Weltpolitik

Fukushima – Vier Jahre nach der Katastrophe

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Während Japan an der Atomenergie festhält, subventioniert die EU den Bau neuer Kernkraftwerke –

Von REDAKTION, 11. März 2015 –

Japan gedenkt heute der Opfer der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe von vor vier Jahren. Etwa 19 000 Menschen kamen an jenem 11. März 2011 durch die gewaltige Flutwelle ums Leben oder werden bis heute vermisst. Zum Sinnbild der Katastrophe wurde weltweit der GAU im Atomkraftwerk Fukushima. Es war der schwerste Atomunfall seit der Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl. Das Fukushima-Desaster, das laut Schätzungen Schäden in Höhe von mindestens 150 Milliarden Euro verursacht hat, stellt Japan weiterhin vor enorme Herausforderungen. Glaubt man den Stellungnahmen der Regierung unter Ministerpräsident Shinzo Abe, dann ist die Lage in der Atomruine unter Kontrolle.

Doch auch heute weiß niemand, wo sich die in den Reaktoren 1, 2 und 3 geschmolzenen Brennstäbe genau befinden. Die anhaltend extrem hohe Strahlung verhindert den Zugang. Nun haben Wissenschaftler mit einem Experiment begonnen, bei dem sie mit Hilfe kosmischer Strahlen ähnlich wie bei einer Röntgenaufnahme den Reaktor durchleuchten wollen. Der Atombetreiber Tepco hofft, in fünf Jahren mit der Bergung der Brennstäbe beginnen zu können. Immerhin konnten die rund 1500 Brennstäbe des Reaktorgebäudes 4 inzwischen geborgen werden.

Unter extrem harten und gefährlichen Bedingungen sind täglich rund sechstausend Arbeiter, viele davon aus Zeitarbeitsfirmen, in der Atomruine im Einsatz. Immer wieder stand der Atombetreiber aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen und unzulänglicher Ausrüstung für die Hilfskräfte in der Kritik. Weil geeignete Sicherheitsstiefel fehlten, gingen die Arbeiter im Hochtechnologieland Japan zeitweilig mit Schuhen ans Werk, um die sie Plastiktüten gebunden hatten – Dutzende erlitten Verstrahlungen. Um die Arbeiten fortsetzen zu können, hatte das japanische Gesundheitsministerium die zulässige Strahlendosis von 100 auf 250 Millisievert pro Jahr heraufgesetzt – die von der Internationalen Strahlenschutzkommission festgelegte Oberbelastungsgrenze beträgt 100 Millisievert.

Ein drängendes Problem ist der Umgang mit verstrahltem Wasser. Das Gelände des Atomkraftwerks ist mit Tanks übersät, in denen rund 200 000 Tonnen kontaminiertes Wasser lagern  – täglich kommen 300 bis 400 Tonnen dazu, die bei der weiterhin notwendigen Kühlung der Reaktoren anfallen. Zusätzlich dringt täglich Grundwasser in die beschädigten Fundamente ein und vermischt sich mit dem verstrahlten Kühlwasser. Für den Bau neuer Wassertanks reicht der Platz auf dem Gelände bald nicht mehr aus. Mit einem Filtersystem will Tepco bis Mai die Menge an radioaktivem Strontium in dem Wasser senken und in einem weiteren Jahr das Wasser dann von sämtlichen radioaktiven Partikeln säubern, um es dann ins Meer zu leiten. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) unterstützt diesen Plan, der vor allem bei den vom Atomunfall besonders schwer betroffenen Fischern auf Widerstand stößt. Deren Vertrauensverhältnis zum Atombetreiber sei „zerstört“, erklärte Fischereiverbandschef Hiroyuki Sato. Erst kürzlich war bekannt geworden, dass Tepco monatelang verheimlicht hatte, dass verseuchtes Regenwasser in den Pazifik gelangte. Die (Des-)Informationspolitik des Betreibers sowie der Behörden nach der Katastrophe hatte wiederholt auch internationale Empörung hervorgerufen. So wurden Schäden am Atomkraftwerk oftmals zunächst geleugnet und erst dann eingestanden, nachdem sie unbestreitbar offenkundig wurden.

Inzwischen sprechen Mitarbeiter der IAEA von „signifikanten Fortschritten“ bei den Aufräumarbeiten. Vor Tagen hatten Inspektoren der Behörde diese begutachtet, nachdem sie das letzte Mal im Dezember 2013 vor Ort waren, um sich ein eigenes Bild zu machen.  Mittlerweile hätten die Säuberungsmaßnahmen die Strahlenwerte in vielen Bereichen des Geländes der Atomruine deutlich reduziert, so der Leiter des IAEA-Teams Juan Carlos Lentijo. Doch trotz all der weiter bestehenden Probleme und der Tatsache, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Wiederanfahren der nach Fukushima abgeschalteten Atomreaktoren ausspricht, will die rechtskonservative Regierung schon bald die ersten wieder in Betrieb nehmen. Vier der 48 kommerziellen Reaktoren in Japan haben bereits grünes Licht bekommen. Ministerpräsident Abe rechtfertigt den Schritt mit dem hohen Energiebedarf des Landes, der sich noch nicht durch erneuerbaren Energien decken lasse.

Auch international halten die meisten Staaten an der Atomenergie fest – begründet wird das zumeist mit dem Klimaschutz. Zwar wurde nach der Fukushima-Katastrophe der Bau neuer Atommeiler in vielen Ländern ausgesetzt und die Sicherheitsstandards in bestehenden Werken überprüft und verschärft, doch die Schonfrist scheint nun vier Jahre danach abgelaufen zu sein. So genehmigte China diese Woche erstmals wieder den Bau eines neuen Kernkraftwerkes. Das Land betreibt heute 23 Atomreaktoren und hat 26 weitere im Bau. Der weltweit größte Energieverbraucher, der zwei Drittel seiner Energie aus Kohle bezieht, will seine nuklearen Kapazitäten bis 2020 auf 58 Gigawatt verdreifachen. Bis 2030 sind sogar 150 Gigawatt angestrebt.

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Obwohl es nach wie vor weltweit kein einziges Endlager für Atommüll gibt, werden auch in der Europäischen Union neue Kernkraftwerke errichtet. In Finnland, Frankreich und der Slowakei werden neue Meiler gebaut. Das umfangreichste Neubauprogramm unterhält jedoch Großbritannien, wo elf neue Reaktorblöcke an fünf Standorten mit zusammen rund 16 Gigawatt Leistung entstehen sollen. Hierbei ist besonders umstritten, dass die EU-Kommission der britischen Regierung jüngst die Subventionierung von zwei geplanten Reaktoren im Atomkraftwerk Hinkley Point C genehmigt hat. „Nachdem Merkel bei ihrem Japan-Besuch gerade für die Absage an die Risikotechnologie Atomkraft geworben hat, sollte sie nun auch auf europäischer Ebene den schönen Worten neue Taten folgen lassen“, fordert  Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer die Bundeskanzlerin auf, wie Österreich Klage gegen die EU-Entscheidung einzureichen. „Dieser große Sündenfall der Europäischen Kommission muss korrigiert werden“, so Bütikofer. Auch der Linken-Politiker Hubertus Zdebel fordert einen Subventionsstopp: „Es muss in Europa unmöglich werden, neue Atomkraftwerke zu bauen.“

# mit dpa

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