EU-Politik

Leugner des Turms

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von VIKTOR TIMTSCHENKO, 8. Juni 2012 –

In der litauischen Hauptstadt Vilnius geht ein grotesker Prozess „um sieben Worte“ zu Ende. Dem Angeklagten droht eine Freiheitsstrafe. Das Urteil wird am 12. Juni erwartet. Und notorische EU-Demokraten schauen lethargisch zu.

Der Fernsehturm von Vilnius war unter Gorbatschow bekannter als der Turm zu Babel. Eben vor diesem Turm sammelten sich am 13. Januar 1991 die Kämpfer für die nationale Unabhängigkeit Litauens von der verhassten Sowjetunion, von den „Russen“. Mitglieder der Bewegung „Sajūdis“ hatten den Fernsehsender bereits in ihre Gewalt gebracht, und die „Russen“, die Spezialeinheit „Alpha“ des KGB und die Soldaten der Sowjetarmee, waren dabei, den Sender zurückzuerobern.

Aufgebrachte litauische Bürger standen auf der einen Seite und die „Alpha“ und Fallschirmjäger auf der anderen. Auch sowjetische Panzer rollten Richtung Fernsehturm und richteten ihre Läufe auf die Menge…

Und in dieser Situation fielen Schüsse. 13 erzürnte, aber unbewaffnete Bürger, ließen ihr Leben auf dem Platz vor dem Fernsehturm. „Russen“ haben sie kaltblütig umgebracht, hieß es nicht nur in litauischen Nachrichten. Zum Begräbnis kamen Zehntausende Litauer. Hass, Hass, Hass auf „die Russen“ war die vorherrschende Stimmung im Baltikum.

Heute, 21 Jahre später, sagen einige, dies geschah voll und ganz mit Billigung des damaligen kommunistischen Herrschers Michail Gorbatschow. Er selbst kann sich an so eine Information zu Vilnius und Fernsehturm gar nicht erinnern. Wie auch nicht an die Massaker in Tiflis, in Alma-Ata, Minsk, Baku, Duschanbe und Riga. Aber das nur nebenbei…

Daraufhin zogen sich die „Russen“ erst aus Vilnius, dann aus Litauen, schließlich aus dem ganzen Baltikum zurück. Der Fernsehturm von Vilnius wurde zum Zeichen der sowjetischen „Aggression“, einer der Wendepunkte der Befreiung der nationalen Republiken vom „russischen“ Joch, einer der Marksteine des Zerfalls der Sowjetunion.

Diese 13 waren zu Helden der ganzen Nation geworden. Der Platz vor dem Fernsehturm hieß von nun an der „Platz des 13. Januar“, für die Kämpfer gab es entsprechende Medaillen. Die Ereignisse am Fernsehturm wurden zum nationalen Heiligtum der Litauer. Und obwohl, sogar nach 21 Jahren, die Ermittlungen zu den Todesursachen dieser 13 noch nicht abgeschlossen sind, wurde vom litauischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das „die Leugnung der Ereignisse vom 13. Januar“ unter Strafe stellt. Damit keiner auf die Idee kommt, dort nachzubohren…

Im November 2010 wagte ein Litauer seinen Zweifel zu äußern. Er sagte: „Wie sich jetzt herausstellte, schossen Unsere auf Unsere“. Nicht „die Russen“. Im Litauischen sieben Wörter. Er sprach sie aus, obwohl ihm dafür eine Strafe droht. Ist er überhaupt bei Trost?

Algirdas Paleckis zweifelt die offizielle Version der Vorfälle vom 13. Januar 1991 an. Danach sollen Russen 13 Litauer kaltblütig erschossen haben. “Unsere schossen auf Unsere”, erklärte Paleckis.

Algirdas Paleckis wurde 1971 als Sohn eines litauischen Diplomaten in der Schweiz geboren. Er studierte Außenpolitik in Vilnius und Paris. Seit 1994 stand er in Diensten des litauischen Außenministeriums, darunter vier Jahre lang als Sekretär der litauischen diplomatischen Mission bei der EU in Brüssel. Zwischen 2004 und 2007 war er Volksabgeordneter des Seims, des litauischen Parlaments, Mitglied der Parlamentarischen Delegation Litauens bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Er spricht vier Fremdsprachen. Seit 2007 ist er Abgeordneter des Stadtrates von Vilnius, zeitweise auch ihr Vize-Oberbürgermeister. Er ist Vorstandsmitglied der internationalen Menschenrechtsbewegung „Welt ohne Nazismus“. 2002 verlieh man ihm den Orden der Ehrenlegion in Frankreich, 2004 den Orden „Für die Verdienste für Litauen“.

Er ist fraglos ein intelligenter Mann, der seine Worte zu wählen weiß. Warum sagte er in der Live-Radiosendung: „Unsere schossen auf Unsere“?

Erstens gibt es Zeugenaussagen, die sahen, dass nicht „die Russen“ in die Menge schossen, sondern Leute aus den Fenstern und vom Dach des Hauses in der Nähe. Und aus dem Fernsehturm selbst. In seinem Buch „Das Narrenschiff“ schrieb Vytautas Petkevičius, einer der Gründer von „Sajūdis“, 2004: „Das Blut der dreizehn Opfer liegt auf dem Gewissen von Landsbergis und Audrius Butkevičius (Anführer von „Sajūdis“ – V.T.). Sie haben angeordnet, dass Dutzende (litauische – V.T.) Grenzsoldaten in Zivil in den Fernsehturm von Vilnius geschickt wurden. Sie schossen mit scharfer Munition von oben nach unten in die Menge. Ich sah mit meinen eigenen Augen, wie die Kugeln auf den Asphalt prallten und als Querschläger um meine Füße flogen. Darüber, wie es war, erzählten mir auch verletzte (im Handkampf mit „Alpha“ – V.T.) Grenzer. Sie versuchten, die Wahrheit durch die Presse wiederherzustellen, konnten aber nichts beweisen, weil sie von den Listen der Verteidiger (des Fernsehturms – V.T.) gestrichen wurden…“

Zweites Argument Paleckis: Die Kugeln flogen in der Nacht nicht waagerecht (nicht so wie wenn Soldaten auf der Straße auf Bürger auf derselben Straße schießen würden), sondern von oben nach unten, und zwar im Winkel von 50 bis 60 Grad. Drittens, die Projektile stammen nicht aus Kalaschnikows oder modernen Scharfschützengewehren, mit denen Soldaten ausgerüstet gewesen wären, sondern aus Jagdwaffen mit glattem Rohr und entsprechenden Kugeln, aus Kleinkalibergewehren bzw. aus einem Gewehr aus dem Jahr 1891 – das haben (trotz der in Litauen nicht abgeschlossenen Ermittlungen zu 13 Todesursachen) die Gerichtsexperten immerhin festgestellt. Viertens, an dem Tag wurde auch ein sowjetischer Offizier erschossen – ein Beweis, dass einige Personen in Zivil auf der Seite der Aufständischen doch Waffen hatten. Fünftens, zwei der „Ermordeten“ wurden als Verkehrstote (Auto-, und nicht Panzerunfall) identifiziert. Sechstens, einer von 13 starb an Herzversagen, ein anderer wurde von Kugeln durchlöchert, nachdem er bereits tot war. Siebtens, es ist bekannt, dass die Bewegung „Sajūdis“ 1991 bewaffnete paramilitärische Einheiten besaß. Achtens und neuntens existieren auch Zeugenaussagen derjenigen, die auf der litauischen Seite bewaffnet waren und es gibt Bilder aus dieser Nacht, die litauische Freiheitskämpfer mit Glattrohrgewehren zeigen. Schließlich zehntens: Einer der Organisatoren des litauischen Widerstandes am Fernsehturm gab öffentlich zu, dass sie mit Opfern am Turm gerechnet und die Menschen auch provoziert haben.

Deshalb sagte Algirdas Paleckis das, worüber in Litauen sich keiner auch nur ganz leise zu flüstern traut.
Paleckis brachte 12 Augenzeugen mit ins Gericht, die allesamt seine Version und nicht die der Staatsanwaltschaft bestätigten, und wurde am 18. Januar 2012 in erster Instanz freigesprochen.
Jetzt läuft das Verfahren im Berufungsgericht – die Staatsanwaltschaft will in dem historischen ersten Prozess wegen der „Leugnung der Ereignisse vom 13. Januar“ den „Unruhestifter“ bestraft sehen.

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In der Sache würde, so Paleckis, eine unabhängige internationale Untersuchungskommission helfen, Licht in diese dunkle Geschichte („Sehr viele Fragen und keine Antworten“) zu bringen. Aber als Realist glaubt er nicht, dass so ein Ausschuss im heutigen Litauen möglich wäre.

Die Partner in der EU mit ihrem „europäischen Wertekanon“, aber auch die „demokratische“ Presse, beobachten schweigend, wie in Europa ein politischer Dissident „für sieben Worte“ bestraft wird. Dissidenten in der EU darf es partout nicht geben, das ist wohl ungeschriebenes (EU-)Gesetz.
Im Unterschied zu Russland, China und Burma.

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