Innenpolitik

Die Nacht, in der für Flüchtlinge eine neue Zeit begann

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Eine Reportage und ein kritischer Rückblick auf die Kölner Silvesternacht –

Von FABIAN KÖHLER, 4. März 2016 –

Wenn die Silvesternacht von Köln die Bedeutung einer historischen Schlacht hätte, dann würde Markus Böhm als einer ihrer wichtigsten Kriegsberichterstatter in die Geschichte eingehen. „Ja, ich bin quasi der, der alles ins Rollen gebracht hat“, stellt er sich auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofes kurz vor, bevor er schon wieder in die Kamera seines Handys lächelt: „Nur ein kurzes Update für meine Follower auf Facebook.“

Genau dort drüben habe er das Video damals aufgenommen, „bevor es um die ganze Welt ging“, sagt er und fasst die Silvesternacht noch einmal in Steno und dramatisch zusammen: „Böller in meine Richtung, Säuglinge im Kinderwagen, mein Vater ist Baujahr 32, ich kam mir vor wie im Krieg.“ Vielleicht ist Böhms Kriegsmetapher gar nicht so abwegig: Blickt man zwei Monate zurück auf die Folgen der Kölner Silvesternacht, hätte wohl auch ein von Flüchtlingen begangener Terroranschlag nicht verheerender sein können.

Zum ersten Mal will eine Mehrheit der Deutschen weniger Flüchtlinge

Kein anderes Ereignis hat die Flüchtlingsdebatte in Deutschland so stark beeinflusst wie die sexuellen Übergriffe in der Nacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016 im und um den Kölner Hauptbahnhof: In Meinungsumfragen fordert zum ersten Mal eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, zu begrenzen.(1)

Für einen großen Teil der Gesellschaft ist allein der Begriff „Silvesternacht“ zum Synonym für das Scheitern von Angela Merkels Flüchtlingspolitik geworden. Zum Beleg dafür, dass offene Grenzen vor allem die massenhafte Einwanderung von unzivilisierten, sexuell enthemmten Gewalttätern bedeutet. Dafür, dass all jene, die auf Pegida-Demonstrationen, AfD-Podien oder in Facebook-Posts den Untergang des Abendlandes beschworen, zu Unrecht als Rassisten gebrandmarkt wurden.

„Ich habe einfach mal gefilmt. Nie hätte ich gedacht, dass das Video solche Wellen schlägt“, sagt Markus Böhm und verteilt nebenbei Visitenkarten an Passanten: „Haben Sie das Video über die Silvesternacht gesehen? Das ist von mir.“ Bis zum 30. Dezember war Böhm Lokalreporter im Rhein-Sieg-Kreis. Seine Themen: Kellerbrände, Feuerwehreinsätze und Vermisstengesuche der Polizei. Nun ist sein Video weltweit nahezu das einzige Bewegtbildzeugnis für die Nacht, nach der nicht nur für ihn nichts mehr ist, wie es war.

Es dauert eine Weile, bis Böhm sämtliche Medien aufgezählt hat, die sich in den letzten Wochen bei ihm gemeldet haben: „Sat.1, Pro7, N24, Kabel 1, RTL, ARD, ZDF, im türkischen Fernsehen lief ich, ein russischer Sender hat sich gemeldet, in der New York Times war ich auch …“ Das Medieninteresse brauchte nicht zu überraschen, würde es sich bei Böhms Video tatsächlich um das einzige handeln, das die Übergriffe bezeugt. Doch in Wahrheit sind auf dem Video weder sexuelle Übergriffe noch überhaupt identifizierbare Straftaten zu sehen. Stattdessen: Böller, Blaulicht, Raketen, grölende Jungs – mehr oder weniger eine normale Silvesternacht. „Nein, von sexuellen Übergriffen habe ich nichts mitbekommen“, meint Böhm. „Ich kann mir vorstellen, dass es da viele Lustmolche gibt, aber ob das in den Medien jetzt alles so stimmt …?“ Das solle die Polizei herausfinden, sagt er und tippt etwas in sein Handy.

Polizei, Staatsanwaltschaft und Medien suchen Antworten. Aber auf welche Frage?

Allein die nackten Zahlen polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen erinnern an einen Terroranschlag: 150 Mann umfasst die Sonderkommission „Neujahr“ der Kölner Polizei. 1.110 Anzeigen sind bis zum 7. März eingegangen, so Kölns Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer gegenüber Hintergrund. Sie beziehen sich auf die Gegend um den Hauptbahnhof im Zeitraum zwischen 22 Uhr abends und 7 Uhr morgens. 471 davon betreffen sexuelle Übergriffe unterschiedlicher Art. Es sind 106 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Aktuell (Stand 07.03.16) sind 84 Strafverfahren anhängig, davon 20 wegen sexueller Übergriffe. 65 Beschuldigte kommen aus den Maghrebstaaten Marokko, Algerien und Tunesien, 12 Beschuldigte  kommen aus Deutschland, Syrien und Irak (jeweils 3-5 Beschuldigte), die restlichen 6 Strafverfahren richten sich gegen jeweils einen Täter aus den Ländern Eritrea, Afghanistan, Montenegro, Libanon, Iran und Libyen. Die Herkunft eines weiteren Täters ist unbekannt. (Anm.: Die Angaben wurden von der Redaktion am 8. März nach Rücksprache mit der Kölner Staatsanwaltschaft aktualisiert.)

Neben Polizei und Staatsanwaltschaft kümmert sich seit dem 22. Februar außerdem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss um die Aufklärung. Und da sind noch Dutzende, vielleicht Hunderte Journalisten, die auch zwei Monate nach der Silvesternacht nach Antworten suchen – ja, worauf eigentlich? Ob Migranten öfter sexuell übergriffig werden als Deutsche? Ob die Polizei versagt hat? Ob Asylbewerber unter den Tätern waren? Ob das Problem des Sexismus nicht viel größer ist, als es sich in dieser einen Nacht darstellte? Ob die Vorfälle missbraucht werden, um Migranten zu diskriminieren? Wie viele Frauen nun eigentlich zu Opfern wurden? Ob Merkels Flüchtlingspolitik gescheitert ist?

27 Seiten lang

„Warum habe ich nicht reagiert, als ich die Nachricht bekommen habe?“ Diese Frage stellt sich Betina Krämer seit der Silvesternacht. Krämer feierte nicht am Kölner Hauptbahnhof, ihre beste Freundin schon. Zwei Monate später sitzt Betina Krämer am Küchentisch ihrer Kölner Altbauwohnung und erzählt, wie sich ihre Freundin seitdem verändert hat. Von den Stimmungsschwankungen, der psychologischen Betreuung, dem Pfefferspray in ihrer Tasche.

„An der Hohenzollernbrücke ist sie mit ihren Freunden in eine Menge aus arabischen Männern geraten“, erzählt Krämer, die in Wirklichkeit anders heißt. „Auf WhatsApp hat sie uns geschrieben, dass ihr jemand in den Schritt gefasst hat.“ Wie schlimm es ihrer Freundin tatsächlich erging, dass ihr ganzer Körper mit blauen Flecken übersät war, erfährt sie ebenso erst Tage später wie die Tatsache, dass eine Bereitschaftspolizistin ihre Freundin tatenlos wegschickte, anstatt ihr zu helfen. Sie erfährt von den insgesamt vier quälenden Befragungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft; davon, dass die Frage „War der Finger drin?“ darüber entscheidet, ob es sich um eine Vergewaltigung handelt.

Mitte Januar veröffentlicht das nordrhein-westfälische Innenministerium eine Auflistung aller bis dahin angezeigten Fälle.(2) „Es war widerlich, im Polizeibericht zu lesen, was meiner Freundin passiert ist“, sagt Betina Krämer. Das Dokument listet neben Ort, Art und Uhrzeit auch eine kurze Beschreibung der mutmaßlichen Straftaten auf: „Der Geschädigten wurde in den Intimbereich gegriffen (…), sie wurde von fünf Tatverdächtigen umzingelt und man versuchte ihr unter den Rock zu greifen (…), ihr wurde mehrfach von mehreren Personen an den Hintern und in den Intimbereich gefasst (…), sie wurde an den Po und zwischen die Beine gepackt (…), sie wurde in einer großen Menge am Körper und im Intimbereich angefasst (…).“ 27 Seiten lang geht das so.

Wie viele Anzeigen es im Vorjahr gab, will die Polizei nicht verraten

Seit Köln diskutiert das Land auch darüber, ob Medien zu spät oder zu früh, zu viel oder zu wenig über die Übergriffe berichtet hätten. Während die einen in der zögerlichen Berichterstattung vieler Medien in den ersten Tagen des neuen Jahres ihren „Lügenpresse“-Vorwurf bestätigt sehen, kritisieren andere Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und Migranten. In der Post-Köln-Debatte geht es auch darum, ob die Medien wohl ebenso umfangreich berichtet hätten, wäre die sexuelle Gewalt von weißen Deutschen ausgegangen. Man fragt sich, ob auf dem Münchner Oktoberfest Belästigungen nicht genauso selbstverständlich sind. Und ob massenhafte sexuelle Gewalt auf engstem Raum nicht gerade in der Karnevalsstadt Köln ebenso traurige wie dauerhaft ignorierte Tradition hat.

Von einer „völlig neuen Dimension organisierter Kriminalität“ spricht Justizminister Heiko Maas Anfang Januar. Darüber, wie groß diese Dimension tatsächlich ist, herrscht allerdings auch zwei Monate später noch Rätselraten. Wie viele Anzeigen es während der Silvesternächte der Vorjahre gab, will die Kölner Polizei auf Nachfrage nicht sagen. „Das hat technische Gründe bei der Erhebung“, so Dorothe Goebel vom Kölner Polizeipräsidium. Die Zahlen seien ohnehin nicht vergleichbar.

Das Medienereignis „Kölner Silvesternacht“ beginnt auf Facebook

Sicher ist deshalb nur: Es gab sexuelle Übergriffe. Und es gab viele. Ihre Dokumentation beginnt auf Facebook: „Nett Werk Köln“ heißt eine Gruppe in dem sozialen Netzwerk; hier erscheint bereits an Neujahr die erste Veröffentlichung. Kölner verkaufen über diese Plattform überschüssige Konzerttickets, fragen nach den günstigsten Telefonanbietern oder verabreden sich zum Feierabendsport. Zu einem Zeitpunkt, als die Kölner Polizei noch twittert: „Ausgelassene Stimmung – weitgehend friedlich“, postet hier jemand den ersten Bericht über sexuelle Gewalt während der Silvesternacht.

Am Nachmittag des 1. Januar berichtet der Kölner Stadt-Anzeiger online über zwei junge Frauen, die belästigt wurden.(3) In der folgenden Woche machen Dutzende Frauen ihre Geschichten öffentlich. Von Stern TV bis zur New York Times, vom Guardian bis zum WDR präsentieren Medien immer neue Augenzeuginnen, wobei der WDR als  Zeugin eine Mitarbeiterin aus dem eigenen Haus zu Wort kommen lässt, ohne jedoch darauf hinzuweisen. Das Schema der Gewalt, das sie schildern, ist immer das gleiche: Die meisten von ihnen berichten, dass es sich bei der übergroßen Mehrheit der Anwesenden vor dem Kölner Hauptbahnhof um junge arabische Männer gehandelt habe. Selbst für eine Multi-Kulti-Stadt wie Köln ist das ungewöhnlich. Immer machten sich die Täter im Schutz der Massen über die Opfer her. Oft reagierte die Polizei zu zögerlich oder ließ die Opfer ganz abblitzen.

Mit jedem Medienbericht wächst die Angst

Doch im Rennen um die krasseste Geschichte geraten auch zweifelhafte Berichte an die Öffentlichkeit. Wie der des im Auftrag einer Sicherheitsfirma arbeitenden Türstehers Ivan Jurcevic, ehemaliger Kickboxer und heute als Bodyguard und Schauspieler tätig.(4) Auch sein Auftritt beginnt auf Facebook.(5) In einem Video berichtet er von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. „Die Menschen, die wir vor drei Monaten noch mit Teddybären und Wasserflaschen empfangen haben, haben angefangen auf den Dom zu schießen“ und „Typen auf dem Boden den Kopf einzuschlagen“, spricht er in seine Smartphone-Kamera.

Dutzende Medien verbreiten das Video, ohne seine Geschichte auf Plausibilität zu prüfen; ohne zu erwähnen, dass sein Auftraggeber – das am Bahnhof gelegene Excelsior-Hotel – sich von dem Türsteher distanziert hat und dass auch die Polizei Jurcevics Geschichte nicht bestätigen konnte. Am Ende haben Millionen Menschen das Video gesehen. Und mit jedem Klick wächst die Angst.

Im medialen Wettbewerb um die krasseste Story bleiben die leisen, unaufgeregten Stimmen ungehört. Aber auch sie sind wichtig, um herauszufinden, was in dieser Nacht wirklich passiert ist. Die Stimme von Mathilda Goller ist so eine. Auch sie hat das neue Jahr vor dem Kölner Hauptbahnhof begrüßt. Und doch unterscheidet sich ihre Erinnerung an die Silvesternacht entscheidend von dem Bild, das die meisten Medien zeichnen. „Ich war mit einer Gruppe von Leuten unterwegs. Wir waren von 11 bis 2 Uhr an der Domplatte. Und uns ist da eigentlich nichts wirklich aufgefallen“, sagt die 19-Jährige. „Da ist schon mal ein Böller blöd gelandet, aber das ist für solche Abende doch normal.“ Es sind viele Kölner, die ganz andere Erinnerungen an die Silvesternacht haben.

Im Wettbewerb um die krasseste Story bleiben die leisen Stimmen ungehört

Mathilda Goller hat darum gebeten, dass ihr Name geändert wird. Was sonst passieren kann, zeigt der Fall von Regina Schlehek. Die Krimi-Autorin war schon vor der Silvesternacht eine lokale Berühmtheit. Auf die Öffentlichkeit, die ihr in den Wochen danach entgegenschlug, hätte sie aber gerne verzichtet. Auch sie hatte die Neujahrsnacht am Kölner Hauptbahnhof verbracht. Auch sie war in eine Menge arabischer junger Männer geraten. Was dann passierte, hat sie später auf Facebook gepostet: „Alle Menschen um mich herum haben sich außerordentlich ruhig, geduldig und sehr achtsam verhalten. (…) Die Männer um mich herum – und das waren sehr, sehr viele – haben sich sehr bemüht, mir trotz des Gedränges nicht zu nahe zu kommen (…).“(6)

Was Regina Schlehek danach widerfuhr, erzählt sie in einem Eiscafé in Leverkusen: Hunderte Droh-E-Mails, Anrufe und Kommentare auf Facebook habe sie in den Tagen und Wochen nach dem Post erhalten. „Ich habe tagelang nicht geschlafen, nichts gegessen, mich übergeben“, erzählt sie. Trotz aller Anfeindungen bleibt sie bei ihrer Version: Beim Karneval gehe es jedes Jahr schlimmer zu als in der Neujahrsnacht vor dem Bahnhof: „Ich kenne viele Menschen, die auch mittendrin standen und nichts von Übergriffen mitbekommen haben.“ Vorwürfe macht sie den Medien, die „das maßlos aufgebauscht und völlig ungefiltert Zeug wiedergegeben haben“.

Regina Schlehek erzählt von jenen Berichten, die man vor Köln allenfalls auf rechtsradikalen Blogs lesen konnte und die seit der Silvesternacht zum festen Bestandteil der Berichterstattung auch größerer Tageszeitungen geworden sind: vermeintliche Flüchtlinge, die deutsche Frauen in der Sauna belästigen. Angebliche Sex-Attacken afghanischer Schulkinder auf ihre weißen Mitschülerinnen. Neuerliche Fälle von sexuellen Übergriffen im Kölner Hauptbahnhof, die sich später als harmlose Anrempler herausstellten.

Pfefferspray-Hersteller sind die Gewinner der Silvesternacht

So konstruiert viele dieser Vorfälle auch sind – real sind die Folgen der Berichterstattung: In einer repräsentativen Forsa-Umfrage gab Ende Januar jeder sechste Befragte an, nach den Übergriffen von Köln sein Verhalten gegenüber Migranten geändert zu haben.(7) In der jährlichen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach zu den Zukunftsaussichten der Deutschen(8) äußerte ebenfalls im Januar erstmals eine Mehrheit der Befragten, dem neuen Jahr sorgenvoll entgegenzublicken. Nach konkreten Sorgen gefragt, sagten sogar 82 Prozent von ihnen, sie hätten Angst vor Gewalt und Kriminalität. Im Jahr zuvor lag der Wert noch um 22 Prozent niedriger.

Vom Post-Köln-Stimmungswandel profitieren vor allem Waffenhersteller. „Wir gehen davon aus, dass die Vorfälle der Silvesternacht die Nachfrage nach frei verkäuflichen Verteidigungsmitteln zusätzlich anheizen werden“, äußert der Geschäftsführer des Verbands Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler (VDB), Ingo Meinhard, gegenüber der Zeitung Die Welt. (9) Die Branche hatte bereits im Jahr 2015 ihre Umsätze mehr als verdoppelt. Im Januar 2016 seien in Nordrhein-Westfalen fast 3.100 mehr Anträge für einen „kleinen Waffenschein“ eingegangen als im Dezember des Vorjahres, zitierte die Rheinische Post aus der Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU . (10)  Allein in Köln gingen laut Angaben des Polizeipräsidiums in den ersten zwei Januarwochen 304 Anträge ein. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2015 wurden in Köln 408 „kleine Waffenscheine“ ausgestellt, (11) die unter anderem zum Tragen von Gas- und Schreckschusspistolen berechtigen.

Dass sich das gestiegene Gewaltpotenzial nicht auf Selbstverteidigung beschränkt, lässt sich ebenfalls in Köln beobachten. Wenige Tage nach der Silvesternacht prügelte in der Nähe des Hauptbahnhofes eine Gruppe aus zwanzig Hooligans auf sechs Pakistaner ein. Es war einer von mindestens fünf fremdenfeindlichen Übergriffen in Köln – allein in den ersten zwei Wochen dieses Jahres.

Polizeiführung und Innenministerium uneins

Die Äußerungen von NRW-Innenminister Ralf Jäger waren es, die das Thema „sexuelle Übergriffe“ zu einem Teil der deutschen Flüchtlingsdebatte machten. Er blies am 4. Januar seine Version der Silvesternacht über das Boulevardblatt Express in die Öffentlichkeit: „Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen.“ (12) Demgegenüber äußerte sich der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers weitaus zurückhaltender und vor allem differenzierter. Auf der Pressekonferenz am 5. Januar erklärte er: „Wir haben derzeit keine Erkenntnisse über Täter. (…) Wir haben bisher noch keinen Tatverdächtigen, das heißt, wir wissen auch nicht, wer die Täter sind. Das einzige was wir wissen, was wir an Erkenntnislagen haben, ist zum einen, dass die Kräfte – also die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten vor Ort – wahrgenommen haben, dass es sich dort überwiegend um junge Männer gehandelt hat, im Alter von 18 bis 35 Jahren, die aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum stammen. Dieses stimmt überein mit den Erklärungen der Opfer, auch die beschreiben die potenziellen Täter genau so. Mehr kann ich im Moment zu der potenziellen Tätergruppe nicht sagen – und mehr will ich auch nicht sagen.“

Die Frage eines Journalisten, ob es sich bei den Tatverdächtigen um Flüchtlinge handelt, beantwortete der Polizeipräsident: „Ich kann dazu sagen, dass Personen überprüft worden sind und die haben sich mit derartigen Papieren ausgewiesen. Aber allein dadurch, dass man überprüft worden ist, heißt noch nicht, dass man Tatverdächtiger ist. Insofern kann ich nicht sagen, dass diejenigen, die überprüft worden sind, identisch mit Tatverdächtigen sind. Ich bin da sehr vorsichtig mit der Identifizierung.“

Eine Journalistin spricht von 1.000 Tätern. Dazu Albers sehr dezidiert: „Noch einmal deutlich: Es gibt keine tausend Täter. Es gibt eine Gruppe von tausend Menschen, aus der heraus Straftaten begangen worden sind. Es gibt keine tausend Täter! Ich habe 90 Strafanzeigen, die sich auf Taten beziehen. Das heißt aber nicht, dass es 90 Straftäter gibt.“ (13)

Am selben Tag, an dem Ralf Jäger mit seinem Statement die Flüchtlingsdebatte anheizte, verfasste ein leitender Beamter der Bundespolizei seine interne „Ergänzung zur ESM – Einsatzerfahrungsbericht“. (14) Dieser Bericht landete wenig später bei der Bild-Zeitung, die am 7. Januar daraus den Aufmacher „Sex-Mob – Das geheime Polizei-Protokoll“ machte. (15)

Auch die interne Einsatznachbereitung der Kölner Polizei vom 2. Januar wurde nach den Äußerungen Ralf Jägers bekannt gemacht. Darin heißt es, „dass sich gegen 21.00 Uhr bereits etwa 400 ‚Flüchtlinge’ im Bereich des Bahnhofsvorplatzes aufgehalten haben und dort erheblich alkoholisiert unter massiver Verwendung von Feuerwerkskörpern feiern sollen.“ Und weiter: „Tatsächlich konnten gegen 22.48 Uhr im Bereich Roncalliplatz / Domplatte / Bahnhofsvorplatz mehrere tausend Personen (genaue Verifizierung nicht möglich) mit Migrationshintergrund (vermutlich Flüchtlingsbezug) festgestellt werden. Allein auf dem Bahnhofsvorplatz (einschließlich Domtreppe) hielten sich ca. 1.000 bis 1.500 Personen (der optischen Erscheinung nach überwiegend männliche Personen nordafrikanischer bzw. arabischer Herkunft im Alter zwischen ca. 15 und 35 Jahren) auf. (16)

Das Bild von Flüchtlingen als Haupt-Tätergruppe verfestigte sich zusätzlich, als Spiegel-online am 7. Januar ebenfalls aus dem Erfahrungsbericht des Bundespolizisten zitierte. „Frauen mit Begleitung oder ohne durchliefen einen wahren Spießrutenlauf durch die stark alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann.“. Die Situation hätte „zu erheblichen Verletzungen, wenn nicht sogar zu Toten führen“ können. Aus diesem Bericht stammen auch die mittlerweile berühmten Schilderungen, Asylsuchende hätten ihre Aufenthaltstitel „mit einem Grinsen im Gesicht“ zerrissen und Polizisten entgegnet: „Ihr könnt mir nix, hole mir morgen einen Neuen.“ Ein Flüchtling wird mit den Worten zitiert: „Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich eingeladen.“ (17) Gleich, ob die Worte wirklich so gefallen sind – es sind Zitate, die man sich zum Schüren flüchtlingsfeindlicher Stimmungsmache nicht besser hätte ausdenken können.

Spätestens, als am selben Tag der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete, dass der zuständige Dienstgruppenleiter der Kölner Polizei aus politischen Gründen die Herkunft der Verdächtigen verheimlicht haben soll, (18) ist für viele die Schuldfrage geklärt.

Am folgenden Tag, dem 8. Januar, wurde Wolfgang Albers in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Ihm wurde vorgeworfen, die Lage falsch eingeschätzt zu haben und „den Flüchtlingsbezug zunächst vertuscht zu haben“. (19)

Seit Ende Februar ermittelt die Kölner Polizei gegen Beamte aus den eigenen Reihen und aus der Bundespolizei, auf welchem Wege interne Berichte an die Presse gelangen konnten. (20)

Gegenüber Flüchtlingen ist die Stimmung seit Köln gekippt

Und dennoch haben Flüchtlinge viel mit der Silvesternacht zu tun – nicht als Täter, sondern als zweite Opfergruppe. „City of Hope Cologne“ heißt eine Facebook-Gruppe, in der Freiwillige die Hilfe für Flüchtlinge in Köln koordinieren. Es ist schwierig, ihren Gründer ans Telefon zu bekommen. „Kannst du später nochmal? Ich habe gerade wieder eine Familie am Bahnhof“, entschuldigt sich Alexander Schön einige Male, bevor er dann doch seine Erinnerungen an die Silvesternacht schildert.

Auch Schön verbringt die Silvesternacht am Bahnhof. Nicht, um zu feiern, sondern um Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Auch er erlebt einen überfüllten, teils chaotischen Bahnhof. Auf der Wache der Bundespolizei begegnen ihm aufgelöste Mädchen, seinem Dolmetscher werden 250 Euro Spendengelder gestohlen. Mit dem medialen Bild einer Silvesternacht, in welcher der Staat angesichts Hunderter krimineller Migranten sein Gewaltmonopol aus der Hand gegeben habe, kann Schön hingegen nichts anfangen: „Als ich die Berichterstattung hörte, was an dem Abend alles passiert sein soll, das wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Das hab ich an Karneval schon genauso gesehen“, sagt Schön und beginnt von dem Teil seiner Arbeit zu erzählen, für den die Silvesternacht tatsächlich eine Zäsur darstellt. Davon, dass in seiner Facebook-Gruppe statt Hilfsangeboten plötzlich immer öfter flüchtlingsfeindliche Kommentare auftauchen. Und über die Angst unter den Flüchtlingen: „Die Stimmung ist gekippt. Wenn die Leute vorher erfahren haben, was ich tue, haben sie gefragt, wie sie helfen können. Jetzt bleiben sie meistens stumm.“

Die gesunkene Hilfsbereitschaft ist bei Weitem nicht die schlimmste Folge, die die Kölner Silvesternacht für Flüchtlinge gebracht hat. „Wir haben uns darauf verständigt, die Ausweisung von kriminellen Ausländern weiter zu erleichtern. Und Flüchtlingen, die Straftaten begehen, werden wir künftig konsequenter die rechtliche Anerkennung als Flüchtling versagen“, erklärten Bundesjustiz- und Bundesinnenministerium bei der Vorstellung eines gemeinsamen Gesetzesvorschlages am 11. Januar. Weniger als zwei Wochen benötigten die Fachminister Heiko Maas (SPD) und Thomas de Maizière (CDU), um mit Verweis auf die Silvesternacht das Asylrecht weiter zu beschränken.

Der Reporter Markus Böhm hat mit seinem Silvester-Video zwar keinerlei sexuelle Übergriffe dokumentiert, dafür aber in gewisser Weise ein Symbol für die politischen, medialen und gesellschaftlichen Reaktionen geschaffen: viel Chaos, Knallerei, Geschrei. Und als das Getöse abebbt und sich die Nebelschwaden verziehen, hat plötzlich eine neue Zeitrechnung begonnen.

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Anmerkungen und Quellen:
(1)    http://www.heute.de/fluechtlingskrise-wenig-hoffnung-auf-europaeische-loesung-fast-jeder-dritte-hat-angst-vor-kriminalitaet-angela-merkel-weiter-ohne-mehrheitliche-unterstuetzung-in-der-fluechtlingspolitikdurch-fluechtlinge-42017072.html
(2)     http://www.ksta.de/blob/view/33505320,36554293,data,listen_polizeieinsatz_bear.pdf.pdf
(3)    http://www.ksta.de/koeln/sote-belaestigung-in-der-silvesternacht,15187530,33042472.html
(4)     http://www.ivan-jurcevic.com/security.html
(5)    https://www.facebook.com/ivan.jurcevic.56/videos/10204881795915947/
(6)    https://www.facebook.com/regina.schleheck/posts/1024621834227118
(7)    http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-01/angst-verhalten-deutschland-umfrage-forsa
(8)    http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-analyse-die-angst-vor-veraenderung-14035557.html
(9)    http://www.welt.de/wirtschaft/article150758016/Deutsche-decken-sich-massenhaft-mit-Pfefferspray-ein.html
(10) http://www.derwesten.de/region/starker-anstieg-bei-antraegen-auf-kleinen-waffenschein-id11593110.html
(11) https://www.evangelisch.de/inhalte/130275/14-01-2016/mehr-antraege-fuer-kleine-waffenscheine-duesseldorf-und-koeln
(12) http://www.express.de/koeln/innenminister-jaeger-will-gegen-nordafrikanische-maennergruppen-vorgehen-23253992
(13) https://www.youtube.com/watch?v=KRzfSx-I-3o
(14) http://www.rp-online.de/polopoly_fs/einsatzbericht-polizei-koeln-silvester-pdf-1.5677619.1452251650!file/Erfahrungsbericht%20zum%20Silvestereinsatz%20in%20Ko%CC%88ln.pdf
Oder: http://tinyurl.com/h3j99c8
(15) http://www.bild.de/news/inland/silvester/das-geheime-polizei-protokoll-44048000.bild.html
Kurioserweise war es auch die Bild-Zeitung, die noch einen Tag vor Silvester die Geschichte „Fass mich an! – An diesen Stellen wollen Frauen am liebsten berührt werden“ online präsentierte. http://www.bild.de/unterhaltung/erotik/sex-studie/das-wollen-frauen-im-bett-43753644.bild.html
(16) http://www1.wdr.de/dokumentation-koelner-polizeibericht-100.html
Oder als PDF im Original: http://www1.wdr.de/nachrichten/polizeibericht-koeln-100.pdf
(17) http://www.spiegel.de/panorama/justiz/koeln-das-steht-im-internen-polizeibericht-zur-silvesternacht-a-1070837.html
(18) http://www.ksta.de/koeln/-polizei-silvester-uebergriffe-silvesteruebergriffe-sote-koeln-23458442
(19) http://www.derwesten.de/politik/koelner-polizeichef-albers-muss-gehen-aimp-id11446234.html
(20) http://www.sueddeutsche.de/politik/uebergriffe-an-silvester-uebergriffe-in-koeln-polizei-ermittelt-gegen-polizei-1.2875165

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