Innenpolitik

Zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 – Zentralrat versucht Auftritt kritischer Juden zu verhindern

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Von REDAKTION, 9. November 2010 –

Die Stadt Frankfurt am Main gedenkt heute der Pogromnacht von 1938. Hauptredner der Gedenkveranstaltung in der Paulskirche ist der 85-jährige französische Politologe Alfred Grosser. Grosser ist gebürtiger Frankfurter jüdischer Herkunft. Viele seiner Familienangehörigen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Ob zwischen Deutschen und Franzosen oder Israelis und Palästinensern, Zeit seines Lebens setzte er sich für Versöhnung ein, wobei ihm das Denken in verallgemeinernden Kategorien wie „die Deutschen“ oder „die Israelis“ stets fremd blieb. Für sein Engagement ist er oft geehrt worden, wie etwa 1975 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Sein Einsatz für die Menschenrechte brachte ihn auch immer wieder dazu, die israelische Politik zu kritisieren. Und genau das missfällt dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Vertreter des Zentralrats forderten die Ausladung des Hauptredners von der Gedenkveranstaltung in der Paulskirche. Doch die Stadt Frankfurt kam dem Drängen des Zentralrats nicht nach.

Umso schärfer fallen die Töne gegenüber Grosser aus. Salomon Korn, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Frankfurt, der ebenfalls während der Gedenkveranstaltung eine Rede halten soll, bezeichnete Grosser als „nützlichen Idioten“, der als „jüdischer Kronzeuge“ von Nichtjuden ins „Rennen geschickt“ worden sei, weil Letztere Hemmungen hätten, Israel in der Form zu kritisieren.

Grosser, der laut Korn „mit dem Judentum gar nichts mehr zu tun habe“, bewege sich mit seiner „einseitigen“ Kritik an Israel am „Rand der Schäbigkeit“. Es sei schwierig zu bestimmen, wo die Grenzen des „jüdischen Selbsthasses“ und des Antisemitismus beginnen, so Korn, der aber Grosser nicht den Vorwurf des Antisemitismus machen will. (1)

Ähnlich äußerte sich Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden  Auch er bezichtigte Grosser nicht direkt des Antisemitismus, gegenüber dem Hamburger Abendblatt sprach er aber von einem zunehmend enthemmten Antisemitismus, der sich bis in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet habe und nicht nur an den extremistischen Rändern zu verorten sei. (2)

Wenn im Zusammenhang mit Grosser immer wieder der Begriff „Antisemitismus“ fällt, ohne ihn direkt eines solchen zu bezichtigen, dann wohl in der Absicht, dass beim Publikum etwas hängen bleibt.

Es ist eine mittlerweile beliebte Methode von neokonservativen und zionistischen Kreisen, israelkritische Juden des Antisemitismus zu bezichtigen oder sie als vom „Selbsthass“ getriebene Juden zu diskreditieren, die den Antisemiten als Alibi dienen („Alibi-Juden“).

Wann immer ein israelkritischer und der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern verpflichteter Jude in Deutschland eine öffentliche Rede halten will, kommt es zu Verhinderungs- bzw. Boykott-Aufrufen durch den Zentralrat und dem sich der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel verpflichtetem Netzwerk, welches bis in die Linkspartei hineinreicht. (3)

Der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer, bezeichnete Grossers Auftritt bei der Gedenkveranstaltung als „pietätlos“. Kramers „unsägliche Kritik“ reihe sich ein in „die Kette der Ausfälle gegen Reuven Cabelman (Neturei Karta) und andere „Friedensjuden“, wie Evelyn Hecht-Galinski, Felicia Langer, Ilan Pappè, Norman Finkelstein, Hajo Meyer, Abi Melzer, Rolf Verleger und viele mehr“, so Volker Bräutigam in einem offenen Brief an die Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt.

Darin heißt es weiter, die Paulskirchen-Veranstalter hätten es „offenbar versäumt, das mittlerweile unabdingbar scheinende Plazet des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie dessen Generalsekretärs Stephan Kramer einzuholen, ehe Prof. Grosser eingeladen wurde. Das reicht dem Zentralrat offenkundig, das geplante Gedenken einem Eklat auszusetzen und für einen prozionistischen Showdown zu nutzen.“ (4)

Grundlage für den Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Grosser und anderen „Friedensjuden“ ist die Gleichsetzung Israels mit dem Judentum. Wer sich anti-israelisch äußert, äußere sich daher gleichzeitig antisemitisch. Doch ebenso wenig wie Israel der Staat aller Juden ist, ist der Zentralrat der Juden das Sprachrohr aller in Deutschland lebenden Juden. Hinzu kommt, dass führende Mitglieder des Zentralrats einen sehr flexiblen Umgang mit der vermeintlichen Identität zwischen Israel und dem Judentum pflegen. Wenn Israel-Kritik generell als antisemitisch bezeichnet wird, dann nur, weil keine Unterscheidung zwischen Israel und dem Judentum getroffen wird. Diese Nicht-Unterscheidung wurde aber von Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats, selbst als antisemitisch gekennzeichnet. „Der Antisemit moderner Prägung, ohne Glatze oder Springerstiefel, ist mitunter Akademiker. Dennoch sind für ihn Juden und Israelis einerlei.“ (5)

Die Anmaßung, mit der sich der Zentralrat zum Wächter darüber erklärt, was ein Jude sagen darf und was nicht, ohne dem Vorwurf der Nestbeschmutzung ausgesetzt zu sein, stößt in der Öffentlichkeit leider auf wenig Widerspruch. Rechtfertigen müssen sich stattdessen diejenigen, die vom Zentralrat mit stigmatisierenden Vorwürfen konfrontiert werden. Auch die Tatsache, dass der Zentralrat mittlerweile zum Sprachrohr der israelischen Außenpolitik mutiert ist, wird selten in der öffentlichen Debatte kritisiert. Selbst dann, wenn diese Parteinahme für Israel Verbrechen einer rechtsextremen Regierung mit einschließt, wie etwa im Fall des Angriffs auf den Gazastreifen im Januar 2009 oder der brutale Überfall im Mai 2010 auf die Free-Gaza Flotte in internationalen Gewässern. (6)

Daher wirft Alfred Grosser dem Zentralrat auch vor, dass sich dieser „vollständig mit Israel“ identifiziere. Damit trüge er dazu bei, dass die israelische Politik generell mit dem Judentum gleichgesetzt werde – was wiederum Antisemitismus schüre. (7) Eine Befürchtung, mit der Grosser nicht alleine steht.

Allerdings ruft diese Befürchtung selbst wieder den Vorwurf des Antisemitismus hervor. So schrieb  Henryk Broder, der zuletzt durch geschmacklose Witze über Konzentrationslager aufgefallen ist (8), „als Jude ist er (Grosser) über jeden Verdacht erhaben, antisemitische Ressentiments zu bedienen. Wenn er beispielsweise sagt, „dass gerade Israels Politik den Antisemitismus fördert“, dann übt er nur „Israelkritik“, auch wenn es sich um die moderne Variante des Klassikers handelt, am Antisemitismus seien die Juden schuld.”(9)

Broder vergisst dabei allerdings unter anderem, dass es die auch seiner Kritik zugrunde liegende Identifizierung Israels mit „den Juden“ ist, die den antisemitisch motivierten Gedanken, für Israels Verfehlungen „die Juden“ verantwortlich zu machen, erst ermöglicht.  

Es ist richtig, dass Antisemiten den israelisch-palästinensischen Konflikt als Vorwand nehmen, um ihrem Hass auf Juden einen rationalen Anstrich zu verleihen.

Dass Antisemiten „die Juden“ selbst als verantwortlich für Antisemitismus machen, schließt aber keineswegs aus, dass der israelisch-palästinensische Konflikt Antisemitismus befördern kann.

Niemand würde beispielsweise bestreiten, dass etwa die Politik der USA in Südamerika oder in arabischen Ländern dort zu einem Erstarken des Antiamerikanismus führt. Diese Tatsache nicht zu bestreiten ist keineswegs gleichzusetzen mit einer Rechtfertigung oder gar dem Gutheißen von Antiamerikanismus.  

Wer etwa das Ansteigen antisemitischer Ansichten der Bewohner des Gazastreifens von der Politik Israels trennt, kann nicht zu einer hinreichenden Erklärung dieses Anstiegs kommen, sondern verbleibt auf einer abstrakt-diskursiven Ebene: Ein Antisemit ist ein Antisemit ist ein Antisemit.   

Durchbrochen werden kann der antisemitische (Kurz-)Schluss, wonach Israel und „die Juden“ einerlei seien, nur dann, wenn klar gestellt wird, dass Israel und das Judentum zwei verschiedene Dinge sind. Weder dürfen Juden in Kollektivhaft für die Politik der israelischen Regierung genommen werden, noch Palästinenser für die Politik der Hamas. Letzteres bedingt auch,  kollektive Strafmaßnahmen wie die Blockade des Gazastreifens zu verurteilen. Der Zentralrat begrüßt allerdings diese Blockade und geht somit mit schlechtem Beispiel voran, wenn es darum geht, den unsäglichen kollektiven Zuschreibungen ein Ende zu bereiten.

Vertreter des Zentralrats kündigten an, die Gedenkveranstaltung vorzeitig zu verlassen. Sollte Grosser „ausfallend gegenüber dem Zentralrat oder Israel werden, werden wir den Raum verlassen“, sagte Salomon Korn im Deutschlandradio Kultur. (10)

Ob es dazu kommt oder nicht, es bleibt zu hoffen, dass zukünftig Bestrebungen des Zentralrats der Juden und anderer Kräfte scheitern, das Gedenken an die Naziverbrechen zu missbrauchen, um Juden öffentliche Bekenntnisse zu Israel abzuverlangen oder sie ansonsten zu Juden(selbst)hassern zu erklären.  


Anmerkungen

(1) Quelle: 3sat, Kulturzeit, 4.11.2010, http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=21492

(2) Quelle: http://www.stern.de/panorama/zentralrat-der-juden-kritik-an-alfred-grosser-wird-lauter-1622052.html

(3) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/20100317759/politik/inland/die-linke-von-innen-umzingelt.html

(4) Offener Brief nachzulesen hier: http://www.steinbergrecherche.com/08braeutigam.htm

(5) Quelle: http://www.hagalil.com/archiv/2010/03/24/tutzing/

(6) Siehe dazu: http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3010.html

(7) Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/scharfe-kritik-an-israel-kritiker-grosser/1978312.html

(8) Auftritt Henryk Broder bei Harald Schmidt, ARD, 4.11.2010

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(9) Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,726836,00.html

(10) Quelle: http://www.stern.de/panorama/zentralrat-der-juden-kritik-an-alfred-grosser-wird-lauter-1622052.html

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