Innenpolitik

Die Humanistin

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Ein Land, in dem Angela Merkel, die Architektin zweier Asylrechtsverschärfungen und eines Abschottungsdeals mit dem Erdogan-Regime in der Türkei, als Flüchtlingsfreundin gilt, hat ein Problem. –

Ein Kommentar von THOMAS EIPELDAUER, 1. März 2016 –

Eine Stunde hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Sonntag im ARD-Talk „Anne Will“ der Moderatorin zum Thema Flüchtlingskrise Rede und Antwort gestanden. Lob erhielt die Kanzlerin im Anschluss auch aus eher unüblicher Richtung. Sie sei „aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt“, attestierte der Grünen-Parlamentarier Konstantin von Notz via Twitter. „Die Campaigner basteln schon für 2017: ‚Wer Merkel will, muss Grün wählen’“, ergänzte sein Parteikollege Dieter Janecek. Die taz erkannte „eine Ohrfeige für die CSU-Kleingeister“, und auch die Zeit sah die CDU-Politikerin im Kampf „gegen den Kleingeist“.

Merkel, das wurde erneut klar, gilt bis in linksliberale Kreise hinein mittlerweile als Trutzburg des Humanismus in einer Zeit des Verfalls zivilisatorischer Mindeststandards. Tatsächlich gibt es einige Gründe, die diese Sicht untermauern: Die Kanzlerin verweigert sich strikt dem (tatsächlich ohnehin sinnlosen) Diskurs über „Obergrenzen“, anders als viele andere in ihrer Partei findet sie klare Worte zur Distanzierung vom ausländerfeindlichen Mob, der immer lauter und sichtbarer wird.

Die Abgrenzung zu denen, die noch weiter rechts stehen, zu AfD, „besorgten Bürgern“ und nicht zuletzt zur Schwesterpartei CSU ist es auch, die ihr den Ruf beschert, eine im Grunde moderate und am Wohlergehen der von Krieg und Not Vertriebenen orientierte Flüchtlingspolitik zu machen. Aber ist das wirklich so?

Konsens: Flüchtlingsabwehr
 
Die Antwort ist einfach: Nein. Der Ansatz der Bundesregierung unterscheidet sich zwar von dem des rechten Randes in einigen zentralen Punkten. Ein gänzlich anderer ist er nicht. Die Überschneidung besteht im Prinzipiellen. Dissens mag darüber bestehen, auf welches Maß der Neuzuzug reduziert werden soll, in welcher Geschwindigkeit und mit welchen Mitteln. Flüchtlingsabwehr aber ist von CDU über CSU bis zur AfD das Gebot der Stunde und auch die Kanzlerin verfolgt kein anderes Projekt.

Das bezeugt, bei aller „Wir-schaffen-das“-Rhetorik, die Realpolitik der Großen Koalition. Mehrfach hat sie das Asyl- und Bleiberecht verschärft, in einem seit den 1990er-Jahren ungekannten Ausmaß. Erst vergangene Woche verabschiedete sie mit dem „Asylpaket 2“ Maßnahmen, die man vor einigen Jahren noch eher im Programm von NPD oder Republikanern vermutet hätte, als in Gesetzesvorlagen einer Bundesregierung: Spezielle Aufnahmezentren, in denen beschleunigte Asylverfahren durchgedrückt werden und für deren Insassen strenge Residenzpflicht gilt; Aussetzung des Familiennachzugs für einige Gruppen von Flüchtlingen; schnellere Abschiebungen, weniger Sicherheit vor Ausweisung im Krankheitsfall.

Schon vor dieser jüngsten Aushöhlung waren die Anstrengungen, Flüchtlinge abzuschrecken, beachtlich. Staaten, in denen – wie in Afghanistan – eine katastrophale Sicherheitslage den Lebensalltag bestimmt, wurden zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt, Leistungen für Asylwerber gekürzt. Über Monate wurde das Chaos in vielen Erstaufnahmeeinrichtungen und Lagern nicht beseitigt, das für viele Menschen extreme Belastungen mit sich brachte: Tage-, oft wochenlanges Warten, Mangel an medizinischer Versorgung, oft genug Obdachlosigkeit.

Der Rowdy als Türsteher  

Der eigentliche Kern der Strategie der Kanzlerin zur Beilegung der Krise aber liegt auf außenpolitischem Gebiet. Immer wieder betonte sie auch bei Anne Will den Deal, den Berlin im Moment mit der türkischen Regierung aushandelt, und von dem sich Angela Merkel eine spürbare Verringerung der Grenzübertritte nach Europa verspricht. Der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Premier Ahmet Davutoglu sollen drei Milliarden Euro überwiesen werden, neben anderen weitreichenden Zugeständnissen, um Ankara zur Sicherung der Grenzen zu Europa zu bewegen.

Nicht nur ist die Situation für Flüchtlinge in der Türkei humanitär prekär. Und nicht nur ist es ein irrwitziges Vorhaben, Milliardenbeträge an eine Regierung zu überweisen, die sich nachweislich über viele Jahre durch Korruption selbst bereichert hat. Absurd wird es, wenn man einbezieht, dass die türkische Regierung selbst seit Jahren maßgeblich an der Schaffung von Fluchtgründen beteiligt ist. In Syrien unterstützte und unterstützt sie verschiedene dschihadistische Milizen und greift immer wieder die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG an. In den kurdischen Regionen der Türkei hat sie einen Krieg vom Zaun gebrochen, der schon jetzt Hunderttausende Menschen zu Binnenflüchtlingen gemacht hat. Wird er länger dauern, werden auch sie sich nach Europa aufmachen. Angela Merkels Strategie besteht im Wesentlichen darin, den Rowdy Recep Tayyip Erdogan zum Türsteher einer auch von innen militärisch abgesicherten Festung Europa zu machen.

Der Mob und die Politik

Dass trotz alledem der Eindruck entstehen konnte, Merkel stemme sich dem Rechtsruck in Deutschland mit aller Kraft entgegen, liegt an der rasanten Geschwindigkeit, mit dem das Land in eine Kultur des Ressentiments und des Hasses gegen „Fremde“ abdriftet. Die Asyldebatte der 1990er Jahre hatte gezeigt, so schrieb der Historiker Ulrich Herbert, „dass unter der mittlerweile für tragend gehaltenen Eisdecke von Zivilisation und Liberalisierung nach wie vor ein Sumpf von Xenophobie und Gewaltbereitschaft existierte und dass es bei entsprechenden Anlässen und bei Unterstützung von oben leicht möglich war, diese Eisdecke zu sprengen.“

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Die zivilisatorische Eisdecke ist heute erneut dabei, zu brechen. Ähnlich wie in den 1990er Jahren lässt sich die bürgerliche Mitte vom besorgten Mob vor sich her treiben und verleiht den „Sorgen“ derer, die Flüchtlingskinder anbrüllen, vor Heimen randalieren oder sie gleich anzünden, noch den Schein von Legitimität. Angela Merkel, die eine auf Abschottung, militärische Grenzsicherung und die Auslagerung der Verantwortung in autoritäre Staaten orientierte Flüchtlingspolitik betreibt, kann als Bewahrerin moralischer Werte gelten, weil wir mittlerweile in einem Land leben, in dem eine Partei wie die Alternative für Deutschland zweistellige Umfrageergebnisse erzielt, eine Mehrheit der Bevölkerung eine „Obergrenze“ für die Aufnahme von Flüchtlingen fordert und bereits im Jahr 2015 an die 800 Anschläge auf Flüchtlingsheime zu verzeichnen waren.

Merkel weigert sich – anders als einige ihrer Parteikollegen in CDU und CSU – bislang, dem rassistischen Mob auch verbal Zugeständnisse zu machen. Dass das schon ausreicht, um bis in Oppositionskreise hinein als Humanistin zu gelten, zeigt, wo Deutschland wieder einmal angelangt ist.

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