Brasilien

Rousseff immer stärker unter Druck

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Nach dem Ausstieg ihres wichtigsten Koalitionspartners aus der Regierung wird eine Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff immer wahrscheinlicher

Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei (PT) geraten immer stärker in Bedrängnis, nachdem das Direktorium der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) am Dienstag das Bündnis mit der Arbeiterpartei aufkündigte. Der Beschluss der PMDB-Führung sieht den Abzug ihrer sechs Minister aus der Regierung sowie die Aufgabe hunderter Regierungsposten vor.

Parteichef Michel Temer soll aber den Posten des Vizepräsidenten beibehalten, so kann er bei einem erfolgreichen Amtsenthebungsverfahren die eigentlich bis Ende 2018 gewählte Rousseff im Amt beerben. Ein entsprechendes Verfahren war vor zwei Wochen vom Parlament eingeleitet worden.

Begründet wird das Verfahren mit angeblichen Haushaltstricks und Ungereimtheiten bei der Wahlkampagne 2014 – Rousseff bestreitet die Vorwürfe. Wenn Abgeordnetenhaus und Senat zustimmen, könnte die ehemalige Guerilla-Kämpferin bereits Anfang Mai für sechs Monate suspendiert werden, in der Zeit würde der Senat die Vorwürfe gegen sie prüfen. Temer würde in dieser Zeit Interims-Präsident. Im Oktober könnte der Senat dann mit Zweidrittel-Mehrheit eine endgültige Amtsenthebung beschließen.

Der Koalitionsbruch macht eine Amtsenthebung der Präsidentin immer wahrscheinlicher. Doch zu deren Gunsten erklärten die sechs PMDB-Minister am Mittwoch überraschenderweise, in ihren Ämtern zu verbleiben. Agrarministerin Kátia Abreu betonte auf Twitter: „Wir machen weiter, in der Regierung und in der PMDB.“ Es gelte, gemeinsam die Krise in Brasilien zu bekämpfen.

Die Widersetzung der PMDB-Minister gegen den Beschluss ihrer Parteiführung belegt die tiefe Spaltung der Mitte-Rechts-Partei ist. Seit 2003 war die PMDB Partner der gemäßigt linken Arbeiterpartei.

Schon vor dem (Teil-)Ausstieg der PMDB aus der Koalition war die Präsidentin kaum noch handlungsfähig. Im Parlament sieht sie sich mit einer Blockade-Politik der rechten und konservativen Kräfte konfrontiert, die über eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen. Zudem gab es schon zuletzt unter den 68 PMDB-Abgeordneten viele Abweichler.

Die Zerwürfnisse innerhalb der Regierung sind Ausdruck der tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, die das südamerikanische Land mit seinen zweihundert Millionen Einwohnern erfasst hat. Die Erosion der Rousseff-Regierung begann vor einem Jahr, als der Korruptionsskandal um Auftragsvergaben des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras erstmals massive Proteste auslöste, die seitdem immer wieder aufflammen. Von 2003 bis 2010 war Rousseff Aufsichtsratsvorsitzende des Konzerns. Belege dafür, dass sie selbst in Korruptionsfälle involviert war, gibt es nicht. Ihre Gegner werfen der Präsidentin jedoch vor, deren Aufklärung zu behindern.

 

Befeuert wird der Widerstand gegen Rousseff durch eine schwere Rezession. Die Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 3,8 Prozent eingebrochen, die Zahl der Arbeitslosen ist auf über neun Millionen gestiegen. Die Staatsanleihen der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt wurden von den Ratingagenturen im Laufe des letzten Jahres mehrfach abgewertet und befinden sich mittlerweile auf Ramschniveau. Die Inflation beläuft sich auf über zehn Prozent. Zu den hausgemachten wirtschaftlichen Problemen (1) kommen die niedrigen Rohstoffpreise, die vor allem die Erlöse aus dem Ölexport schmälern und so zu sinkenden Staatseinnahmen führen.

In den letzten Wochen gingen hunderttausende Brasilianer auf die Straße – für und gegen Rousseff und ihre Arbeiterpartei. Noch sind es vor allem Angehörige der (weißen) Mittel- und Oberschicht, die es auf die Straße gegen die Regierung treibt. (2) Unter den ärmeren Schichten genießt diese aufgrund ihrer Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts einen gewissen Rückhalt. Doch gerade die sozial Benachteiligten ächzen unter der Inflation und den sich daraus ergebenden steigenden Lebenshaltungskosten. Angesichts leerer Kassen ist die Regierung zudem gezwungen, auch bei Sozialprogrammen den Rotstift anzusetzen.

Lula soll‘s richten

Der Arbeiterpartei fällt es daher zunehmend schwerer, das eigene Klientel für eine Fortsetzung ihrer Politik zu mobilisieren. Die PT setzt nun verstärkt auf Luiz Inácio Lula da Silva, oder schlicht „Lula“, unter dem sie vor dreizehn Jahren an die Macht gelangte.

Rousseffs charismatischer Amtsvorgänger genießt gerade unter den ärmeren Schichten weiterhin viel Rückhalt. Während seiner Amtszeit (2003-2011) legte das brasilianische Bruttoinlandsprodukt kräftig zu, Millionen Menschen konnten aus der Armut geholt werden – die Armutsquote halbierte sich.

Als Lula aus dem Präsidentenamt schied, hatte er sagenhafte Zustimmungswerte von 83 Prozent. (3) Lula hatte Rousseff bei seinem Amtsabschied als seine Nachfolgerin vorgeschlagen, aufgrund seiner Beliebtheit war deren Wahl zur Präsidentin beinahe ein Selbstläufer. Ihre Wiederwahl 2014 fiel dagegen denkbar knapp aus.

Von einer Beliebtheit, wie sie Lula als Präsident genoss, kann Rousseff gegenwärtig nur noch träumen. In Umfragen liegen ihre Zustimmungswerte nur noch bei rund zehn Prozent. Das zeigt, dass auch viele Anhänger der Arbeiterpartei unzufrieden mit ihrer Politik sind.

Um die eigene Regierung zu stärken und die Parteibasis hinter sich zu einen, soll Lula nach Wunsch Rousseffs wieder eine stärkere Rolle in der brasilianischen Politik spielen. Doch dessen vor zwei Wochen erfolgte Nominierung zum Kabinettschef brachte nicht den erwünschten Befreiungsschlag, den sich die 68-jährige davon erhoffte. Viele Abgeordnete ihres Koalitionspartners PMDB, darunter Parteichef Temer, blieben der Amtseinführung Lulas fern. Beobachter werteten das als Signal für ein bevorstehendes Platzen der Koalition – und lagen damit richtig.

Juristen machen Politik

Kaum dazu ernannt, untersagte der Bundesrichter Itagiba Catta Preta Neto, dass Lula Kabinettschef werden darf. Der Richter begründete das mit laufenden Korruptionsermittlungen gegen den 70-Jährigen. Bei den Vorwürfen geht es unter anderem um Ungereimtheiten beim Bau eines luxuriösen Apartments. Lula bestreitet vehement, hierbei von einem Baukonzern begünstigt worden zu sein.

Zweifel an der Neutralität des Bundesrichters sind allerdings mehr als nur angebracht. Kurz vor seinem Urteil gegen Lula veröffentlichte Catta Preta auf seiner Facebook-Seite ein Selfie, das ihn auf einer Demonstration der Opposition zeigt – Überschrift „Dilma raus“. In einem anderen Eintrag forderte er seine Follower auf, „helft, Dilma zu stürzen“. (4)

Catta Preta ist nicht der einzige Richter, der sich gegenwärtig zugunsten der Opposition in die Politik einmischt. Mit seinen kompromisslosen Ermittlungen im Petrobas-Korruptionsskandal verschaffte sich Sérgio Moro den Respekt breiter Teile der brasilianischen Gesellschaft, der oppositionellen Protestbewegung gilt er regelrecht als Idol. Doch mittlerweile muss sich auch der Ermittlungsrichter, dessen Konterfei es sogar auf die Titelseiten internationaler Magazine schaffte, vorwerfen lassen, mit seiner Arbeit politische Ziele zu verfolgen, die die Beseitigung der Regierung bezwecken.

So sorgte Moros vor einem Monat für politisches Aufsehen, als er Lula vorrübergehend festnehmen und den Wohnsitz des Ex-Präsidenten durchsuchen ließ. Doch „obwohl Dutzende Staatsanwälte und Bundespolizisten (…) die Finanzen und persönlichen Lebensverhältnisse des Ex-Präsidenten seit Monaten durchforsten“, ist es dem Richter bislang nicht gelungen, eine Anklage gegen Lula auf den Weg zu bringen. „Die Indizien sind immer noch dürftig“, bewertete Spiegel-Online den Vorgang. (5)

Da Lula auf juristischem Wege – zumindest vorerst – nicht beizukommen ist, entschied sich Moro für ein politisches Manöver, dass in den Augen vieler Juristen einen klaren Rechtsbruch darstellt: Kurz vor seiner geplanten Ernennung zum neuen Kabinettschef gab Moro ein abgehörtes Telefonat zwischen Lula und Rousseff an die Presse weiter – die Überwachung von Lulas Telefonanschluss hatte Moro zuvor angeordnet. Würde Lula Kabinettschef, wäre nicht mehr Moro für die Ermittlungen gegen die Ikone der brasilianischen Linken zuständig, sondern allein der Oberste Justizgerichtshof.

In den Augen der Opposition belegt der Gesprächsinhalt ihren Vorwurf, die Besetzung des Regierungspostens solle Lula vor Strafverfolgung schützen. Ungeachtet der Fragwürdigkeit dieser Interpretation befeuerte die Veröffentlichung des Mitschnitts massiv die Anti-Regierungsproteste.

Rousseff und Lula kritisierten die Veröffentlichung scharf. Diese sei illegal und nicht mit der Verfassung vereinbar. „So fangen Staatsstreiche an“, äußerte sich die Präsidentin anschließend.

Auch wenn gewisse Korruptionsvorwürfe gegenüber Regierungsmitgliedern und Angehörigen der Arbeiterpartei ihre Berechtigung haben, muss sich die Opposition vorwerfen lassen, diese zweckdienlich zu instrumentalisieren, wenn sie gleichzeitig den Filz in den eigenen Reihen unterschlägt.

Korruption und Käuflichkeit sind ein Phänomen, das die gesamte politische Klasse Brasiliens betrifft. In den Petrobas-Skandal sind auch die PMDB und führende Oppositionspolitiker involviert. Insgesamt laufen gegen 352 der 594 Kongress-Mitglieder Ermittlungen wegen „krimineller Verfehlungen“, wie The Economist kürzlich berichtete. (6) Die Vorwürfe reichen bis hin zum Mordverdacht. Zudem wird gegen 36 der 65 Mitglieder der parlamentarischen Sonderkommission, die das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff koordinieren soll, gegenwärtig ermittelt. (7)

Das Verfahren wurde angestrengt von Parlamentspräsident Eduardo Cunha, gleichzeitig führender Kopf der PMDB. Ihm droht selbst ein Amtsenthebungsverfahren aufgrund von Korruptionsvorwürfen. Dabei geht es unter anderem um Schmiergelder beim Bau von Bohrinseln des Petrobras-Konzerns. Ein inhaftierter Bauunternehmer hatte ausgesagt, Cunha habe fünf Millionen US-Dollar bekommen. In der Schweiz waren dem Politiker zugeordnete Konten mit Summen in dieser Höhe aufgetaucht.

Ein Bundesrichter bezeichnete Cunha als Verbrecher, Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot warf dem Politiker vor, sein Amt zu missbrauchen, um Zeugen einzuschüchtern und die Korruptionsermittlungen gegen ihn zu blockieren. Die Vorwürfe gegen Rousseff und Lula nehmen sich dagegen vergleichsweise harmlos aus – was der einseitigen Stimmungsmache gegenüber der Arbeiterpartei seitens der großen Medien des Landes (8), die traditionell einer rechten Politik das Wort reden – allen voran der Medienkonzern Globo – jedoch keinerlei Abbruch tut.

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(mit dpa)


Anmerkungen

(1) http://www.flassbeck-economics.de/brasilien-oder-warum-weltweit-die-sozialdemokraten-systematisch-scheitern/
(2) http://www1.folha.uol.com.br/poder/2016/03/1749640-protesto-cresce-mas-manifestante-mantem-perfil-de-alta-renda.shtml
Siehe auch: http://www.hintergrund.de/201508193632/politik/welt/druck-auf-brasiliens-regierung-waechst.html
(3) http://www.bloomberg.com/news/articles/2010-12-19/brazil-s-lula-leaves-office-with-83-approval-rating-folha-says
(4) http://www.vermelho.org.br/noticia/277882-10
(5) http://www.spiegel.de/politik/ausland/brasilien-hexenjagd-auf-lula-ein-kalter-putsch-kommentar-a-1083218.html
(6) http://www.economist.com/news/leaders/21695391-tarnished-president-should-now-resign-time-go
(7) http://revistapiaui.estadao.com.br/lupa/2016/03/17/comissao-do-impeachment-tem-36-parlamentares-com-pendencias-judiciais/
(8) http://www.city.ac.uk/news/2016/march/how-brazils-media-is-hounding-out-the-president

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