Innenpolitik

Phantom-Morde, Nazis und Geheimdienstsumpf. Ein Bericht aus Deutschland

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Von THOMAS WAGNER, 10. November 2011 –

Die Geschichte klingt, als ob sie den Stoff für eine ganze Krimibibliothek liefern könnte. Vier Jahre nach dem Mord an der 22-jährigen Bereitschaftspolizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn verdichten sich die Hinweise, dass die Tat im Zusammenhang mit der jahrelangen Infiltrierung der gewaltbereiten Neonazi-Szene durch die Inlandsgeheimdienste stehen könnte.

Die junge Polizistin und ein damals 24-jähriger Kollege hatten am 25. April 2007 ihren Streifenwagen auf der Heilbronner Theresienwiese geparkt. Gegen 14 Uhr fielen mehrere Schüsse. Kiesewetter wurde mit Kopfschüssen tot neben dem Wagen aufgefunden, ihr Kollege hatte schwer verletzt überlebt, konnte sich nach wochenlangem Koma jedoch nicht mehr an den Tathergang erinnern. Das Ganze erinnert an eine Hinrichtung.

Die schon lange eingeschlafenen Ermittlungen sind wieder ins Rollen gekommen, nachdem die entwendeten Dienstwaffen und Handschellen in dem ausgebrannten Wohnmobil von zwei mutmaßlichen Bankräubern und Bombenbauern gefunden worden sind, die der neonazistischen Szene Thüringens angehören und sich selbst erschossen haben sollen. Ihre Leichen waren am Freitag vergangener Woche nach einem geglückten Banküberfall im thüringischen Eisenach in dem Wohnmobil entdeckt worden. Die Polizei geht davon aus, dass sich die beiden darin auch getötet haben.

Der Rechtsmedizin zufolge haben sich beide Männer mit Langwaffen selbst erschossen. Der Leiter der Sonderkommission schließt aus, dass weitere Personen in oder an dem Wohnmobil waren. Die Brandursache sei aber noch nicht geklärt. Die Ermittler in Sachsen machten zu diesem Aspekt keine Angaben. In dem ausgebrannten Wohnwagen wurden vier Pistolen oder Revolver sowie drei Langwaffen gefunden.

Eine 36 Jahre alte Frau, die in Zwickau eine Wohnung mit den beiden Männern teilte, stellte sich der Polizei, machte bislang aber keine Aussage. Das Haus, in dem sie mit den Männern gemeinsam gelebt hatte, war explodiert. Dafür machen Polizei und Staatsanwaltschaft in Sachsen die Frau verantwortlich. Es habe Anhaltspunkte gegeben, dass in dem Haus in Zwickau Brandbeschleuniger an mehreren Stellen benutzt worden seien, sagte der Leiter der Polizeidirektion Südwestsachsen, Jürgen Georgie.

Baden-Württembergs Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger sagte, dass in dem Zwickauer Haus die Tatwaffe aus dem Polizistenmordfall gefunden worden sei. Die Ermittler in Sachsen bestätigten dagegen lediglich, dass mehrere Waffen in dem Haus lagen. In den Trümmern des Wohnhauses wurden bis Donnerstagnachmittag neun Faustfeuerwaffen, ein Repetiergewehr und eine Maschinenpistole gefunden, wie die Zwickauer Staatsanwältin Antje Dietsch sagte.

Infiltrierte Nazi-Vereinigung

Die mutmaßlichen Bankräuber und die in Untersuchungshaft sitzende Frau sollen bis 1998 Verbindungen zu der vom Verfassungsschutz unterwanderten Neonazi-Vereinigung „Thüringer Heimatschutz“ (THS) gehabt und Bomben gebaut haben. Es soll sich um jene drei jungen Neonazis aus Jena handeln, die 1997 in den Verdacht geraten waren, für die gewalttätige rechte Szene Rohrbomben gefertigt zu haben. „Sie konnten 1998 bei einer Polizei-Razzia entwischen und tauchten bis zur Verjährung 2003 unauffindbar unter.“ (1)

Der THS fungierte in den 1990er Jahren als Sammelbecken der Neo-Nazi-Szene in Thüringen. Die Gruppe trat seit 1997 unter diesem Namen auf und hatte mehrere lokale Gruppierungen unter anderem in Jena, Saalfeld, Eisenach und Gera. Bereits seit 1994 wurde die Vorgängerorganisation vom Thüringer Verfassungsschutz beobachtet. Damals soll es 20 Mitglieder gegeben haben, im Jahr 2001 schon 170. Der THS war laut Verfassungsschutz bis 2002 aktiv. Später habe es mehrere Anzeichen für eine Wiederbelebung gegeben, die sich aber nicht bewahrheitet hätten.

Der ehemalige Kopf des THS, Tino Brandt, war 1994 als Informant vom Verfassungsschutz angeworben worden. Im Jahr 2001 wurde er „abgeschaltet“. Im Verfassungsschutzbericht von 1998 werden die beiden mutmaßlichen Bankräuber und ihre inzwischen 36 Jahre alte Mitbewohnerin namentlich als THS-Angehörige, Neonazis und mutmaßliche Bombenbauer genannt.

Nach Informationen der Thüringischen Landeszeitung hatten sich die drei Untergetauchten unmittelbar nach Eintreten der Verjährung über einen Anwalt bei der Staatsanwaltschaft Gera gemeldet. „Polizei und Justiz hatten damals keine weitere Möglichkeit für eine Beobachtung oder Ermittlungen. Es lag kein Straftatverdacht vor. Der Verfassungsschutz dagegen hätte beobachten dürfen und warnen können.“ (2)

Die drei blieben aber unbehelligt. Laut Verfassungsschutz sollen sie keine V-Leute gewesen sein – anders als der Kopf des faschistischen „Thüringer Heimatschutzes“.

Einen dringenden Tatverdacht gegen die Festgenommene wegen des Polizistenmordes gebe es derzeit nicht, sagte Heilbronns Oberstaatsanwalt Frank Rebmann. Dennoch sei es sehr wahrscheinlich, dass der Mord „aus dieser Tätergruppierung heraus verübt wurde“. Ein Abgleich der DNA-Spuren am Tatort in Heilbronn mit einem Gentest der mutmaßlichen Bankräuber ergab keine Übereinstimmung. Allerdings sollen die Polizistenmörder in Baden Württemberg auch mit Handschuhen gearbeitet haben. Auch der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger ist sich sicher, dass die toten Männer mit dem Fall aus Heilbronn etwas zu tun haben.

Die Zwickauer Ermittler gehen davon aus, dass die beiden toten Räuber für insgesamt 13 Banküberfälle verantwortlich gewesen sein könnten, die bis ins Jahr 1999 zurückreichen – zehn in Sachsen, zwei in Mecklenburg-Vorpommern und der jüngste Fall in Eisenach. Darauf deuteten Kleidungsstücke hin, die in dem explodierten Haus gefunden worden seien, sagte der Leiter der Polizeidirektion Südwestsachsen, Jürgen Georgie. Bis zu einer endgültigen Analyse der Spuren könnten noch Tage und Wochen vergehen.

Was machte der Verfassungsschutz?

Eine ganze Reihe von Fragen sind zu klären.. „Wurden die Drei in den vergangenen dreizehn Jahren unterstützt? Wenn ja, von wem? Von der rechten Szene? Vom Verfassungsschutz? Etwa von der organisierten Kriminalität? Ermittlern zufolge waren die Drei im Besitz von mehreren gefälschten Pässen“, hieß es am Donnerstag bei Spiegel.de (3) und die Thüringische Landeszeitung berichtete am Donnerstag: „Trotz gegenteiliger Informationen aus Verfassungsschutzkreisen hegen erfahrene Polizisten den Verdacht, dass sie zumindest zeitweise gedeckt wurden.“ (4)

Fragen zur Rolle der Inlandsgeheimdienste in dem Fall beschäftigen auch den Thüringer Landtag.

In der FAZ hieß es schon am Mittwoch: „Auf den Fluren des Landtags wurde hinter vorgehaltener Hand die Frage gestellt, ob Verbindungsleute des Verfassungsschutzes oder eines Nachrichtendienstes in den Fall verwickelt seien.“ (5)  

Innenminister Jörg Geibert (CDU) will an diesem Freitag im Landtags-Innenausschuss zu den Vorgängen Stellung nehmen, sagte ein Ministeriumssprecher am Donnerstag. Die Oppositionsparteien wollen die Rolle des landeseigenen Verfassungsschutzes stärker beleuchtet sehen. Grüne und Linke forderten eine Sondersitzung des Geheimdienst-Kontrollgremiums, die dem Vernehmen nach auch stattfinden soll.

FDP-Innenexperte Dirk Bergner erwartet in der für Freitag angesetzten Sitzung des Landtagsinnenausschusses unter anderem eine Antwort darauf, „warum der Thüringer Verfassungsschutz Leute, die wegen solcher Straftaten gesucht wurden, nach deren Wiederauftauchen nicht beobachtet hat.“ (6)

Kerstin Köditz, eine sächsische Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke, hält es laut junge Welt aufgrund der besonderen Bedeutung des Falles für unabdingbar, dass der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich zieht. Im Gespräch mit der Zeitung sagte sie: „Ich halte diesen Schritt auch deshalb für geboten, damit der Verdacht entkräftet werden kann, dass Inlandsgeheimdienste involviert sind und die Ermittlungen behindern könnten.“ (7)  

Jagd nach dem Phantom

Der Fall war von Anfang an sehr mysteriös. Monatelang hatten die Ermittler der „Soko Parkplatz“ ein Phantom gejagt. DNA-Spuren der sogenannten „Frau ohne Gesicht“ waren nicht nur in Heilbronn gefunden worden, sondern auch an mehr als 35 anderen Tatorten vor allem in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und im Saarland. Ende März 2009 gab die Staatsanwaltschaft Heilbronn dann auf einmal bekannt, dass die DNA-Spur von einer Frau stammte, die Wattestäbchen beim Verpacken verunreinigt hatte.

Kurz nach dem Mord war aufgrund des Tatwaffen-Kalibers über Verbindungen zur russischen Armee oder zur osteuropäischen Mafia gemutmaßt worden. Sinti und Roma wurden massiven Polizeikontrollen unterworfen. Auch zu Thüringen gab es schon vor dem Waffenfund eine vage Verbindung: Die erschossene Polizistin stammte aus dem Bundesland. Manch einer dachte darüber nach, ob die junge Frau die untergetauchten Täter erkannt haben könnte und deshalb sterben musste.

Wie HINTERGRUND bereits am 10. März 2009 berichtete, hatten DNA-Spuren im Streifenwagen der Polizei die Ermittler der eigens für den Mordfall von Heilbronn eingerichteten „Soko Parkplatz“ zu dem berüchtigten „Phantom“, einer mutmaßlich weiblichen Täterin geführt, die im Zusammenhang mit 39 Straftaten – darunter mehreren Mordfälle – seit Jahren gesucht wird. (8) Nach Angaben der Polizei zieht diese unbekannte Frau seit 1993 ihre „blutige Spur durch Österreich, Frankreich, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und das Saarland“. (9)

2009 fand die Polizei an der Innenseite der Windschutzscheibe jenes Autos, in dem Achmed H., der über einen V-Mann in der Türkei die Zünder für die „Sauerlandgruppe“ beschafft haben soll und ein gewisser Talib O., der jahrelang als V-Mann für das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz gearbeitet hatte und ebenfalls in den Terrorismusfall um die Sauerlandgruppe verwickelt war, die Leichen von drei georgischen Autohändlern transportiert haben sollen, die DNA des „Phantoms“. „Die Entdeckung dieser Spur birgt noch in einer anderen Hinsicht Brisanz: Das Auto, ein weißer Ford Escort Kombi, gehörte zur Tatzeit dem Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, wie die Staatsanwaltschaft Frankenthal auf Anfrage bestätigte. Das LKA hatte es seinem V-Mann Talib O. zur Verfügung gestellt“, berichtete die Berliner Morgenpost im März 2009. (10)

HINTERGRUND schrieb damals: „Unklar ist allerdings, wann das „Phantom“ in dem Ford gesessen hat. Mit wissenschaftlichen Methoden lässt sich das Alter einer DNA-Spur nicht bestimmen. Aufschlussreich hingegen mag sein, dass das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz das Fahrzeug genau in jenem April 2007 erworben hat – also zu der Zeit, als der Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter geschah.

Ob und wieweit das „Phantom“ selbst in Geheimdienste verstrickt ist, bleibt vorerst ein Rätsel. Tatsache ist, dass nach der Frau seit Jahren eine der größten Polizeifahndungen in der Geschichte der Bundesrepublik läuft – bislang ohne Erfolg. Und dass, obwohl für Hinweise, die zur Aufklärung führen, eine Belohnung von 300.000,- Euro ausgesetzt wurde.“ (11)

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Es bleibt also viel Raum für Spekulationen. Und tatsächlich haben sich renommierte Schreiber schon vor Jahren von dem Fall inspirieren lassen. So ist die unter dem Namen „Dead Reckoning“ (dt. Titel: Das DNS-Phantom) am 14. Oktober 2009 zuerst ausgestrahlte vierte Folge der sechsten Staffel der TV-Serie CSI:NY an das Geschehen angelehnt. Auch der Roman „Eisige Nähe“ (2010) des am 13. März 2011 unerwartet an Herzversagen verstorbenen Autors Andreas Franz behandelt das Phantom-Thema: „Auch dort wird an verschiedenen Tatorten die DNA der unbekannten weiblichen Person gefunden. Zeitlich ist der Roman kurz nach der Entdeckung der kontaminierten Wattestäbchen angesiedelt, jedoch wird diese Aufklärung im Buch angezweifelt.“ (12)  (mit dpa)


(1) http://www.tlz.de/startseite/detail/-/specific/Warum-uebersah-der-Verfassungsschutz-die-Jenaer-Bombenbastler-1337597722
(2) Ebd.
(3) http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,796918,00.html
(4) http://www.tlz.de/startseite/detail/-/specific/Zwickauer-Trio-Hatte-Geheimdienst-die-Finger-im-Spiel-1643527971
(5) http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/polizistinnenmord-in-heilbronn-generalstaatsanwalt-haelt-fall-fuer-aufgeklaert-11521685.html
(6) http://www.tlz.de/startseite/detail/-/specific/Warum-uebersah-der-Verfassungsschutz-die-Jenaer-Bombenbastler-1337597722
(7) http://www.jungewelt.de/2011/11-10/061.php
(8) Bericht der Soko Parkplatz vom 13.01.2009
(9) Zitiert nach einem Bericht vom März 2009 des Web-Portals SOL.DE, dem Internet-Angebot der Saarbrücker VerlagsService GmbH.  
(10) http://www.morgenpost.de/printarchiv/seite3/article1049398/Das_Phantom_und_die_Terrorzelle.html
(11) http://www.hintergrund.de/20090310359/politik/inland/terroristen-in-deutschland-phantome-der-geheimdienste.html
(12) http://de.wikipedia.org/wiki/Heilbronner_Phantom

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