Weltpolitik

Keine „Normalisierung“ der Lage

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1426216647

Ukraine vor der Zerreißprobe: Hält das Minsker Abkommen? –

 

Von REDAKTION, 13. März 2015 – 

Eine Kernforderung des zweiten Minsker Friedensabkommens scheint von den Konfliktparteien umgesetzt worden zu sein. Wie der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Mittwoch erklärte, haben beide Seiten einen umfangreichen Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie eingeleitet oder bereits vollzogen. Sein Militär habe „den Löwenanteil“ seiner Waffen abgezogen. Auch die Separatisten hätten eine „signifikante Zahl“ zurückgezogen, so Poroschenko.

Die mit der Überwachung des Waffenabzugs beauftragte OSZE bestätigte den Rückzug, wirft jedoch beiden Seiten vor, den Inspektoren keinen Zugang zu den Orten zu gewähren, an die die Waffen transportiert werden. Beide Seiten fürchten, dem Gegner könnten diese Informationen in die Hände fallen. Und so bezichtigen sich die verfeindeten Parteien, den Abzug nur zu einer Umgruppierung der Kräfte zwecks einer zukünftigen Offensive zu nutzen.

Doch vorerst schweigen die Waffen, von einzelnen Scharmützeln abgesehen, für die sich beide Seiten verantwortlich machen. Außenminister Frank Walther Steinmeier spricht von einer „deutlichen Stabilisierung“ der Lage in der Ostukraine. Die ist auch dringend notwendig, um dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes Einhalt zu gebieten. Zu diesem Zweck hat der Internationale Währungsfonds (IWF) ein neues Hilfspaket in Höhe von 17,5 Milliarden US-Dollar für die Ukraine beschlossen. „Die Ukraine hat alle Bedingungen erfüllt dafür, dass dieses Programm starten kann“, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde am Mittwoch in Berlin nach einem Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel sowie den Spitzen anderer Welt-Finanz- und Wirtschaftsorganisationen. Geplant sei, zehn Milliarden Dollar im ersten Jahr auszuzahlen. Insgesamt strebt die westliche Staatengemeinschaft ein Hilfspaket von gut 40 Milliarden Dollar an.

Das vom IWF-Direktorium bewilligte Vier-Jahres-Programm werde dabei helfen, die wirtschaftliche Lage in der Ukraine umgehend zu stabilisieren, so Lagarde. Zugleich würden in der Ukraine weitreichende Reformen zur Wiederherstellung eines robusten Wachstums und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung auf den Weg gebracht. Poroschenko begrüßte den Beschluss per Twitter: „Die heutige Entscheidung des IWF ist ein Zeichen des Vertrauens zur Ukraine und der Unterstützung vonseiten der ganzen zivilisierten Welt.“ Angesichts der mit den IWF-Krediten verbundenen Sparauflagen – massive Erhöhungen der Gaspreise, Einfrieren bzw. Kürzungen von Renten und Löhnen – mutet die anvisierte „Verbesserung der Lebensbedingungen“ jedoch wie Realsatire an. Dass rabiate Kürzungspolitik auch nicht zu einem „robustem Wachstum“ führt, wurde durch die wirtschaftliche „Entwicklung“ Griechenlands in den letzten Jahren eindrucksvoll belegt.

Die Auswirkungen der rigiden Austeritätspolitik werden verschärft durch die galoppierende Inflation und den Absturz der ukrainischen Währung. Im Laufe des letzten Jahres hat die Griwna siebzig Prozent an Wert verloren, allein seit Jahresbeginn 2015 fünfzig Prozent gegenüber dem US-Dollar. Die Inflation liegt offiziell bei 28 Prozent. Tatsächlich dürfte sie weit höher ausfallen. Das Cato Institute, ein auf Wirtschaftsfragen spezialisierter US-Think Tank, beziffert sie auf 270 Prozent, und spricht von einer Hyperinflation. (1) Die Ukraine ist praktisch pleite. Die Reserven in Höhe von rund 6,5 Milliarden US-Dollar reichen gerade einmal, um die Importe für einen Monat sicherzustellen. Die Schattenwirtschaft macht laut IWF die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus, die im vergangene Jahr um sieben Prozent geschrumpft ist. Die Schuldenquote hat sich verdreifacht.

Ungeachtet dessen erhöht Kiew die Militärausgaben. Im laufenden Jahr sollen umgerechnet 566 Millionen Euro für neue Waffen ausgegeben werden, teilte das ukrainische Verteidigungsministerium mit – schließlich gelte es, einen Krieg zu gewinnen. Im vergangenen Jahr betrugen die Ausgaben für Waffen 3,9 Milliarden Griwna, 2015 sollen es nun 14 Milliarden Griwna sein (21,50 Griwna = 1 US-Dollar, Wechselkurz März 2015). Die kürzlich per Parlamentsbeschluss auf 250 000 Soldaten aufgestockte Armee wird für eine Fortsetzung des Krieges aufgerüstet, der selbst in den Augen der Hardliner in Kiew und Washington militärisch nicht zu gewinnen ist – und die wirtschaftliche Misere nur verschärfen wird. So lange die Kampfhandlungen andauern, kann von einem günstigen Investitionsklima nicht die Rede sein. Zudem beschleunigt die wachsende Konfrontation mit Russland – vor Tagen sprachen US-Vizepräsident Joe Biden und Poroschenko über neue Sanktionen gegen Moskau – den wirtschaftlichen Niedergang. Sanktionen gegen Russland fallen auf die Ukraine zurück, schließlich ist der östliche Nachbar aller antirussischen Rhetorik Kiews zum Trotz nach wie vor der größte Handelspartner des Landes. (2)

Die politische Überlebensfähigkeit der Kiewer Führung hängt in gewisser Hinsicht von einer Fortsetzung des Krieges ab. Ihre Gewohnheit, für alles Übel im Land die „russischen Invasoren“ verantwortlich zu machen, ließe sich im Fall einer friedlichen Lösung kaum noch aufrecht erhalten. Angesichts der absehbaren massiven sozialen Verwerfungen muss die Poroschenko-Regierung dann fürchten, selbst zur Zielscheibe des wachsenden Unmuts der Bevölkerung zu werden. Zudem steht sie unter Druck der einflussreichen nationalistischen und rechtsradikalen Milizen, die alles andere als eine militärische Rückeroberung des Donbass als Verrat an der Nation betrachten.

Zu den innenpolitischen Gegnern einer friedlichen Lösung kommen die Hardliner in Washington hinzu, die den Krieg fortsetzen wollen, um somit den Graben zwischen Russland und der EU zu vertiefen. Trotz der Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Friedensabkommens werden die Stimmen in den USA lauter, die auf eine militärische Lösung, und den US-Präsidenten auf die Lieferung „tödlicher“ Waffen drängen. Mit seiner Entscheidung, das ukrainische Militär mit weiteren Rüstungsgütern im Wert von 75 Millionen Dollar zu beliefern, dürfte Präsident Barack Obama den Kriegs-Falken kaum den Wind aus den Segeln nehmen. Wie am Mittwoch bekannt wurde, erhält die Ukraine von den USA unbewaffnete Drohnen, Mörserabwehrsysteme sowie dreißig gepanzerte und zweihundert nicht gepanzerte Geländewagen. Bislang hatten die Vereinigten Staaten der Ex-Sowjetrepublik offiziell Kriegsgerät im Wert von rund 120 Millionen Dollar überlassen.  

Der Vorsitzende des Volksrates der „Volksrepublik Donezk“, Andrej Purgin, kritisierte die neuerlichen US-Waffenlieferungen scharf. Damit heize Washington den Konflikt im Krisengebiet Donbass weiter an, sagte er der Agentur Interfax zufolge. Auch Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow warf den Vereinigten Staaten vor, kein Interesse an einer Normalisierung der Lage in der Ukraine zu haben. Es werde Washington aber nicht gelingen, Moskau mit weiteren Sanktionen und militärischen Manövern zu provozieren. Das Entsenden von US-Soldaten ins Baltikum sei ein Versuch, Russland unter Druck zu setzen, sagte Rjabkow. Moskau lasse dies nicht unbeantwortet. Als „Abschreckung gegenüber Russland“ haben die USA diese Woche dreitausend Soldaten in die baltischen Länder entsandt und diesen Rüstungsgüter, darunter Hunderte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, übergeben.

Der US-General Bob Scales hält diesen Schritt bei Weitem nicht für ausreichend, erklärte er im US-Sender Fox News. „Ich denke, das wird keine Wirkung haben. In der Ukraine ist schon alles entschieden. Der einzige Weg für die USA, Einfluss auf die Region auszuüben und einen Umbruch herbeizuführen, wäre es, zu beginnen, die Russen zu töten.“ Es gelte, in der Ukraine „so viele Russen“ zu töten, „dass selbst die Putin-Medien nicht verbergen könnten, dass diese in Leichensäcken heimkehren“. Laut Scales haben sich „12 000 russische Soldaten in der Ukraine verschanzt.“ (3)

Diese Zahl hat er vom Kommandeur der US-Truppen in Europa, Ben Hodges, übernommen, der Ende Januar bei einem Besuch in einem Kiewer Militärkrankenhaus Tapferkeitsmedaillen an verwundete ukrainische Soldaten verteilt hatte. Auch die EU-Außenbeauftragte der USA, Victoria Nuland, gefällt sich weiterhin in ihrer Rolle, Öl ins Feuer zu gießen. Laut ihr seien in den vergangenen Tagen erneut russische Panzer und Artillerie über die russische Grenze in die abtrünnigen Landesteile der Ukraine gebracht worden. Die Krim und die Ostukraine stünden gar unter einer „Terrorherrschaft“. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg behauptet ohne Darlegung von Beweisen, Russland würde weiterhin die Rebellen aufrüsten und ausbilden. Er forderte Moskau auf, „sämtliche Einheiten aus der Region abzuziehen“.

Das Gerede von (Zehn-)Tausenden russischer Soldaten, die in der Ostukraine kämpfen, ist unschwer für jeden als politische Propaganda zu durchschauen, der ein  wenig über militärischen Sachverstand verfügt: Mit Tausenden russischen Soldaten im Rücken hätten die Separatisten zur Eroberung eines Terminals am Donezker Flughafen kaum mehrere Monate gebraucht.

Die kriegstreiberischen Töne von US- und NATO-Vertretern sorgen für wachsende Spannungen zwischen Washington und dem „alten Europa“. Laut Medienberichten will sich Außenminister Steinmeier bei seiner gegenwärtigen Visite in den USA über das Auftreten Nulands beschweren. Auch NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove steht in der Kritik Berlins, die Rolle Russlands stark zu übertreiben.  

Laut einem Bericht des Spiegel spreche man angesichts seiner Äußerungen im Bundeskanzleramt gar von „gefährlicher Propaganda“. (4) Der US-Genral hält an seiner konfrontativen Linie fest. Von einem Abzug der schweren Waffen aufseiten der Separatisten, wie ihn selbst Präsident Poroschenko eingestand, will er nichts wissen.

„Wir können bisher nicht sagen, was sich tatsächlich bewegt“, sagt Breedlove. „Wir wissen noch nicht mal genau, was vorher an schweren Waffen dort war.“ Auf einmal, wo es um den Abzug von Waffen geht, weiß man nichts Genaues – wie das mit den Aussagen über angebliche russische Truppenbewegungen und dem Transport russischen Kriegsgerätes in der Ostukraine in Einklang zu bringen ist, wird wohl Breedloves Geheimnis bleiben.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren


 

Anmerkungen
(1) http://www.cato.org/blog/ukraine-hyperinflates
(2) http://www.forbes.com/sites/markadomanis/2015/01/05/russia-is-still-ukraines-largest-trading-partner/
(3) http://de.sputniknews.com/politik/20150311/301444069.html
(4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-oberbefehlshaber-philip-breedlove-irritiert-allierte-a-1022242.html

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Weltpolitik Fukushima – Vier Jahre nach der Katastrophe
Nächster Artikel Weltpolitik Brasilien: Massenproteste gegen Präsidentin Rousseff