EU-Politik

Das europäische Jahrhundertdesaster

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Die Krise in der Ukraine und die Spaltung Europas –

Ein Kommentar von WOLFGANG BITTNER, 20. November 2014 –

Westeuropa und Russland waren auf einem guten Weg friedlicher Nachbarschaft und für beide Seiten fruchtbarer Beziehungen. Das ist nach den Ereignissen in der Ukraine und den damit einhergehenden Wirtschaftssanktionen wie auch der Hetze in den westlichen Medien Vergangenheit. Die USA haben es geschafft, aufgrund einer von ihnen inszenierten Krise, Russland durch einen neuen „Eisernen Vorhang“ von Westeuropa zu trennen, wobei die Gefahr eines dritten Weltkriegs in Kauf genommen wurde und wird.

Die Folge ist, dass sich Russland nach mehreren vergeblichen Bemühungen um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Europäischen Union inzwischen nach China orientiert und die Wirtschaftsverbindungen zu den übrigen BRICS-Staaten ausbaut. Diese voranschreitende Entwicklung, verursacht durch eine verantwortungslose und kurzsichtige Imperialpolitik der USA, wird die westeuropäischen Staaten noch teuer zu stehen kommen – das lässt sich schon jetzt absehen. Die deutsche Wirtschaft wird unter den unsinnigen, von den USA oktroyierten Sanktionen besonders leiden.

Folgen der Wirtschaftssanktionen und Interessenunterschiede

Im ersten Halbjahr 2014 brach das bilaterale Handelsvolumen, das bereits 2013 um fünf Prozent zurückgegangen war, um 6,3 Prozent ein; die deutschen Exporte nach Russland schrumpften um 15,5 Prozent. „Weitere Belastungen“, so die Verlautbarungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, „dürften sich aus den danach erlassenen Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland und russische Gegenmaßnahmen ergeben.“ (1)

Bislang bezieht die deutsche Wirtschaft noch in erheblichem Umfang Eisen und Stahl sowie weitere Metalle aus Russland. Hinzu kommt, dass Russland Deutschlands größter Energielieferant ist, was bei einer weiteren Verschärfung der Konfrontation sicherlich eine Rolle spielen wird. Dagegen ist das Handelsvolumen der USA mit Russland relativ gering, sodass die US-Regierung im Gegensatz zur deutschen Regierung kaum Rücksicht auf die Bedürfnisse der eigenen Wirtschaft nehmen muss.

Insofern gibt es gravierende Interessenunterschiede zwischen den USA und Deutschland, was hinsichtlich der Sanktionspolitik zu beachten gewesen wäre, aber bis heute nicht zur Sprache kommt. Ansätze zu einer Beruhigung der Situation wurden vom Westen und von der Putschregierung in Kiew hintertrieben, wie sich sehr deutlich auf dem G-20-Gipfeltreffen in Australien gezeigt hat. Einerseits möchte Bundeskanzlerin Merkel – offenbar nach Interventionen aus der Wirtschaft – das Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin nicht abreißen lassen, wie sie ständig betont. Andererseits fordert sie entsprechend den Vorgaben des amerikanischen Präsidenten Barack Obama immer wieder neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Eine bigotte Haltung, die auf die Dauer nur zu einer weiteren Entfremdung führen muss und eigenständige Vorstellungen einer europäischen Ostpolitik vermissen lässt.

Fünf Milliarden Dollar für den „Regime Change“

Fünf Milliarden Dollar hatte die USA bis zum Dezember 2013 bereits in den „Regime Change“ in der Ukraine investiert. Damit renommierte die EU-Beauftragte des US-Außenministers, Victoria Nuland, am 13. Dezember 2013 in Washington. (2)Nicht nur die Außenminister der USA, Deutschlands, Frankreichs und Polens mischten sich Anfang 2014 in die inneren Angelegenheiten des Landes ein; auch CIA-Chef John Brennan und der ultrakonservative ehemalige Präsidentschaftskandidat der Republikaner, John McCain, besuchten während der Maidan-Aufstände ihre Marionetten in Kiew. (3)

McCain versicherte dem Vorsitzenden der rechtsextremen Swoboda-Partei, Oleg Tjagnibok, seine Unterstützung im Kampf gegen die rechtmäßige Regierung, und auch der deutsche Außenminister Steinmeier stärkte den westukrainischen Aufständischen den Rücken. Zu der Zeit stand schon fest, dass nicht die von Bundeskanzlerin Merkel favorisierte Julia Timoschenko oder der ehemalige Boxer Vitali Klitschko das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen würden, sondern ein Günstling der USA, der Oligarch Arsenij Jazenjuk. Das ging aus einem abgehörten Telefongespräch zwischen Victoria Nuland und dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, hervor. (4)

Washington plante das Szenario für die Zeit nach dem lange vorbereiteten Staatsstreich also noch während der Unruhen auf dem Maidan-Platz. Als dort am 22. Februar 2014 mehr als hundert Demonstranten und Polizisten in einem ungeheuerlichen Blutbad zum Teil hinterrücks erschossen wurden, wiesen Julia Timoschenko und die westlichen Politiker dem 2010 gewählten Staatspräsidenten Victor Janukowitsch die Schuld zu und die Situation eskalierte.

Aus einem abgehörten Telefonat der Außenbeauftragten der EU, Catherine Ashton, mit dem estnischen Außenminister Urmas Paet ging dann hervor, dass die Todesschützen nicht auf Befehl von Janukowitsch gehandelt haben sollen, sondern im Auftrag einer Gruppe, die der „Übergangsregierung“ angehörte und auch in der neuen Regierung wichtige Ämter besetzt hat. (5) Die Morde sind bis heute nicht aufgeklärt, ebenso wenig die Ermordung von 48 prorussischen Demonstranten in Odessa, wo prowestliche Nationalisten das Gewerkschaftshaus in Brand gesetzt hatten.

Lügen und Hetze

Nachdem sich die Krim von der Ukraine löste und es zu separatistischen Bewegungen in der Ostukraine kam, starteten die westukrainische Nationalgarde und Teile der Armee eine mörderische „Anti-Terror-Operation“, die sich rasch zum Bürgerkrieg ausweitete. Dass sich aber die überwiegend russischsprechenden Ostukrainer nicht „von einer Sammlung von Verbrechern, Abkömmlingen ukrainischer Nazis und in den IWF und die EU verliebten Oligarchen“ regieren lassen wollten – so der niederländische Politikwissenschaftler Karel van Wolferen (6) –, ist nur zu verständlich.

Doch die westlichen Medien, deren leitende Redakteure großenteils US-amerikanisch gesteuerten Think Tanks und Organisationen angehören oder nahestehen, (7) schweigen dazu und führen nach wie vor eine Propaganda-Schlacht gegen Russland und dessen Präsidenten Putin. Russland schüre den Konflikt, heißt es, Moskau hetze, Putin, dem „neuen Zar“, fehle es an Menschlichkeit usw.(8)

Was sich in den deutschen Medien seit Monaten an Lumpereien abspielt, mögen zwei Zitate verdeutlichen: DIE WELT berichtete am 10. September 2014 über „Tränen in der Mongolei“: „Putin rollen in der fernen Mongolei beim Klang der russischen Nationalhymne Tränen über die Wangen. Er wischt sie weg, der kleine Narziss. Das Volk daheim soll Derartiges nicht sehen. Aber war es wirklich Selbstliebe und nicht eher der selbstmitleidige Gefühlsausbruch eines Überforderten? Die breiten Schultern mögen noch stählern wirken, das mit Botox behandelte Gesicht aber spricht die Sprache von Selbstzweifel und Alterungsangst. Als er nach seinem Wahlsieg vor zwei Jahren mitten in Moskau bei vaterländischen Klängen die Contenance verlor, soll es der kalte Wind gewesen sein. Nie ist man es selbst.“ (9)

Im Berliner Tagesspiegel lesen wir am 23. August 2014 über russische Hilfslieferungen nach Luhansk: „Unter der Farbe der Unschuld hat Russland eine neue Stufe der Provokation gegen die Ukraine gestartet.“„G enial und heimtückisch“ sei die Idee gewesen, diesen Hilfskonvoi auf den Weg zu bringen, in dem statt Wasser und Nahrung „Panzerfäuste oder gar frische russische Kämpfer“ transportiert worden sein könnten. (10)

Das Versagen der europäischen Politiker

Die Ursachen des Absturzes eines malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine bleiben nach wie vor im Dunkeln. Noch vor den Untersuchungen hatte es einen Sturm der Entrüstung und des Hasses gegen Russland gegeben, und die „westliche Allianz“ hatte den angeblichen Abschuss der Maschine mit einer russischen Rakete zum Anlass genommen, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Militäreinheiten an den Grenzen Russlands zu stationieren. NATO-Generalsekretär Rasmussen forderte die Mitgliedstaaten der Militärallianz auf, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen und Obama und Merkel verkündeten weitergehende Sanktionen gegen Russland.

Hier zeichnete sich das Ziel der US-Imperialpolitik wie auch der EU-Expansionsstrategie ab, sich die Ukraine als Brückenland von großer geostrategischer Bedeutung sowie als Wirtschaftsraum und Tor zu Russlands Ressourcen einzuverleiben. Dabei spielen die EU-Staaten lediglich die Rolle eines willfährigen Komplizen, wie aus einer Rede des US-Vizepräsidenten Joe Biden hervorgeht, (11) veröffentlicht vom Weißen Haus am 3. Oktober 2014 – eine Schande für die deutsche Bundeskanzlerin und ihren Außenminister.

Inzwischen scheint man sogar einen Ersatzpräsidenten für Russland bereitzuhalten: Den ehemals reichsten Oligarchen Russlands, Michail Chodorkowski, der wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zehn Jahre in Haft war. (12)Mit seiner Hilfe hatten die USA noch zu Zeiten von Boris Jelzin versucht, Einfluss auf den russischen Energiekonzern Yukos zu nehmen. Chodorkowski lebt jetzt – immer noch milliardenschwer (13) – in der Schweiz, von wo aus er die russische Opposition unterstützt.

Maßgebend ist in allem die US-Regierung mit ihren Handlangern. Kiew sei sozusagen die Generalprobe für Moskau, also für einen „Regime Change“ in Russland, so war schon in Washingtoner Politikerkreisen zu vernehmen. (14)Vieles deutet darauf hin, dass den USA nicht an einem wirtschaftlich starken, friedlichen Europa liegt. Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium und OSZE-Vizepräsident Willy Wimmer (CDU), analysiert das wie folgt: „Washington schmeißt Russland aus Europa hinaus und bekommt Westeuropa unter Komplett-Kontrolle. Da mag es traditionell noch so gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland geben. Washington dreht diesen Hahn in Zukunft ab oder Moskau kriecht zu Kreuze. (…) Wir Westeuropäer sollten uns nichts vormachen. Wir werden zum „Europäer-Gebiet …“ (15)

Offensichtlich zielt die Strategie der US-Regierung darauf hin. Für die Staaten Europas wäre es dringend an der Zeit, auf dem verhängnisvollen Weg in Krieg und Zerstörung als Komplizen der USA einzuhalten, die Interessen der Bevölkerung in den Blick zu nehmen und ihre souveränen Rechte zu wahren. Leider ist das zurzeit ein frommer Wunsch, denn die führenden Politiker und die Medien lügen und hetzen weiter. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Herausgeber der NachDenkSeiten, Albrecht Müller (SPD), beklagte schon vor einigen Monaten: „In wessen Hände sind wir da geraten!“ (16)

Es stellt sich die Frage, wie diese desaströse Politik geändert werden kann. Die belogene Bevölkerung in dieser Europäischen Union der US- und Konzerninteressen mit ihren abgewrackten Politikern hält in ihrer Mehrheit still. Allerdings gibt es in letzter Zeit bescheidene Anzeichen einer Ernüchterung. Während Angela Merkel anlässlich des G-20-Gipfeltreffens in der üblichen dreisten Weise im Sinne der US-Regierung gegen Wladimir Putin polemisierte, warnte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel vor dem „Säbelrasseln an den Außengrenzen der Nato“. (17) Gabriel lehnte weitere Sanktionen gegen Russland ab und tritt für eine Besinnung auf die seinerzeit von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik ein.

Noch deutlicher wurde der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzek, der für Verständnis der russischen Position warb und zu bedenken gab: „Was käme denn nach Putin, wenn der russische Präsident weg wäre? Sicher kein pro-europäischer Nachfolger, eher ein noch nationalistischerer Präsident. Wenn Russland als zweitgrößte Nuklearmacht der Welt aber politisch instabil würde, hätte das unabsehbare Folgen. Das wäre brandgefährlich!“ (18)

Das sind völlig neue Töne in dieser stümperhaften europäischen Ostpolitik. Sie nähren die vage Hoffnung, dass eine weitere Konfrontation zwischen der US-dominierten westlichen Allianz und Russland verhindert werden könnte.


 

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Wolfgang Bittner ist Jurist und Schriftsteller. Soeben ist sein Buch Die Eroberung Europas durch die USA bei VAT in Mainz erschienen.

Quellennachweis
(1) http://www.bmwi.de/DE/Themen/Aussenwirtschaft/laenderinformationen,did=316538.html
(2) https://www.freitag.de/autoren/hans-springstein/5-milliarden-dollar-fuer-den-staatsstreich
(3) http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Ukraine/demos.html
(4) http://www.nachdenkseiten.de/?p=20781
(5) https://www.youtube.com/watch?v=cVF89aY0MzY
(6) http://www.unz.com/article/the-ukraine-corrupted-journalism-and-the-atlanticist-faith/
(7) Uwe Krüger, Meinungsmacht, Köln 2013.
(8) Wolfgang Bittner, Die Eroberung Europas durch die USA, Mainz 2014, S. 14 f.
(9) http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article132076328/Traenen-in-der-Mongolei.html
(10) http://www.tagesspiegel.de/meinung/ukraine-konflikt-merkel-reist-nach-kiew-putin-provoziert/10371362.html
(11) http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/10/05/obama-vize-blamiert-merkel-usa-haben-eu-zu-sanktionen-gegen-russland-gezwungen/
(12) http://www.tagblatt.ch/aktuell/international/international-sda/Chodorkowski-will-Putin-herausfordern;art253652,3962087
(13) http://www.handelszeitung.ch/politik/st-gallen-freut-sich-auf-chodorkowski-steuern-589947
(14) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20079
(15) Wolfgang Bittner, Die Eroberung Europas durch die USA, Mainz 2014, S. 140.
(16) http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=21459
(17) Dieter Wonka/Kristina Dunz: Merkel warnt Putin – und Gabriel fordert neue Ostpolitik, Göttinger Tageblatt v. 18.11.2014.
(18) http://web.de/magazine/politik/matthias-platzeck-nachgiebigkeit-ukraine-konflikt-30218122

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