Weltpolitik

Das tägliche Massaker des Hungers

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Wo ist Hoffnung? –

Von JEAN ZIEGLER, 30. Dezember 2008 –


(Auszüge einer Rede, Wien – November 2008)

„Das Recht auf Nahrung ist das Recht auf einen regelmäßigen, permanenten und freien Zugang, sei es direkt durch Produktion, sei es indirekt mittels monetärer Kaufmittel, auf eine qualitativ und quantitativ adäquate Nahrung, die den Traditionen des Volkes, dem der Konsument angehört, entspricht und die ein psychisches und physisches, kollektives und individuelles, würdiges und befriedigendes Leben ermöglicht, das frei ist von Angst.“

Das ist die Definition des Menschenrechtes auf Nahrung. Die Realität, die mit diesem Menschenrecht angesprochen wird, ist die folgende:

Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind auf diesem Planeten. Jeden Tag sterben 100.000 Menschen am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. 923 Millionen Menschen – einer auf knapp sieben, denn wir sind heute 6,3 Milliarden auf der Welt – sind permanent schwerstens unterernährt. Sie sind invalide durch permanente schwerste Unterernährung! (Zahlen aus dem World Food Report 2007, veröffentlicht im April 2008). Und derselbe World Food Report sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Entwicklungsphase ihrer Produktionskräfte, ohne genetisch veränderte Nahrung, 12 Milliarden Menschen normal ernähren könnte (d.h. mit 2.700 Kilokalorien pro erwachsenem Individuum und Tag). Wir sind 6,3 Milliarden! Praktisch die doppelte Zahl der Menschen könnte normal ernährt werden. Es gibt also keine Fatalität.

Die Folge der industriellen, technologischen, elektronischen Revolution hat die Produktionskräfte der Menschheit unglaublich gesteigert. Heute ist der objektive Mangel besiegt und die Fatalität eliminiert. Ein Kind, das heute am Hunger stirbt, wird ermordet.

Wer die Menschen lieben will, muss ganz stark hassen, was sie unterdrückt (Jean Paul Sartre)

Menschen sterben, Kinder sterben überall auf die gleiche Weise, von Guatemala bis Bangladesch, von Somalia bis in die Mongolei. Ich werde erklären, wie der physiologische Vorgang abläuft. Aber die Kausalstränge, die zu diesem täglichen Massaker führen, das sich in eisiger Normalität Tag und Nacht auf diesem Planeten abspielt, sind unglaublich komplex.

Zuerst einmal die physiologische Realität: Ein Mensch kann drei Minuten ohne Luft, drei Tage ohne Wasser, drei Wochen – wenn er ein wenig Flüssigkeit hat – ohne Nahrung überleben. Bei unterernährten Kindern setzt der Zerfall natürlich sehr viel früher ein. Zuerst braucht der Körper die Zucker- und Fettreserven auf. Dann wird der Mensch lethargisch. Dann immer dünner und dann bricht das Immunsystem zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und andere Infektionen verursachen in den Atemwegen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt im letzten Stadium der Raubbau an den Muskeln. Die sterbenden Kinder liegen am Boden, können sich nicht mehr auf den Beinen halten, die Muskeln schwinden, die Arme baumeln kraftlos am Körper, die Gesichter von Kleinkindern zerfallen, gleichen denen von Greisen und dann kommt der Tod. Es ist also eine sehr, sehr schmerzhafte Agonie. Der physiologische Ablauf der Hungeragonie ist in allen Kulturkreisen, in allen Altersgruppen, auf allen Kontinenten absolut identisch.

Der hauptsächlichste, evidenteste Grund für das Massaker ist zuerst einmal die Überschuldung. Die 122 Entwicklungsländer hatten am 31. Dezember 2007 eine kumulierte Auslandsschuld von 2.100 Milliarden Dollar. 4,8 Milliarden der 6,3 Milliarden Menschen leben in der südlichen Hemisphäre. Und in den 49 ärmsten Ländern (das ist eine Kategorie bei der UNO) werden praktisch 80 bis 90 Prozent aller Staatseinnahmen für den Schuldendienst verbraucht. Es gibt also keine Möglichkeit für Honduras, Bangladesch, Somalia, Mali, Burkina Faso usw., irgendwelche Investitionen in der Landwirtschaft oder in der Produktion zu tätigen,.

Dann der zweite Grund: der Weltwährungsfond, die absurde mörderische Politik des Weltwährungsfonds. Es geht um ein System der strukturellen Gewalt, das mörderisch ist und gleichzeitig absurd. Mörderisch, weil es tötet, und absurd, weil es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zu Beginn dieses Jahrtausends unnütz tötet. „Pour aimer les hommes, il faut détester fortement ce qui les opprime“ (Sartre) – „Wer die Menschen lieben will, muss ganz stark hassen, was sie unterdrückt“. Es geht um strukturelle Gewalt!

Der Weltwährungsfonds: Er verwaltet die Auslandsschuld der ärmsten der Entwicklungsländer. Dort sitzen diese schwarzen Raben aus Washington direkt im Regierungsbüro und befehlen dem Premierminister! Der Weltwährungsfond hat ein statutarisches Ziel und das ist die Bedienung der Auslandschuld, zu ermöglichen, dass diese Schuld bedient wird!

Jedes Mal, wenn der finanzielle Engpass kommt, wenn Neuverhandlungen mit dem betreffenden Land über Stundung, Umschuldung, neue Kredite usw. geführt werden, zwingt ihm der Weltwährungsfonds ein Strukturanpassungsprogramm auf. In jedem Strukturanpassungsprogramm, in absolut jedem, gilt das Primat der Förderung der Exportlandwirtschaft. Das ist normal, denn mit Rupee, Bolívar oder Peso können diese Länder keine Auslandsschulden an die UBS oder die Chase Manhattan Bank abzahlen. Sie brauchen Devisen. Devisen können sie nur durch Export erarbeiten und deshalb müssen Baumwolle, Zuckerrohr, Erdnüsse, Sisal usw. gepflanzt werden. Dort, wo Zuckerrohr und Baumwolle wachsen, wächst aber kein Maniok, wächst keine Hirse, wächst kein Mais. Das heißt, die Plantagenwirtschaft, die Exportlandwirtschaft, die den Entwicklungsländern in der Schuldknechtschaft aufgezwungen wird, führt zu Hunger, zu Tod.

Ich gebe ein Beispiel: Mali, ein uraltes Bauernland. 1 Mio. Quadratkilometer, sehr fruchtbarer Boden beidseits des Nigerflusses, jedenfalls hinauf bis Timbuktu, 10 Mio. Einwohner, uralte Bauernkulturen. Wirklich, die Bauern, die können etwas, sind kompetent, arbeiten: die Bambera, die Tukulor, die Haussa, die Zarma usw. Letztes Jahr hat Mali 380.000 Tonnen Baumwolle exportiert und musste 72 Prozent seiner Nahrung importieren. Vor allem Reis aus Kambodscha, aus Vietnam, aus Thailand. Und dieser Reis bleibt einen halben Monat, zwei Monate auf dem Meer. Die Preise sind alle „FOB“, das heißt „Free On Board“, also die Versicherung kommt noch dazu, die Abfahrtskontrolle kommt noch dazu, die Transportkosten kommen noch dazu. Das Beispiel Mali ist absolut paradigmatisch. Also: Der Weltwährungsfond und seine Strukturanpassungsprogramme sind sicher auch ein Grund für das Massaker.

Dann ein dritter Grund für das Massaker, das die bäuerliche Bevölkerung dieser Welt – die produzierende Bevölkerung dieser Welt – tötet und verwüstet, ist die EU-Agrarpolitik. Letztes Jahr haben alle Industrienationen zusammen für ihre Bauern 349 Milliarden Dollar an Produktions- und Exportsubventionen ausgegeben. Sie können also heute auf jedem afrikanischen Markt – je nach Saison – für ein Drittel oder die Hälfte des Preises gleichwertiger inländischer Agrarprodukte italienisches, französisches, deutsches, englisches Gemüse und Früchte kaufen. Und ein paar Kilometer weiter steht der Wolof- oder der Tukuleur-Bauer mit seiner Frau, seinen Kindern, rackert sich ab bis zum Umfallen vor Ermüdung, 14 Stunden am Tag unter brennender Sonne, und hat nicht die geringste Chance, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erringen.

Von 53 Staaten des afrikanischen Kontinents sind 37 praktisch reine Agrarstaaten. Beim EU-Agrardumping, das sich erklärt durch elektoralistische (wahltaktische) Überlegungen, geht es um strukturelle Gewalt: Wenn der Präsident Sarkozy die Chambre d’agriculture (Landwirtschaftskammer) in Frankreich verärgert, indem er die Exportsubvention streicht, dann ist er weg vom Fenster. Das Agrardumping ist mörderisch.

Von der ländlichen Bevölkerung sind 43 Prozent marktgebunden. Das heißt, deren eine Ernte genügt nicht, um bis zur zweiten Ernte zu überleben. Sie müssen also bereits die zweite Ernte mit Krediten belasten. 43 Prozent sind auf Markt-Zusatzkäufe angewiesen. Kausalitäten, die die ländliche Bevölkerung ruinieren, und Kausalitäten, die jede Bevölkerung zu Grunde richten, die in den Kanisterstädten lebt, die also keinen Zugang zur Produktion hat. 2,2 Milliarden Menschen leben nach Weltbankstatistik in extremster Armut unterhalb des Existenzminimums, haben nicht das absolut Nötigste zum Überleben. In den Favelas von Sao Paulo, in den Smokey Mountains von Manila, in den Kanisterstädten von Karatschi – dort muss das letzte Reiskorn gekauft werden. Zu Beginn des Jahres (2008) sind die Agrarpreise unglaublich in die Höhe geschnellt (sie sind gerade ein wenig zurückgegangen und wohl in Bewegung wie die anderen Börsenprodukte auch): Von Januar bis Juni ist der Weltmarktpreis für Reis um 83 Prozent gestiegen, für Weizen um 114 Prozent und für Mais um 110 Prozent. 70 Prozent ungefähr aller Nahrungsmittel auf der Welt sind die drei Grundnahrungsmittel: Reis, Weizen und Getreidemais. Alle diese Preise, Weltmarktpreise „Free On Board“, sind explodiert und haben weitere Hunderte und Hunderte von Millionen Menschen in den Abgrund gerissen. Die Hungerzahlen, die wir dann im nächsten World Food Report für das Jahr 2008 lesen können, werden fürchterlich sein. Sie werden vielleicht ein Drittel höher sein als heute, glaubt die Weltbank.

Woher kommt die Verwüstung durch Weltmarktpreisexplosionen für Grundnahrungsmittel? Es gibt zwei evidente Kausalitäten: die Agrartreibstoffe und die Spekulation. Letztes Jahr haben die Vereinigten Staaten unter dem Bioethanol-Programm 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt, ein Drittel der Maisernte, und Hunderte von Millionen Tonnen Weizen. Ich gebe nur ein Beispiel: Wenn Sie ein Bioethanol-getriebenes Auto mit einem 50-Liter-Tank haben und Sie füllen den Tank auf, müssen Sie dafür 358 Kilo Mais verbrennen. Mit 358 Kilo Mais lebt ein Kind in Sambia oder in Mexiko, wo der Mais Grundnahrungsmittel ist, ein Jahr lang. Ein Jahr lang! Also die Agrartreibstoffe, auch die der zweiten Generation, sind mörderisch. Die EU ist auf dem gleichen Weg: Im Jahr 2020 sollen 10 Prozent aller Treibstoffe in den 27 EU-Ländern pflanzlichen (im Original: „vegetal“) und nicht mehr fossilen Ursprungs sein. Selbst die EU-Ökonomen sind einverstanden, müssen jedoch eingestehen: „Selbst wenn man in Europa das Brachlandverbot aufhebt, hätte die europäische Landwirtschaft nicht die Kapazität, Biotreibstoffe in der benötigten Menge zu liefern.“ Afrika, der von Hunger verwüstete Kontinent, müsste – um die europäische Mobilität zu sichern – die Rohstoffe für diese Agrartreibstoffe liefern.

Der zweite Grund ist die Spekulation. Die Finanzkrise hat ja schon im letzten November – Dezember (2007) angefangen. Die Hedge-Fonds sind abgewandert an die Chicago Stock Exchange, also an die weltgrößte, älteste Nahrungsmittel- und Agrarrohstoffbörse der Welt. Dort investiert man in gewohnter Manier Milliarden und Abermilliarden Spekulationskapital in Termingeschäfte, in so genannte Futures usw. Sie können jetzt schon die ganze Sojaernte vom nächsten September von Brasilien aufkaufen – zum festen Preis. In Genf gibt es die UNCTAT (United Nations Conference on Tariff and Trade), eine UNO-Organisation. Dort sitzt Prof. Heiner Flassbeck, Oskar Lafontaines ehemaliger Staatssekretär. Er ist jetzt dort Chefökonom und hat errechnet – in dem so genannten Flassbeck-Bericht vom 1. Juli 2008, der heute als autoritativ gilt – dass 37 Prozent (!) der Weltmarktpreissteigerung der drei genannten Grundnahrungsmittel reine Spekulationsgewinne sind. Punkt.

Die ganze neoliberale Theorie ist eine Lüge

Das Menschenrecht auf Nahrung wird bekämpft von den Vereinigten Staaten, von Großbritannien, von Australien, Kanada und von den Söldnern der Organisation des internationalen Finanzkapitals: der Weltbank, des Weltwährungsfonds und der Welthandelsorganisation. Und zwar prinzipiell bekämpft von allen Neoliberalen.

Eine Kapitalart hat sich autonomisiert: das Finanzkapital. Liberalisierung und Privatisierung sind unglaublich fortgeschritten. Das ist die so genannte Globalisierung. Laut Weltbankstatistik hat sich das Weltbruttosozialprodukt in der Zeit von 1992 bis 2002 mehr als verdoppelt und der Welthandel mehr als verdreifacht. Der Energieverbrauch verdoppelt sich alle vier Jahre. Aber gleichzeitig steigt der Hunger. Gleichzeitig wachsen die Leichenberge.

In Darfur ist ein fürchterlicher Vernichtungskrieg gegen den afrikanischen Bevölkerungsteil im Westen im Gang, gegen die Masalit, die Zaghawa und die Fur – verantwortet von dem islamistisch-diktatorischen Regime unter General Omar al-Bashir. 300.000 Menschen sind umgebracht worden und 2,2 Millionen „displaced persons“ leben in siebzehn Lagern, die nach der Konvention der Vereinten Nationen von 1951 der Verantwortung der UNO unterstehen. Das heißt also, alle drei Tage kommen die weißen Lastwagen mit der UNO-Fahne in diese Lager, bringen Mehlsäcke, Reissäcke, Milchpulver, Wasser, Grundbasismedikamente usw. für diese Menschen. Die Leute leben also ausschließlich vom World Food Programm, dem Welternährungsprogramm. Die Tagesration für Erwachsene in den Camps beträgt heute 1.500 Kalorien. Das von der Weltgesundheitsorganisation festgesetzte Existenzminimum liegt jedoch bei 2.200 Kalorien. Die westlichen Staaten, die Industrienationen geben kein Geld mehr für die humanitäre Hilfe aus. Und die UNO redet nicht gern darüber. Ich sage es, weil die Leute es wissen sollen, in demokratischen Staaten muss man das wissen: Die UNO organisiert die Agonie des Hungers in den Lagern, auch in Somalia, auch in Nordkenia, wo die blau-weiße UNO-Flagge weht – dort, wo die UNO gemäß Völkerrecht verpflichtet ist, die Menschen am Leben zu erhalten. Also die ganze neoliberale Theorie ist eine reine „contrevérité“, ich würde gern „Lüge“ sagen, aber dann heißt es wieder, der ist ein dogmatischer Paleo-Marxist. Ich sage jetzt einmal: entspricht nicht der Wirklichkeit.

Ich habe in meinem Guatemala-Bericht einige Empfehlungen gegeben. In Guatemala leben 10 Millionen Einwohner, 5 Prozent ausländische und einheimische Großgrundbesitzer kontrollieren über 85 Prozent des bebaubaren Bodens. Auf der Sierra del Yucatán sehen die Mayafrauen mit 30 Jahren aus, als ob sie 80 wären: keine Zähne mehr, grauer Teint. Die Kinder haben Arme und Beine wie Zündhölzer. Eine meiner Empfehlungen in dem Bericht an die UNO war: Agrarreform in Guatemala und Schaffung eines Grundbuches. Es gibt nicht einmal ein Grundbuch seit 1825, also seit der Entstehung des postkolonialen Nationalstaates. Die Latifundias, die großen Besitzer schicken einfach die Pistoleros und wenn sie ein Mayadorf in Besitz nehmen wollen, dann erschießen sie ein paar Leute, die anderen fliehen. Und da habe ich Agrarreform und Grundbuch verlangt! Der amerikanische Botschafter ist auf mich losgegangen wie auf einen Aussätzigen und hat gesagt: „Wie können Sie! Diese Zeiten sind vorbei, wo die Diktatur den Markt beherrscht, wo Staaten in das Marktgeschehen eingreifen sollten!“

Wurde abgelehnt. Total abgelehnt. Ganz konkret. Das einzige, was ich da herausholen konnte, ist, dass die Weltbank jetzt vier Helikopter bezahlt, um wenigstens eine topografische Erfassung des Landes zu machen. Das sind die Voraussetzungen, damit vielleicht einmal im Jahr 3500 ein Grundbuch kommt und dann im Jahr 4000 eine Agrarreform.

Die 500 größten transnationalen Konzerne der Welt haben letztes Jahr 52 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also alle auf der Welt in einem Jahr produzierten Güter, Dienstleistungen, Patente, Kapitalien. Eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König, nie ein Papst auf diesem Planeten gehabt hat. Die Finanzoligarchien haben eine Macht, wie sie nie bestanden hat in der Geschichte der Menschheit …

„Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“ (Immanuel Kant)

Natürlich, die Situation ist düster. Die Aussichten sind düster. Ein Beispiel: Am 12. Oktober (2008) sind im Élyséepalast die 15 Staats- und Regierungschefs der Eurozone unter dem Vorsitz von Frau Merkel und Nicolas Sarkozy zusammengekommen. Sie haben dreieinhalb Stunden getagt und sich geeinigt, 1.700 Milliarden Euro freizusetzen, zu mobilisieren und freizugeben für die Interbankenkredite sowie die Eigenkapitalrendite der Banken von drei auf fünf Prozent heraufzusetzen. 1.700 Milliarden! Die acht Milleniumsziele (inkl. Abschaffung – zuerst Halbierung und dann Abschaffung des Hungers), die die 192 Staatschefs der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im September 2000 zu Beginn des neuen Jahrtausends festgesetzt haben, würden pro Jahr 81 Milliarden Dollar kosten, auf fünf Jahre. Das sind etwa 1 Prozent der Riesensummen, die jetzt von den Eurozone-Staatschefs in die Bankruinen hineingeworfen werden – düstere Aussichten. Und natürlich: Die 81 Milliarden pro Jahr bekommt niemand aus eben jenen Staaten, die 1.700 Milliarden für ihre spekulierenden Bankhalunken freisetzen. Das ist eine düstere Aussicht.

Die mörderische Weltordnung des Raubtierkapitalismus kann gebrochen werden

Georges Bernanos, der französische (Schriftsteller),hat gesagt: „Dieu n’a pas d’autres mains, de le nôtre“ – Gott hat keine anderen Hände als die unseren. Entweder wir ändern diese Welt oder sonst tut es niemand. Der moralische Imperativ muss organisiert werden und er wird organisiert. Die planetarische Zivilgesellschaft ist im Entstehen, das neue historische Subjekt ist in der Genesis – steht an seinem Beginn. In Wien gibt es eine unglaublich aktive Attac-Sektion. Die habe ich in Heiligendamm letztes Jahr kennen gelernt. Heiligendamm, die G-8-Staatschefs hinter Stacheldraht. Ein Unterseeboot, Polizeihelikopter, 12.000 schwer bewaffnete Polizisten vor diesem Hotelkasten – von Wilhelm II. an die baltische See gesetzt – und jenseits des Stacheldrahtes Mecklenburgs die Zelte von 180.000 Menschen: Gewerkschafter, links, rechts. Alles, was sie wollen, alle Altersklassen, aus 41 Ländern, die gesagt haben: „So eine Welt nicht, wie ihr sie da fabriziert“.

Am 22. bis 28. Januar kommen wir zusammen zum neuen Weltsozialforum in Belém do Pará, im Norden Brasiliens. Die planetarische Zivilgesellschaft – die gibt es, sie ist ein identifizierbares, historisches Subjekt! Das ist kein vages Projekt, sondern Bewegungen, die sich langsam koordinieren, wie eine lebendes Internet, die wachsen und getragen sind ausschließlich vom moralischen Imperativ. Nicht von einer politischen Theorie. Es gibt kein Zentralsekretariat, es gibt keinen Vorstand, es gibt kein Programm, das man verteidigen kann. Nichts.

Es sind Leute, die im Kampf stehen: Frauen für die Gleichberechtigung, Katholiken in Köln für die Entschuldung, Attac für die Tobin-Steuer – also die Anti-Spekulationssteuer – Greenpeace für die Erhaltung der Natur, die noch vorhanden ist usw. usw. Es sind die Widerstandsfronten, die sich in diesen sozialen Bewegungen mobilisieren. Aber die so mächtig sind, dass heute keine Welthandelskonferenz mehr auf europäischem Boden stattfinden kann. Das muss man auch wieder sagen: In Seattle war das letzte Mal (stürmischer Applaus).

Jeder redet von der Doha-Runde. Jetzt soll die EU die Sache zum Abschluss bringen. 2001 war die letzte Verhandlungsrunde. Die Doha-Runde ist jetzt gestoppt, sie ist paralysiert wegen des Agrarabkommens. Doha, wissen Sie wo das ist? Ich habe das nämlich nicht gewusst. Das ist ein absolut obskures Scheichtum im Persischen Golf (Katar). Wo Menschenrechte nicht einmal im Flüsterton erwähnt werden können. Da gibt es eine Insel – dazu noch mit Kriegsschiffen umgeben. Dort wurde die letzte Welthandelskonferenz, die Doha-Runde beschlossen. Nach Doha müssen die heute, die Herren der Welt. Nach Doha! Verstehen Sie? Das zeigt deren demokratische Legitimität. Die ist nämlich null.

Ich will zum Schluss kommen. Ich möchte, dass Sie mir glauben, dass dieses historische Subjekt heute eine soziale Kraft ist und wächst und kumulative Kraft hat. Die Koordination wird immer stärker, und zwar jenseits von Parteien, Gewerkschaften usw. Diese planetarische Zivilgesellschaft ist die Hoffnung im theoretischen Klassenkampf, wie Sartre sagt; das sind die neuen Bewusstseinsinhalte wie im praktischen Klassenkampf, nämlich dem Kampf um die Herrschaftsbeziehungen, wie sie tatsächlich auf dieser Welt sind.

Willy Brandt – ich war lange Zeit im Büro der sozialistischen Internationale, die jetzt ein ziemlich verkommener Haufen ist, aber sie war unter Willy Brandt eine großartige Kraft, die älteste internationale politische Organisation der Welt. Karl Marx war der erste Generalsekretär. Und Willy Brandt – der leider im September 1992 gestorben ist – hat uns immer gesagt: „Wenn ihr öffentlich redet, was immer ihr auch sagt“, die Analyse muss ja stimmen, auch wenn sie absolut düster ist, „am Schluss muss Hoffnung sein. Keiner darf aus dem Saal ohne Hoffnung gehen.“

Und drum schließe ich jetzt mit dem letzten Vers vom „Canto General“ von Pablo Neruda. Am 11. September 1973 ist Salvador Allende gestorben in der brennenden Moneda, im Präsidentenpalast von Santiago. Einen Monat später, vor Kummer und Verzweiflung, ist sein intimster Freund, Pablo Neruda, der Dichter, auf der Isla Negra gestorben und der letzte Vers des Canto General, dieses unglaublichen epischen Gedichtes heißt: „Podrán cortar todas las flores, pero no podrán detener la primavera.“

Sie – unsere Feinde – können alle Blumen abschneiden, aber den Frühling werden sie nie aufhalten können.

Ich danke Euch.


Auszüge aus der Wiener Rede – transkribiert, überarbeitet und gekürzt: Redaktion HINTERGRUND

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Jean Ziegler sprach am 18. November 2008 im Festsaal des Wiener Rathauses vor 2.500 Gästen im Rahmen der „Wiener Vorlesungen“. Veranstalter war die Kulturabteilung der Stadt Wien.

Jean Ziegler ist Soziologe, Politiker und Sachbuchautor. Bis zu seiner Emeritierung im Mai 2002 war er Professor für Soziologie an der Universität Genf und ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Er war bis 1999 Abgeordneter im Nationalrat des Schweizer Parlaments, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter. Am 26.3.2008 wurde Jean Ziegler in den Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats gewählt.

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