Weltpolitik

Der ewige Kampf für „Land und Freiheit“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von LUZ KERKELING, 13. November 2014 –

Seit Wochen erschüttern wütende Massendemonstrationen Mexiko, Verwaltungsgebäude werden in Brand gesetzt, es kommt zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die Protestierende fordern die restlose Aufklärung eines grauenhaften Verbrechens, das offenkundig Spuren staatlicher Mitwirkung aufweist: Am 26. September waren nach einer Spendensammelaktion in der Stadt Iguala von Polizisten verschleppt worden. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen haben die Beamten die Lehramtsstudenten an eine kriminelle Bande, die „Guerreros Unidos“ übergeben. Diese sollen sie erschlagen, mit Benzin übergossen und verbrannt haben.

Der Fall zeigt ein weiteres Mal, wie brutal in Mexiko jedwede linke Opposition von Kriminellen und dem Staat bekämpft wird. In der aktuellen Ausgabe von Hintergrund beschreibt der Mexiko-Kenner Luz Kerkeling, wie die Zerschlagung der letzten emanzipatorischen Überbleibsel der Revolution in Mexiko voranschreitet und welchen Widerstand von unten gegen die autoritär-neoliberalen Reformen unter Präsident Enrique Peña Nieto es gibt.

Das offizielle Mexiko entzückt seit Monaten die Wirtschaftswelt. Das Reformpaket unter Präsident Enrique Peña Nieto von der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) liest sich wie ein neoliberales Lehrbuch, die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Beseitigung von sogenannten Investitionshemmnissen werden konsequent vorangetrieben, was internationale Finanzorganisationen zu Lobeshymnen veranlasst. „Ich muss sagen, dass ich von der Geschwindigkeit und von dem Durchhaltevermögen sehr beeindruckt bin, mit dem die mexikanischen Regierungsbehörden ihr Reformprogramm vorangebracht haben“, so die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, auf einer Tagung der Weltbank im April dieses Jahres. (1)

Der aktuelle Maßnahmenkatalog, der elf weitreichende Umstrukturierungen in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft, Energie, Bildung, Arbeitsrecht, Telekommunikation und Sicherheit umfasst, nährt wie vor zwanzig Jahren das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zwischen Kanada, Mexiko und den USA die Hoffnung der Eliten, dass die zweitgrößte Wirtschaftsmacht Lateinamerikas nun dem exklusiven Club der entwickelten Industrienationen beitreten könnte.

Präsident Peña Nieto spricht im Kontext der Reformen von einem „neuen Mexiko“ und wirbt für die drei Ziele des „Paktes für Mexiko“, der nicht nur von der PRI, sondern auch von den beiden großen Oppositionsparteien PAN (Partido Acción Nacional, christdemokratisch-konservativ) und PRD (Partido de la Revolución Democrática, gemäßigt links) unterzeichnet wurde: „Die Produktivität Mexikos erhöhen, um das Wachstum und die ökonomische Entwicklung voranzutreiben. Die Rechte der Mexikaner stärken und ausweiten und unser demokratisches und freiheitliches Regime stärken.“ (2)

Doch ein kritischer Blick hinter die mediengerecht inszenierte Fassade des hochkomplexen und heterogenen Landes ist mehr als ernüchternd: Von NAFTA haben maximal zehn Prozent der Bevölkerung profitiert, für die Bevölkerungsmehrheit – vor allem auf dem Lande – folgte daraus eine mittlere bis schwere Katastrophe. Die Armut schnellte enorm in die Höhe, die zuvor gesetzlich geschützten Gemeindeländereien konnten nun privatisiert werden und die Kleinbäuerinnen und -bauern mussten zunehmend schutzlos mit der teils subventionierten Agrarindustrie aller Mitgliedsstaaten konkurrieren, so dass sich rund ein Viertel der ländlichen Bevölkerung – über sechs Millionen Menschen – gezwungen sah, die ruralen Regionen zu verlassen. (3)  Auch die optimistische Rechnung des aktuellen Präsidenten geht nicht auf: 2014 wurden die Wachstumserwartungen für Mexiko auf nun zwei Prozent zurückgerechnet.

Nicht zu vergessen bei der Analyse der soziopolitischen Situation ist die Tatsache, dass Mexiko mit dem Abschluss der zahlreichen Freihandelsabkommen enorm an Souveränität verloren hat: Den stärksten Einfluss auf die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik haben sicherlich die USA, doch auch mehrere EU-Staaten, allen voran Deutschland, sehen in Mexiko weiterhin einen attraktiven Partner, der emsig Produkte für seinen Repressionsapparat (zum Beispiel Waffen von Heckler & Koch sowie Truppentransporter von Mercedes-Benz) und die Agrar- und Drogenindustrie (zum Beispiel Chemikalien von BASF und Bayer) erwirbt. Nicht zuletzt dadurch tragen sie zur Beibehaltung eines in hohem Maße konfliktreichen Status Quo bei.

Land- und Ressourcenkonflikte

Luis Hernández Navarro, Meinungsredakteur der linksliberalen Tageszeitung La Jornada und renommierter Kenner der sozialen Konflikte Mexikos, weist gegenüber Hintergrund auf die ernsthaften Konsequenzen der aktuellen Politik hin: „Die Reformen von Peña Nieto werden im Ausland verkauft, als würden sie Mexiko in die Welt der Modernität tragen, dabei bringen sie Mexiko in die Welt der Verwüstung und der Plünderung. Sie sind ein sehr schwerer Schlag für die Bevölkerung.“ Die Aufweichung des Arbeitsrechts durch Flexibilisierungsmaßnahmen, die Überwachung der Bevölkerung und der Medien durch die stark erweiterten Kontrollbefugnisse, der Zuschnitt der Bildung auf Marktanforderungen bei gleichzeitiger Unterdrückung der kritischen Lehrergewerkschaft, die polizeiliche und finanzbehördliche Verfolgung des informellen Sektors, die zunehmende Repression gegenüber Migrantinnen und Migranten sowie die anhaltende Militarisierung des öffentlichen Raumes zeichnen ein düsteres Zukunftspanorama.

Besonders gravierende Auswirkungen wird die im August verabschiedete Energiereform mit sich bringen. Sie öffnet den parastaatlichen Ölkonzern PEMEX, der rund ein Drittel der Staatseinnahmen erwirtschaftet, nach 76 Jahren staatlicher Kontrolle dem Privatkapital. In Verbindung mit der Privatisierung weiterer Energiebetriebe wie dem Stromproduzenten CFE impliziert dies nicht nur gravierende Einnahmerückgänge etwa für das Sozialbudget des Staates und den Verlust demokratischer Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen, sondern auch eine massive Bedrohung der ländlich-indigenen Territorien durch Großprojekte wie Staudämme, Gas- und Ölförderung, Fracking oder Windparks. Auf Basis der neuen Reformen und der 189 allein für Südmexiko geplanten Infrastrukturmaßnahmen darf der Staat De-facto-Enteignungen durchführen, wenn zum Beispiel umweltschädliche Pipelines „im Interesse der Nation“ errichtet werden sollen. Dazu kommen die zahllosen Konzessionen für Tage- und Bergbau (circa 25 Prozent des mexikanischen Territoriums sind betroffen), agrarindustrielle Monokulturen, Infrastrukturprojekte und Tourismusvorhaben, die ebenfalls den Druck auf die ruralen Zonen verschärfen. Dies führt in den betroffenen Gemeinden häufig zu Spaltungen in Befürworter und Gegner der sogenannten Entwicklungsprojekte.

Anhand dieser Konflikte wird überdeutlich, dass neoliberale Praxis eben nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Ordnungspolitik impliziert: Protestieren von einzelnen Projekten betroffene Bevölkerungsgruppen oder mobilisieren sich gewachsene gesellschaftliche Bewegungen, liefert der Staat seine Dienstleistung „gratis“: Gewaltsame Repression, zweifelhafte Gerichtsverfahren mit manipulierten Beweisen und die Kriminalisierung sozialer Proteste sind in Mexiko an der Tagesordnung.

Zudem werden von Angehörigen der politisch-ökonomischen Oligarchie immer wieder pistoleros engagiert, um unliebsame Oppositionelle zu beseitigen. So wurden beispielsweise in San Sebastián Bachajón im südlichen Bundesstaat Chiapas Juan Vázquez und Juan Carlos Gómez in den Jahren 2013 und 2014 von „Unbekannten“ regelrecht hingerichtet. Die beiden Tzeltal-Indigenen unterstützten seit Jahren den friedlichen Widerstand ihrer Gemeinde Bachajón gegen infrastrukturelle Großprojekte, die in der Region von der Regierung unter dem PRI-nahen Gouverneur Manuel Velasco von der Grünen Partei (PVEM) und mexikanischen und internationalen Wirtschaftsakteuren vorangetrieben werden. Zum einen soll eine Autobahn zwischen den touristischen Hochburgen San Cristóbal de las Casas und Palenque entstehen, für die eine Enteignung der Ländereien von Dutzenden Gemeinden durchgesetzt werden müsste. Zum anderen werden die Kleinbäuerinnen und -bauern der Region dazu gedrängt, ihre milpa – das traditionelle Feld zur Selbstversorgung – auf Cash Crops wie Ölpalmen umzustellen, wodurch die Produzenten in eine immense Abhängigkeit vom Weltmarkt und von der Agrarindustrie gebracht werden. Drittens soll der Ausflugsort Agua Azul, der wegen seiner imposanten türkisfarbenen Wasserfälle berühmt ist, mit Unterstützung des Tourismusministeriums erheblich erweitert werden und Luxustouristen anziehen, doch in der Umgebung leben Zapatistas und andere Oppositionelle, die seit Jahrzehnten Widerstand gegen derartige Entwicklungsprojekte leisten und die Ländereien zum Überleben benötigen. Sie wurden bereits mehrfach von den regierungsnahen Betreibern des Ausflugsortes angegriffen.

Auch im Nachbarbundesstaat Oaxaca kommt es zu Repressionen gegen Basisaktivisten. Indigene Aktivisten der Binnizá (auch Zapotecos) beklagen bitter die Gewalt und die Spaltung der Dörfer in der Landenge von Tehuantepec, wo transnationale Unternehmen wie Endesa, Iberdrola, Gamesa oder Union Fenosa aus Spanien für den Ausbau vermeintlich „nachhaltiger“ Energieprojekte mit 1.600 Windrädern auf engstem Raum verantwortlich sind. Um derartige Projekte durchzusetzen, wird ein Teil der Bevölkerung kooptiert, um mit Geld oder Gewalt den Rest der Betroffenen zu „überzeugen“. So wurde im Juli 2013 Héctor Regalado, der in der lokalen Widerstandsgruppe Asamblea Popular del Pueblo de Juchitán (APPJ) gegen das Windkraftprojekt von Gas Natural Fenosa aktiv war, von „Unbekannten“ erschossen. Das Phänomen der Straflosigkeit ist dort omnipräsent, wo es Widerstand gibt.

In den Büros der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen stapeln sich die Akten der Fälle verfolgter, inhaftierter oder ermordeter sozialer Aktivistinnen und Aktivisten. Inzwischen werden sogar Menschenrechtsverteidigerinnen und Verteidiger wie Laura Melchor von Codigo DH in Oaxaca oder Victor Hugo López vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas in Chiapas von „Unbekannten“ angegangen und bedroht.

Gegensätzliche Konzepte für Politik und Ökonomie

Die dominanten Akteure in Wirtschaft und Politik sind in einer technikgläubigen Fortschritts-, Entwicklungs- und Wachstumsideologie gefangen. Grundsätzlich anders als die Regierungskonzepte, die auf autoritär-neoliberale Politik für die Eliten setzen, gestalten sich die Strategien der unabhängigen kleinbäuerlichen und indigenen Bewegungen: Statt Stellvertreterpolitik aus der Ferne, die häufig auf Wahlmanipulation aufbaut, und exportorientierter Weltmarktfixierung, die in der Regel soziale und ökologische Verwerfungen vertieft, setzen die Bewegungen auf basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen und Ernährungssouveränität.

Kleinbäuerlich-indigene Gemeinden, die ihr Land in Subsistenzwirtschaft nach ökologischen Kriterien bearbeiten wollen, werden oft ins Lächerliche gezogen und als rückständig betrachtet und durch die neuen Bestimmungen für Energiekonzerne quasi zur Aufgabe gezwungen. Doch die organisierten kleinbäuerlich-indigenen Gemeinschaften wehren sich mit zunehmendem Selbstvertrauen.

Zapatistas bekräftigen ihr „Ja zum Widerstand!“

Anfang August trafen sich Aktivistinnen und Aktivisten des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) und der linksgerichteten Zapatistischen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) im Rebellengebiet in Chiapas. Über 300 Delegierte des CNI von 28 der insgesamt 62 indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes und 1.300 Zapatistas diskutierten eine Woche lang über ihre Situation, ihre Erfahrungen und ihre Pläne in ihrem Kampf für „Land und Freiheit“. Der nur unter seinem nom de guerre operierende EZLN-Comandante Tacho brachte in seiner Begrüßung das Ziel des Treffens auf den Punkt: „Wir sind gekommen, um unser Leid und unsere Schmerzen zu teilen, die uns von diesem neoliberalen System angetan werden. Aber nicht nur das. Wir sind ebenfalls gekommen, um uns über unsere wertvollen Kenntnisse, unsere Kampferfahrungen, unsere Organisationsweisen und unsere Herausforderungen auszutauschen.“

Der CNI ist ein autonomes Netzwerk von indigenen Organisationen und Bevölkerungsgruppen und versteht sich als basisdemokratisch und außerparlamentarisch. Er verzichtet bewusst auf eine hierarchische Organisationsstruktur, um die kämpferischen indigenen Gemeinden vor Korruption und Repression zu schützen – Machtmechanismen, die von den regierenden Parteien nahezu „meisterhaft“ beherrscht werden, um dissidente soziale Bewegungen zu schwächen und bestenfalls zu zerschlagen. Der CNI ist die einzige wirklich unabhängige indigene Vereinigung Mexikos. Er hat Höhen und Tiefen durchlebt und ist phasenweise in der Versenkung verschwunden, doch angesichts der tiefen politischen Krise des Landes wurden im August 2013 und in diesem Jahr zwei Versammlungen von bundesweiter Bedeutung realisiert.

In ihren detaillierten Erklärungen mit zahlreichen Fallbeispielen prangerten die Kongressdelegierten Rassismus, Repression und Plünderung in ihren Gebieten an: „Der Krieg gegen unsere indigenen Bevölkerungsgruppen dauert bereits mehr als 520 Jahre an. In diesem neuen neoliberalen Eroberungskrieg ist der Tod unserer Gesellschaften die Lebensbedingung für dieses System. In den vergangenen Jahrzehnten sind Abertausende von uns gefoltert, getötet, verschleppt oder eingesperrt worden, weil wir unsere Territorien, unsere Familien, unsere Gemeinden, unsere Kultur und unser Leben verteidigen.“ (4) .

Die aktuellen Reformen haben massive Auswirkungen auf die Kontrolle von Territorien, die bis heute noch nicht zu hundert Prozent vom kapitalistischen System durchdrungen sind. Sie bilden einen diametralen Gegensatz zu den Abkommen von San Andrés über indigene Selbstbestimmungsrechte, die EZLN und Regierung 1996 unterzeichnet hatten, sowie zu der auch von Mexiko unterzeichneten ILO-Konvention 169, die die Vertragsstaaten verpflichtet, indigene Gemeinden über jedwede Eingriffe in ihre Territorien zu konsultieren. Kommt es zu Konsultationen, werden diese häufig geheim mit Gemeindeminderheiten durchgeführt, die dem Projekt gewogen sind oder die bestochen wurden. „Formell erfüllt die Regierung die Vorgaben, tatsächlich aber simuliert sie nur die Berücksichtigung der indigenen Rechte“, betont Jorge Armando, Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas.

Etappenerfolge

Die Zapatistas, die sich am 1. Januar 1994 – zeitgleich mit dem Inkrafttreten von NAFTA – gegen Ausbeutung, Rassismus, Unterdrückung der Frauen und Naturzerstörung erhoben haben und bis heute die größte Widerstandsbewegung in Südmexiko bilden, setzen weiterhin auf einen klaren außerparlamentarischen Kurs und ihre De-Facto-Autonomie. Trotz der anhalten Repression und der immer wiederkehrenden Angriffe von Paramilitärs haben sie dabei durchaus Etappenerfolge vorzuweisen: In den rund 1.000 Dörfern, in denen die indigen geprägte Bewegung in Chiapas Einfluss hat, wurden in den vergangenen zwanzig Jahren autonome Bildungs-, Gesundheits-, Verwaltungs-, Rechtsprechungs-, Produktions-, Umwelt-, Frauen- und Medienprojekte etabliert, die auf der Basis von unbezahlter Kollektivarbeit für die Gemeinschaft funktionieren und die Lebensbedingungen in vielen Dörfern verbessert haben. Die Unabhängigkeit von den assistenzialistischen Hilfsprogrammen des Staates ist dabei von großer Wichtigkeit, denn – neben der Anwendung von Gewalt und Desinformationskampagnen – nutzt die Regierung die Programme gezielt, um Oppositionelle an sich zu binden, aus dem Widerstand „herauszukaufen“ und so die Rebellion der Zapatistas und anderer Gruppierungen zu schwächen. Bemerkenswert ist zudem das Alkohol- und Drogenverbot in zapatistischen Gemeinden, das auf Druck der Frauen in der EZLN durchgesetzt wurde.

Rund 5.000 Menschen aus Mexiko und aller Welt besuchten im Sommer und Winter 2013 auf Einladung der EZLN die „Kleine zapatistische Schule“, die dezentral in circa einhundert zapatistischen Gemeinden stattfand. Das paternalistische Konzept von „Entwicklungshilfe“ wurde dabei radikal negiert: Hier lehrten nicht vermeintlich schlaue Köpfe aus dem globalen Norden oder den Großstädten die Menschen in ärmeren Ländern, wie sie ihre Grundversorgung verbessern können; hier unterrichteten aktive Menschen aus den Reihen der EZLN mit viel Kampferfahrung, wie sie ihre Autonomie im Alltag verwirklichen. Die „Kleine Schule“ wurde enthusiastisch aufgenommen, viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer fühlten sich durch das funktionierende Beispiel der zapatistischen Autonomie inspiriert und motiviert für ihre eigenen sozialen Kämpfe.

Weltweites Festival gegen Kapitalismus

Subcomandante Moisés, seit 2013 Sprecher und Militärchef der EZLN, fasste die Erklärungen des aktuellen Kongresses in Chiapas so zusammen: „Nein zu den Privatisierungen, Vertreibungen und Morden! Ja zum Widerstand!“ In der Abschlussdeklaration wurde die Unabhängigkeit der Bewegung von der etablierten Politik manifestiert: „Heute sagen wir den Mächtigen, den Unternehmen und den schlechten Regierungen, die vom kriminellen Chef der Paramilitärs, Enrique Peña Nieto, angeführt werden, dass wir uns nicht ergeben, dass wir uns nicht verkaufen und dass wir nicht aufgeben.“

Die Delegierten wollen nun Organisationsprozesse unter der indigenen Bevölkerung und weiteren gesellschaftlichen Sektoren verstärken. Da sie sich bewusst sind, dass viele soziale und ökologische Verwerfungen nicht lokal oder national zu lösen sind – wie etwa die ausbeuterische Wirtschaftspolitik oder die extreme Gewalt im Kontext des sogenannten Drogenkrieges – laden sie zu einem offenen „Weltweiten Festival der Widerstände und Rebellionen gegen den Kapitalismus“ ein, welches den Untertitel trägt: „Wo die von Oben zerstören, bauen wir von Unten auf.“ Diese große Zusammenkunft soll vom 21. Dezember 2014 bis zum 3. Januar 2015 in den Bundesstaaten Mexiko, Morelos, Mexiko-Stadt, Yucatán, Oaxaca und Chiapas durchgeführt werden. (5) .

Aus der Perspektive der sozialen Bewegungen auf dem Land ist Mexiko an einem Tiefpunkt angelangt, was politische Partizipationsmöglichkeiten, soziale Gerechtigkeit und das Überleben der Umwelt in dem ressourcen- und artenreichen Land angeht. Bestechung und Gewalt sind fast allgegenwärtig, doch in den Gemeinden und Regionen, die eine basisdemokratische (Teil-)Autonomie von Regierung und Wirtschaftsoligarchie erstreiten konnten – die häufig auf indigenen Traditionen fußt –, sind diese Phänomene oft weniger präsent.

Das jüngste Treffen des CNI bezeichnete EZLN-Comandante David daher als „eine historische Zusammenkunft“, die durch die geplanten unabhängigen Widerstandsprozesse einen Hoffnungsschimmer im Kampf gegen Ausbeutung und Umweltzerstörung darstelle. Die Auseinandersetzungen um „Land und Freiheit“ gehen weiter.

# Luz Kerkeling ist promovierter Soziologe und Politikwissenschaftler und forscht seit 2000 zu emanzipatorischen Bewegungen in Mexiko. 


 

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Anmerkungen

(1) http://www.eluniversal.com.mx/finanzas-cartera/2014/reformas-mexico-lagarde-impresionada-1002561.html
(2) http://www.presidencia.gob.mx/un-nuevo-mexico/
(3) Vgl. Kerkeling, Luz (2013): ¡Resistencia! Südmexiko: Umweltzerstörung, Marginalisierung und indigener Widerstand, Münster, S. 99-134.
(4) http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2014/08/16/1a-declaracion-de-la-comparticion-cni-ezln-sobre-la-represion-a-nuestros-pueblos/
(5) http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2014/08/16/invitacion-al-festival-mundial-de-las-resistencias-y-las-rebeldias/

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