Innenpolitik

Kundus-Massaker: 150 Bundeswehroffiziere kritisieren Luftschlag und fordern Abzug aus Afghanistan

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von THOMAS WAGNER, 8. Dezember 2009 –

Entgegen den damaligen Verlautbarungen der Bundesregierung und knapp drei Monate bevor Verteidigungsminster Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) einräumte, dass der von Oberst Georg Klein in der Nacht vom 03. zum 04. September angeforderte Luftangriff auf zwei von Taliban-Kämpfern entführte Tanklastwagen "nicht militärisch angemessen" war, hatten 150 kritische Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr in einer gemeinsamen Presseerklärung bereits die Auffassung vertreten, dass der deutsche Oberst "mit den ihn beratenden Offizieren eine verhängnisvolle Fehlentscheidung" traf. (1)

Schon zu diesem Zeitpunkt stand für diese Offiziere fest, dass sich unter den Opfern des Luftschlags Zivilisten befanden und der Oberst den Befehl des amtierenden US-Generals McChrystal missachtet hatte, "zum Schutze der Zivilbevölkerung äußerste Zurückhaltung bei Einsätzen aus der Luft einzuhalten".

Nach Angaben der Anwälte der Opferfamilien, die bisher weder vom Verteidigungsministerium noch von irgendeiner anderen offiziellen Stelle bestritten worden sind, sind bei dem Massaker 179 zivile Opfer zu beklagen.

Darunter 22 Verschollene, 20 Verletzte. Die übrigen Opfer sind verstorben, darunter viele Kinder. Nach den genauen Recherchen der Anwälte vor Ort sind nur fünf Taliban-Kämpfer getötet worden.(2)

Die kritischen Offiziere, die alle dem "Darmstädter Signal" angehören, kannten zum Zeitpunkt ihrer Erklärung diese Zahlen noch nicht.
Trotzdem urteilten sie schon damals, der fehlerhafte Luftangriff habe die ohnehin schlechte Sicherheitslage der sich im Krieg befindenden deutschen ISAF-Soldaten verschlechtert und "behindert die letzten Chancen der Stabilisierung und des Wiederaufbaus Afghanistans!"
Mit ihrer gemeinsamen Erklärung reagierten die Berufssoldaten auf eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am 08.09.2009 vor dem Deutschen Bundestag die im In- und Ausland zaghaft geäußerte Kritik an dem verheerenden Luftschlag durch ein Machtwort von höchster politischer Stelle zu unterbinden versuchte.

Sie werde "Vorverurteilungen nicht akzeptieren", sagte die Kanzlerin damals in die Kameras: " Ich sage nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, ganz deutlich: Ich verbitte mir das, und zwar von wem auch immer, im Inland genauso wie im Ausland."

Dagegen beharrten die kritischen Offiziere auf die demokratischen Grundrechte:
"Alle Bürger, auch Soldaten (!), haben das Recht, den von einem deutschen Oberst befohlenen verhängnisvollen Luftangriff als schweren Fehler zu bezeichnen."

Für keineswegs "voreilig" hielten die Soldaten dagegen schon zu diesem Zeitpunkt die Beurteilung, dass die "nachts im Kundus-Flußbett festgefahrenen" Tankwagen "keine akute Gefahr für deutsche ISAF-Soldaten" darstellten. Vielmehr saßen die Taliban "in der Falle und der deutsche Kommandeur hatte alle Zeit, Maßnahmen unterhalb der Schwelle eines Bombenangriffs zu treffen."

Mit ihrem militärischen Sachverstand kommen die Bundeswehroffiziere zu dem Schluss: "Selbst wenn man trotzdem unterstellt, die Taliban hätten dennoch mit den Tanklastern nach Kundus fahren können, um dann das deutsche Camp zu bedrohen, so hätte man sie davon mit einer geeigneten Straßensperre oder z.B. mit einer über die Straße gespannten Nagelkette daran hindern können."

Ihre Erklärung mündete in einer deutlichen politischen Forderung: "Die Zeit ist längst überfällig, mit einem von der Mehrheit des deutschen Volkes gewünschten schrittweisen, geordneten Rückzug der deutschen Soldaten aus dem Kriegsgebiet alsbald zu beginnen und mit wesentlich mehr ziviler Aufbauhilfe für Afghanistan "zu retten, was noch zu retten ist!"

Die Offiziere plädieren für einen Rückzug noch im Jahr 2010: "Die Fortsetzung der militärischen Einsätze gefährdet unsere Sicherheit. Die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen werden durch die Militäreinsätze nicht geschützt sondern gefährdet. Frieden schafft man nicht mit Gewalt."

(1) http://www.darmstaedter-signal.de/aktuell/2009_09_09_Ak_DS_Luftangriff040909.php
(2) http://www.hintergrund.de/20091127540/politik/inland/tats%C3%A4chliche-opferzahlen-des-massakers-von-kundus-bekanntgegeben-179-zivile-opfer-und-5-taliban.html
(3) http://www.darmstaedter-signal.de/aktuell/2009_11_15_Ak_DS_Afghanistan.php


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