshalb, weil es einen umfassenden Überblick dazu liefert, was die moderne Überwachungstechnik heutzutage an Möglichkeiten hergibt, was praktiziert wird – und zu großen Teilen mit Recht und Gesetz vereinbar ist.

Insgesamt sind 15 Schnüffelmethoden aufgeschlüsselt, angefangen bei der „Aufzeichnung von Telekommunikation“ bis zur „Zielwahlsuche zur Ermittlung von Rufnummern, zu denen Verbindungen zu einem bekannten Anschluss hergestellt wurden“. Darüber hinaus können im Verdachtsfall Handy-, Smartphone- und SIM-Kartenspeicher ausgewertet, die Inhaber von Rufnummern, IP- und E-Mail-Adressen identifiziert oder der Standort von Mobiltelefonen in Echtzeit beobachtet werden. E-Mail-Postfächer können ausgespäht, Mailboxen abgefragt, externe PC-Speicher online durchsucht, Telefonate einzelner Handynutzer oder die Kommunikation in einer ganzen Funkzelle verhindert werden. Der Austausch in Internetforen und Chatrooms kann per Liveschaltung mitgelesen, Autos können geortet, Bewegungsbilder mittels „stiller SMS“ erstellt werden. Nutzerdaten, die ausländische Firmen wie Google, YouTube, Skype und Microsoft speichern, lassen sich gemäß „Leitfaden“ sogar „präventiv“ und „sehr schnell“ erlangen.  Sogar verschlüsselte Internetkommunikation darf im Bedarfsfall mit Hilfe der sogenannten Quellen-TKÜ aufgezeichnet und auswertet werden.

Der AK Vorrat hat die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) aufgefordert, die „dokumentierten Rechtsbrüche der Generalstaatsanwaltschaft sofort abzustellen“. Überdies will man wissen, wie es kommt, dass die „Überwachung von Auslandsgesprächen zur Zeit offenbar selbst bei konkretem Terrorverdacht nicht möglich ist“. Laut „Leitfaden“ sind die fraglichen Überwachungsvorrichtungen nämlich „auf Jahre hinaus ausgebucht“. Für die Datenschützer ist dies ein weiteres Argument gegen eine verdachtslose Vorratsdatenspeicherung. Solange nicht einmal die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur gezielten Überwachung Tatverdächtiger ausgeschöpft würden, sei es „nicht akzeptabel, eine ungezielte Vorratsspeicherung des Kommunikationsverhaltens völlig Unverdächtiger“ zu verlangen, heißt es in besagter Presseerklärung.

Von neuem laut geworden ist der Ruf nach Einführung der im März 2010 vom Bundesverfassungsgericht untersagten Vorratsdatenspeicherung im Zusammenhang mit den Enthüllungen über einen jahrelang „übersehenen“ Rechtsterrorismus. Der AK Vorrat hält das für reichlich lächerlich: Man glaube „doch wohl nicht im Ernst, mit den im Fall der Zwickauer Zelle unterlaufenen Ermittlungspannen und Inkompetenz eine Totalprotokollierung der Verbindungen völlig unverdächtiger Bürger durchsetzen können“. Wer trotz Vorliegens eines Haftbefehls gegen Bombenbauer Verhaftungsmöglichkeiten ungenutzt verstreichen lässt, „dem ist mit keinem Überwachungsgesetz zu helfen“, schreiben die Datenschützer und weiter: Ginge es wirklich darum, die Ermittlungsbehörden zu stärken, sollte man vielmehr die „Geheimdienste auflösen“.


(1) http://www.hintergrund.de/201110091763/politik/inland/chaos-computer-club-qstaatstrojanerq-rechtlich-und-technisch-fragwuerdig.html

(2) http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/leitfaden_datenzugriff_voll.pdf

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(3) http://www.gulli.com/news/17589-datenschuetzer-veroeffentlichen-leitfaden-zum-datenzugriff-2011-11-29

(4) http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/494/1/lang,de/

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