Geplante Änderung der Strafprozessordnung

Staatstrojaner zukünftig im Masseneinsatz?

Sechs Bürgerrechtsorganisationen aus Deutschland sprechen sich gegen den Gesetzentwurf der Großen Koalition zur Einführung der Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) im Strafverfahren aus. „Beide Maßnahmen stellen schwerste Grundrechtseingriffe dar“, so die Organisationen, „die in den vergangenen Jahren nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch das Bundesverfassungsgericht intensiv beschäftigt haben.“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die unterzeichnenden Bürgerrechtsorganisationen (Humanistische Union e.V.; Internationale Liga für Menschenrechte e.V.; Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.; Neue Richtervereinigung e.V.; Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.; Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.) erklären: „Sowohl bei der Online-Durchsuchung als auch bei der Quellen-TKÜ dringen die Ermittlungsbehörden heimlich mittels Trojanern in Computer, Tablets oder Handys des betroffenen Bürgers ein. Im Fall der Online-Durchsuchung können die Beamten auf sämtliche auf dem Rechner gespeicherten Daten zugreifen – und erhalten so eine praktisch umfassende Einsicht in das Leben des Betroffenen bis hinein in dessen Gedanken- und Gefühlswelt. Damit geht die Eingriffsintensität dieser Maßnahmen noch deutlich über die des großen Lauschangriffs hinaus – der bislang eingriffsintensivsten Ermittlungsmaßnahme.“

Zu den Hintergründen dieses Gesetzgebungsverfahrens: Die erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze (Drucksache 18/11272) fand ohne öffentliche Aussprache (die Reden wurden zu Protokoll gegeben) mit dem Ergebnis der Ausschussüberweisung am 9. März statt. Dann allerdings erweiterte die Bundesregierung, vertreten durch das Justizministeriums, dieses Gesetzgebungsverfahren. Sie leistete „Formulierungshilfe“ für einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf (Ausschussdrucksache 18(6)334 vom 15. Mai 2017). Diese Formulierungshilfe besteht aus 30 Seiten und ist eigentlich ein eigener, weiterer Gesetzentwurf.

Relevant sind zwei Neuerungen der Strafprozessordnung betreffend den Paragraphen 100a ff. Der § 100a regelt bisher die Telekommunikationsüberwachung. Hier soll die Quellen-TKÜ als zusätzliche Maßnahme der Datenerhebung eingeführt werden. In §100b StPO soll die Online-Durchsuchung neu eingeführt werden.

netzpolitik.org erklärt u.a.: „Begründet wird der Einsatz staatlicher Schadsoftware immer mit Terrorismus. Das Bundesverfassungsgericht verlangte, dass dieser intensive digitale Eingriff nur bei Gefährdungen von Menschenleben, ihrer Gesundheit und elementarsten Lebensgrundlagen eingesetzt werden darf. Die Große Koalition ignoriert das und geht weit darüber hinaus.“

Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Andrea Voßhoff schreibt in ihrer Stellungnahme (vom 29.05.2017) zur öffentlichen Anhörung am 31. Mai 2017: „Leider hat es das BMJV (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz) unterlassen, mich zu dem mit der Formulierungshilfe eingereichten Änderungsantrag zur Einführung einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung und einer Online-Durchsuchung in der Strafprozessordnung zu beteiligen. Von dem Vorhaben habe ich erst am 17. Mai 2017 durch Medienberichte erfahren. Angesichts der erheblichen datenschutzrechtlichen und verfassungsrechtlichen Bedeutung des Vorhabens ist für mich diese Verfahrensweise nicht nachvollziehbar.“

Die Bundesbeauftragte betont, dass der Entwurf verfassungsrechtliche Risiken beinhalte und fordert eine gründliche fachliche Auseinandersetzung. Sie teile die Ansicht, nach der für die Quellen-TKÜ im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine eigenständige Rechtsgrundlage erforderlich sei, „sofern man diese Maßnahmen befürwortet. Auf den bisherigen § 100a StPO kann die Maßnahme jedenfalls nicht gestützt werden.“ Die vorgeschlagene Regelung führe aber unabhängig davon zu erheblichen datenschutzrechtlichen Risiken und zu einem klaren Verfassungsverstoß.

In der öffentlichen Anhörung am 31. Mai 2017 sprach sich der Strafrechtlicher Arndt Sinn zwar nicht grundsätzlich gegen den Einsatz von Staatstrojanern aus, allerdings ist ihm der vorgeschlagene Gesetzestext in vieler Hinsicht zu unklar formuliert und lässt zu viel Spielraum für Auslegungen. Linus Neumann vom Chaos Computer Club war als einziger Sachverständiger gegen den Einsatz von Staatstrojanern. Er betont in seiner Stellungnahme, dass die Anwendung von Schadsoftware im Strafverfahren einen schweren Grundrechtseingriff darstelle. „Die rechtlichen Grenzen der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung lassen sich technisch kaum umsetzen. Bei alltäglichen Strafverfahren gibt es keine Rechtfertigung derart schwerwiegender Grundrechtseingriffe“, so Neumann.

Für die Bürgerrechtsorganisationen habe eine „Überwachungsmaßnahme mit derart totalitärem Potential“ in der Strafprozessordnung nichts zu suchen. Der Gesetzentwurf setze sich über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur heimlichen Infiltration informationstechnischer Systeme hinweg. „Das Gericht hatte in seiner Entscheidung zur präventivpolizeilichen Online-Durchsuchung klargestellt, dass diese überaus eingriffsintensive Maßnahme nur in allerengsten Grenzen zulässig sein kann.“

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Es sei ein Skandal, dass die Regierung praktisch heimlich und ohne öffentliche Debatte versuche, schwerste Grundrechtseingriffe in die Strafprozessordnung einzuführen, so die Unterzeichner. Nach jahrelangen Diskussionen über eine StPO-Reform und verschiedenen aktuellen Änderungsgesetzen zum Strafverfahren werde ausgerechnet diese hochproblematische Verschärfung über einen knappen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren eingebracht. „Innerhalb weniger Wochen und ohne jede öffentliche Debatte, ohne Möglichkeiten der Beteiligung der Zivilgesellschaft soll einer der intensivsten Grundrechtseingriffe, der der Polizei überhaupt gestattet ist, zum Gesetz gemacht werden“, betonen die Bürgerrechtsorganisationen.

Laut netzpolitik.org soll das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.

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