Innenpolitik

Schikane, Razzien, Einreiseverbote

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Reaktionen der deutschen Behörden auf ein Konzert der oppositionellen türkischen Musikband Grup Yorum zeigen die neue Kooperation zwischen Deutschland und der Türkei

Unter dem Titel „Eine Stimme und ein Herz gegen Rassismus“ trat am 14. November 2015 in der Arena Oberhausen vor etwa 10 000 Fans die linke türkische Band „Grup Yorum“ auf. Eigentlich, so möchte man meinen, eine normale Kulturveranstaltung, wenn auch die Gruppe, die in der Türkei vor einem Millionenpublikum spielt, durchaus revolutionäre politische Inhalte vertritt. „Normal“ lief allerdings an diesem Wochenende und im Vorfeld der Veranstaltung gar nichts. Denn diverse deutsche Sicherheitsbehörden hatten die Musiker zu „Terroristen“ erklärt und versuchten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ihren Auftritt zu verhindern.

Am Ende der Kampagne aus Repression, Einschüchterung und Verboten standen Anschuldigungen wegen Förderung des Terrorismus, Einreiseverbote, Razzien, Hausdurchsuchungen und Einschüchterungsversuche durch den Verfassungsschutz. Das Vorgehen der deutschen Behörden wirft ein grelles Licht auf eine Vermutung, die Kritiker des zunehmend autoritären türkischen Regimes seit Langem hegen: Die Bundesregierung hat offenbar während der jüngsten Verhandlungen mit Ankara in Sachen Flüchtlingsabwehr Machthaber Recep Tayyip Erdogan Unterstützung bei der Bekämpfung der demokratischen Opposition im Land zugesichert.

„Unerwünschte Personen“

Versuchen wir eine Rekonstruktion. Grup Yorum besteht in seiner Stammbesetzung aus zwölf Musikern. Seit 1985, in einer Zeit nach dem Militärputsch von 1980 und während einer massiven Verfolgungswelle von Linken, gelten sie in der Türkei als Stimme der Unterdrückten, als künstlerischer Ausdruck einer Bewegung gegen US-Imperialismus, Kapitalismus und Diktatur. Mehrmals jährlich treten sie in Europa auf, zuletzt besuchten einige der Künstler im Juni 2015 Deutschland – ohne Probleme bei der Einreise.

Als nun von den Konzertveranstaltern Anträge für Visa gestellt wurden, kam der Bescheid: Die Musiker können, so die deutsche Botschaft in Ankara, nicht einreisen, da sie auf einer Liste des „Schengener Informationssystems“ (SIS) erfasst seien – auf Antrag Deutschlands.

Das SIS ist eine Datenbank von Sicherheits- und Polizeibehörden, die unter anderem gesuchte und „unerwünschte“ Personen erfasst. Sie ist intransparent und wird offenbar recht massiv mit Einträgen bestückt, die für die Betroffenen weitreichende Konsequenzen haben können. In diesem Fall bedeutete die Listung zunächst die Abweisung der Visa-Anträge von 11 Musikern aus der Stammbesetzung von Grup Yorum. Ein schwerer Schlag für die Veranstalter, denn die Arena-Oberhausen und die Bus-Anreise aus halb Europa sind teuer und die 15 Euro Eintritt decken ohnehin nur die Kosten.

Man versuchte also, eine andere Besetzung aufzustellen, die als Grup Yorum auftritt. Die Band versteht sich ohnehin als ein Kollektiv, als ein offener Prozess, der durch eine Idee und eine Art zu Musizieren eher bestimmt wird, als durch die einzelnen Personen. Musiker, die in Deutschland leben und vier andere Musiker, die aus der Türkei einreisen sollten, würden also eine Ersatzbesetzung ergeben, so dass das Konzert stattfinden könne, so der Plan der Veranstalter.

Bei der Einreise der vier aus der Türkei kommenden Künstler folgte dann der nächste Repressionsschlag. Sie wurden stundenlang im Flughafen Düsseldorf festgehalten, dann zurück in die Türkei geschickt. Welche Gründe hier vorlagen, ist unklar. Polizisten bemühten, so die mit dem Fall betraute Anwältin Nilgün Tosun gegenüber Hintergrund, verschiedene Erklärungsansätze: Bisweilen behaupteten sie, es handle sich um Visa-Probleme, dann wieder ging es um die „innere Sicherheit“ Deutschlands. Sie halte all diese Erklärungen für „an den Haaren herbeigezogen“ und vermutet, dass die Beamten angewiesen wurden, so zu handeln.

Einschränkung des Versammlungsrechts

Weitere Angriffe folgten: Die Anatolische Föderation Wuppertal, die eine Kundgebung für das Konzert anmelden wollte, bekam vom Polizeipräsidium Dortmund einen Bescheid, dass ihnen der Gebrauch ihres Versammlungsrechts untersagt wird, da „Erkenntnisse vorliegen“, wonach „es sich bei der Anatolischen Föderation Wuppertal um eine Tarnorganisation der linksgerichteten und in der Türkei und Deutschland verbotenen sowie auf der EU-Liste der Terrororganisationen angeführten DHKP-C handelt“. Ein durchaus merkwürdiger Vorgang: Die Anatolische Föderation Wuppertal selbst ist nicht verboten, sollten derartige „Erkenntnisse“ vorliegen, möchte man meinen, es würde ein Verbotsverfahren vorliegen. Dazu reicht es dann offenbar doch nicht. Stattdessen wird den Aktivisten ihr Recht darauf, Versammlungen anzumelden einfach genommen.

Insgesamt drängt sich das Bild auf, dass der deutsche Staat einem Konstrukt folgt, dass türkische Polizei- und Geheimdienstbehörden entworfen haben. Sie beschuldigen die Musikgruppe Grup Yorum seit vielen Jahren der Unterstützung der marxistischen Stadtguerilla DHKP-C. Allerdings ist die Gruppe selbst in der Türkei, die besonders willkürlich von ihrer Anti-Terror-Gesetzgebung Gebrauch macht, nicht generell verboten. Immer wieder werden ihre Konzerte von der Polizei verhindert, Mitglieder geschlagen, eingesperrt und gefoltert. Ein gerichtliches Verbot von Grup Yorum existiert aber auch in der Türkei nicht.

Am Ende fand, wie eingangs erwähnt, das Konzert in Oberhausen mit etwa 10 000 Zuhörern statt, wenn auch mit einer Ersatzbesetzung aus in Deutschland und Europa lebenden Musikern. Nach der Veranstaltung folgten aber unmittelbar weitere Attacken der Behörden: Vereinsräumlichkeiten, Privatwohnungen und selbst Räumlichkeiten der renommierten Arena Oberhausen wurden durchsucht, offenbar wollte man die Einnahmen des Konzerts beschlagnahmen.

Dienstleistungen für Erdogan

„Ich bin überzeugt davon, dass dieses Vorgehen mit den Gesprächen zwischen der Türkei und Deutschland zusammenhängen, die in letzter Zeit intensiviert werden“, schätzt Nilgün Tosun ein. „Der Zusammenhang zwischen dem Gespräch, das Frau Merkel mit dem türkischen Präsidenten Erdogan geführt hat und dem schärferen Vorgehen gegen das linke türkische Milieu ist ziemlich offensichtlich.“

Die deutsche Regierung verhandelt derzeit mit der türkischen Regierung über einen Deal, der finanzielle, politische und offenbar auch geheimdienstliche Zugeständnisse im Austausch für eine verstärkte Flüchtlingsabwehr durch Ankara vorsieht. Eine der Auswirkungen dieses Kuhhandels wird offenbar ein immer schärferes Vorgehen gegen die türkische Opposition auch hierzulande sein. PKK und DHKP-C stehen ohnehin seit Ewigkeiten auf diversen Terrorlisten, die Verfolgung wird jetzt aber auch auf zivile Organisationen ausgedehnt, denen man direkte oder indirekte Unterstützung der beiden Gruppen nachsagt.

Es finde ein regelmäßiger „bilateraler Austausch zwischen deutschen und den türkischen Sicherheitsbehörden statt“, antwortete Staatsminister Michael Roth auf eine Anfrage des Linkspartei-Parlamentariers Andrej Hunko zu den Repressalien rund um das Grup-Yorum-Konzert.  Dabei tausche man sich auch über die kurdische Arbeiterpartei PKK und die linke türkische DHKP-C aus.

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