Weltpolitik

Deutsche Patriot-Staffeln in die Türkei – Chemiewaffen als Kriegsvorwand?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Entsendung zweier Flugabwehrraketen-Systeme vom Typ Patriot aus Deutschland an die türkisch-syrische Grenze bedarf nur mehr einer zu erwartenden parlamentarischen Zustimmung. Derweil eskaliert die Kriegsgefahr aufgrund US-amerikanischer Warnungen vor syrischen Chemiewaffen. –

Von REDAKTION, 7. Dezember 2012 –

Nachdem das Bundeskabinett am Donnerstag in einer Sondersitzung die Entsendung von zwei Patriot-Raketenabwehrstaffeln und die Überwachung des türkischen Luftraums mit AWACS-Aufklärungsflugzeugen bewilligte, wird der Bundestag voraussichtlich am kommenden Freitag über die Mission abstimmen. Eine breite Mehrheit gilt als wahrscheinlich.

Anfang des neuen Jahres sollen die Abschussrampen dann einsatzbereit an der türkisch-syrischen Grenze stehen – wo genau ist noch offen. Für die Bundeswehr soll eine Höchstgrenze von 350 Soldaten plus eine Reserve von 50 Soldaten gelten. Die Patriot-Raketen sind zur Bekämpfung von Flugzeugen, Drohnen und Raketen geeignet.

Linksfraktionschef Gregor Gysi sieht die Entsendung von Bundeswehrsoldaten kritisch. „Wenn wir an der Grenze zu Syrien Raketen stationieren und Soldaten, und das ohne UNO-Auftrag, nur auf Wunsch der Türkei und auf Beschluss der NATO, … werden wir dort zur Kriegspartei“, sagte er am Donnerstag in Berlin. Er halte den geplanten Einsatz für „völligen Wahnsinn“. Verteidigungsminister Thomas de Maizière sowie Außenminister Guido Westerwelle betonten hingegen den „klar defensiven Charakter“ der neuen Mission, an der sich auch die Niederlande und die USA beteiligen.

Zweifel am defensiven Charakter erscheinen allerdings angebracht. Es gibt keinerlei Anzeichen für Pläne der syrischen Regierung, die Türkei anzugreifen. Ein Angriff auf den nördlichen Nachbarn würde die NATO unvermeidlich in den Konflikt involvieren. Eine NATO-Intervention wäre aber das wahrscheinliche Ende der Herrschaft Baschar al-Assads. Sinn würde die Patriot-Stationierung nur im Rahmen einer militärischen Intervention zwecks Errichtung einer Flugverbotszone machen.

Die in den vergangenen Tagen massiv in den Medien von US-Vertretern lancierten Meldungen über einen bevorstehenden Einsatz von Giftgas durch die syrische Armee deuten darauf hin, dass nach einer Rechtfertigung gesucht wird, um demnächst direkt in den Konflikt eingreifen zu können.

US-Vertreter beschwören Chemiewaffeneinsatz

Es war der US-Fernsehsender NBC, der in der Nacht zum Donnerstag exklusiv mit der Räuberpistole aufmachte, das syrische Militär mische gegenwärtig die nötigen Bestandteile für das Nervengas Sarin zusammen und fülle es in Fliegerbomben. Präsident Assad müsse diese nur noch in die Kampfflugzeuge laden lassen und den Einsatzbefehl geben. Der Sender beruft sich dabei auf Berichte aus Geheimdienstkreisen und Aussagen von US-Regierungsbeamten.

Die Welt könne „wenig unternehmen, um das zu stoppen“, falls Assad grünes Licht gebe, zitiert NBC einen Regierungsmitarbeiter. Pentagon-Chef Leon Panetta sagte am Donnerstag in Washington, die Informationen, die die USA diesbezüglich hätten, lösten „ernsthafte Besorgnis“ aus, dass ein solcher Schritt erwogen werde. „Die US-Regierung hat einen guten Überblick über das Chemiewaffenprogramm und wir werden es weiter beobachten“, versicherte kürzlich der oberste Pentagon-Sprecher George Little.

Westerwelle zeigte sich in Berlin sicher, dass innerhalb der UN bei einem Chemiewaffen-Einsatz eine neue Lage entstehen würde, bei der auch Russland und China ihre Haltung überdenken müssten: „Darauf zielen auch die politischen Mahnungen, die zurecht von allen Beteiligten der internationalen Gemeinschaft ausgesprochen wurden“, sagte er.

Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprang auf den Zug auf und schrieb Assad in einem Brief, ein Chemiewaffen-Einsatz wäre ein „abscheuliches Verbrechen mit schrecklichen Konsequenzen“.

US-Außenministerin Hillary Clinton hatte am Mittwoch betont, sollte „ein zunehmend verzweifelter Assad“ auf Chemiewaffen setzen oder die Kontrolle über diese Waffen verlieren, sei für die NATO-Staaten eine rote Linie überschritten.

US-Präsident Obama markierte bereits vor Monaten den Einsatz von Chemiewaffen als „rote Linie“. Wie im Fall eines möglichen Angriffs auf die Türkei ist auch im Fall eines möglichen Einsatzes von Chemiewaffen unklar, was die syrische Regierung dazu verleiten sollte. Ein Interesse an einem Krieg mit der NATO kann sie alleine aus machtpolitischen Gründen nicht haben.

Damaskus dementierte entsprechend diese Berichte. „Wir haben gesagt, dass wir solche Waffen, falls sie denn in Syrien existieren sollten, nicht gegen das syrische Volk einsetzen würden“, versicherte Vize-Außenminister Faisal Mekdad. Er sprach von einer „Verschwörungstheorie“.

Auch Russland widersprach den US-Angaben über einen möglichen Chemiewaffeneinsatz der syrischen Armee. „Wir haben keine Beweise für Pläne zur Anwendung chemischer Waffen“, sagte der russische NATO-Botschafter Alexander Gruschko am Freitag der Agentur Interfax zufolge. Russland habe jeden Bericht, dass Chemiewaffen transportiert worden seien, sorgfältig geprüft.

Auch viele europäische Außenminister trauten „den amerikanischen Geheimdienstberichten nicht über den Weg“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Europäischen Geheimdiensten, darunter dem im Nahen Osten gut vernetzten deutschen Bundesnachrichtendienst, liegen dem Vernehmen nach ‚keine Erkenntnisse’ in dieser Richtung vor.“ (1)

Der Bundeswehrverband äußerte ebenso seine Skepsis. Angesichts der Debatte um ein Eingreifen der NATO bei einem befürchteten Chemiewaffeneinsatz stelle sich die Frage, „ob da etwas herbeigeredet werden soll“, sagte der Bundesvorsitzende Ulrich Kirsch der Augsburger Allgemeinen. „Eine Intervention wäre erst angemessen, wenn das Assad-Regime massiv Gift wie Sarin einsetzen würde.“

Nach der Entscheidung der Bundesregierung für die Entsendung von zwei Patriot-Systemen forderte Kirsch eine intensive Diskussion des Einsatzes im Bundestag. „Der Bundestag sollte sich auch mit der Frage beschäftigen, in welcher Situation die Bundeswehr ihre Patriot-Einheiten zurückziehen müsste“, mahnte er.

Die Sorge der Bundeswehrvertreter, hinter der Diskussion um einen Chemiewaffeneinsatz verberge sich tatsächlich nur die Suche nach einem Kriegsvorwand, erscheint angesichts der Erfahrungen der jüngeren Geschichte nur zu verständlich.

Ein Vergleich mit der Wegbereitung für die Irak-Invasion im Jahr 2003 drängt sich beinahe unvermeidlich auf. Damals ließ die Regierung von Präsident George W. Bush keinen Zweifel daran, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Sie schreckte auch nicht davor zurück, den eigenen Verbündeten diesen Bären aufzubinden. Kritiker, die damals den Wahrheitsgehalt der Angaben der US-Regierung bestritten und von einer Kriegslüge sprachen, wurden auch gerne des Vorwurfs bezichtigt, Verschwörungstheorien zu verbreiten.

Geplante Eskalation

Es scheint, als wiederhole sich heute dieses Szenario im irakischen Nachbarland Syrien. „Obama ist zwar nicht Bush“, heißt es in einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa). Barack Obama lehne milliardenschwere Kriege unter Einsatz amerikanischer Menschenleben strikt ab. Die Nachrichtenagentur verweist auf eine Theorie „mancher Fachleute in Washington“. Derzufolge habe der just wiedergewählte Präsident in den vergangenen 18 Montane keine Anstalten gemacht, Assad militärisch unter Druck zu setzen. „Um einen Eingriff nach all der Zeit politisch begründen zu können, muss er auf eine Eskalation verweisen können – etwa auf den brutalen Einsatz von Nervengift“, so dpa.

In der US-Regierung stehen die Zeichen nun aber offenbar auf Eskalation. Wie die Süddeutsche Zeitung am Donnerstag berichtete, habe NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Mitgliedstaaten zwei Tage zuvor „mit Überlegungen zu einem radikalen politischen Kurswechsel vor den Kopf gestoßen“.

Rasmussen habe während eines informellen Treffens der NATO-Außenminister gesagt, die NATO  dürfe angesichts der Entwicklungen in Syrien und der strategisch wichtigen Straße von Hormus „den Kopf nicht in den Sand stecken“. Das wurde einhellig als Aufruf zu einem militärischen Eingreifen in Syrien aufgefasst. Teilnehmer des Treffens wähnten „die Kriegstrommeln“ zu hören, so das Blatt, das die NATO in dieser Frage in zwei Lager gespalten sieht: „Das eine schart sich um die USA, die Türkei, Großbritannien und den NATO-Generalsekretär und denkt über eine direkte oder indirekte militärische Intervention nach. Auch Frankreich tendiert in diese Richtung. Das andere Lager, dem auch Deutschland angehört, lehnt diese Ideen strikt ab.“ (2)

Stunden zuvor hatte der US-Senat die Weichen Richtung militärischem Eingreifen gestellt. Beinahe einstimmig forderte er die Regierung dazu auf, „Optionen“ zu prüfen, wie der syrischen Luftwaffe Einhalt geboten werden kann. Konkret also, wie sich eine Flugverbotszone über Syrien durchsetzen ließe.

Die Geister, die sie riefen

US-Vertreter betonen, die „rote Linie“ sei nicht nur dann überschritten, wenn es zum Einsatz von Chemiewaffen komme, sondern auch dann, wenn diese in die falschen Hände zu gelangen drohten.

So sagte US-Regierungssprecher Jay Carney am Dienstag, nicht nur der Einsatz von Chemiewaffen sei Grund loszuschlagen, sondern auch wenn Syrien „seine Verpflichtung vernachlässigt, sie zu sichern“. Eine wohl mit Bedacht gewählte vage Formulierung, die viele Optionen offenlässt.

Währenddessen betonte auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei seinem Besuch in Berlin, es gelte dafür zu sorgen, dass Chemiewaffen nicht in die Hände von Terroristen fielen.

Auf die Verantwortung der syrischen Regierung für die Sicherheit der Lagerung solcher Waffen wies auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon in seinem Brief an Assad hin.

Viel größere Sorgen als der Chemiewaffeneinsatz seitens der syrischen Armee bereite den USA, „dass in Syrien stationierte Terroristen sich die tödlichen Chemikalien unter den Nagel reißen könnten“, schreibt dpa. „Was das Netzwerk Al-Qaeda mit einer Ladung Sarin anrichten könnte ist Gegenstand schlimmster Albträume in der amerikanischen Geheimdienstgemeinschaft.“

Das aber ist dieselbe Geheimdienstgemeinschaft, die nach Kräften mitgeholfen hat, Syrien in ein Eldorado für Al-Qaeda-Terroristen und deren Sympathisanten zu verwandeln. Diese doppelbödige Strategie, die die USA im Umgang mit „Al-Qaeda“ verfolgen, beschrieb Hintergrund am 13. August dieses Jahres: „Die islamistischen Kämpfer dienen einerseits als eine Art Schattenarmee, die gegen feindliche Regierungen und Mächte eingesetzt werden kann. Das erspart andererseits eine direkte militärische Intervention, gewährleistet aber gleichzeitig die Durchsetzung eigener politischer und geostrategischer Pläne. (…) Al-Qaeda dient dabei nicht nur als Schattenarmee, sondern auch als Vorwand für eine militärische Intervention. (…) Auch in Syrien könnte Al-Qaeda als Kriegsgrund herhalten. Insbesondere dann, wenn ihre militärische Schlagkraft nicht groß genug ist, um den Sieg gegen das Assad-Regime erringen zu können und dieser nur noch durch eine militärische Intervention der „Freunde Syriens“ erzwungen werden kann.“ (3)

Islamistische Kämpfer aus dem ideologischen Dunstfeld Al-Qaedas werden als militärische Stellvertreter-Kräfte eingesetzt, um Syrien zu destabilisieren, während deren Präsenz und die daraus erfolgende Destabilisierung gleichzeitig als Begründung für eine Intervention herhalten muss. In diesem Szenario scheint die massiv geschürte Furcht vor einem Chemiewaffeneinsatz die Trumpfkarte zu sein, die am ehesten den Stich macht, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit von einer militärischen Intervention in Syrien zu überzeugen.

(mit dpa)

Anmerkungen

(1) http://www.sueddeutsche.de/politik/streit-zwischen-buendnis-und-mitgliedstaaten-nato-chef-erwaegt-militaerische-intervention-in-syrien-1.1542913

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(2) ebd.

(3) http://www.hintergrund.de/201208132194/politik/welt/syrien-schlachtfeld-international-agierender-dschihadisten.html

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