Weltpolitik

Kriegswaffe Hunger

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Der ukrainische Präsident setzt in den aufständischen Gebieten die Renten aus – bis zum Sieg –

Von SERHIJ KOWTUN, 16. Dezember 2014 – 

Petro Poroschenko hat de facto die Rebellengebiete im Osten der Ukraine aufgegeben. Am 15. November 2014 unterzeichnete der ukrainische Präsident den Erlass Nr. 875, dem zufolge diese Gegend wirtschaftlich blockiert wird. Alle Institutionen des ukrainischen Staates stellen dort ihre Tätigkeit ein und werden abgezogen – alle Staatsunternehmen, allein 252 Energiebetriebe, Verwaltungsapparat, Rentenfonds, Beamte, Lehrer, Ärzte, Richter, Universitäten und Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten und Gefängnisse, Häftlinge, soziale Einrichtungen. Die ukrainische Bahn hat bereits die Verbindung in diese Gebiete eingestellt. Es wird in der Ukraine auch einen neuen Staatshaushalt geben, ohne Steuereinnahmen aus Donezk und Lugansk, aber auch ohne Ausgaben – für Staatsstrukturen, für Renten und Sozialleistungen.

Wer wird bestraft?

Ein logischer, ein konsequenter Erlass, meinen viele in der Ukraine: Wenn sich diese Provinzen abspalten möchten, dann, bitte schön, sollen sie sich auch selbst versorgen. Warum soll der ukrainische Staat die mit Geld beschenken, die erbittert gegen ihn kämpfen? Alle, die sich der Kiewer Regierung gegenüber loyal verhalten, sollen sich doch einen anderen Wohnort in der Ukraine suchen.

So macht man das, wenn man diese Gebiete als verloren ansieht – vom Kind bis zum Greis, alle sind Feinde, und keiner schert sich darum, ob sie überleben oder verrecken. Also, ein fast in allen Belangen „vernünftiger“ Erlass, aber eben nur „fast“. In dem besagten Landstrich leben nicht nur „prorussische Separatisten“, sondern auch „proukranische Ukrainer“. Als die Frontlinie die Ukraine entzweite, konnten nicht alle, die sich als Ukrainer fühlen, ihre Städte und Dörfer verlassen, um in die Ungewissheit zu ziehen. Es blieben dort Menschen – Ukrainer, Russen, Griechen, Juden…, vor allem alte, die es für richtig halten, dort zu sterben, wo sie ihr ganzes Leben verbracht haben.

So war es auch z.B. nach Tschernobyl, der größten Kernkraftwerk-Katastrophe der Geschichte. Als alle Menschen und Nutztiere aus dem 30-Kilometer-Umkreis evakuiert wurden, blieben dort (und leben manche bis heute) alte Mütterchen, die meinten, sie hätten keine Angst vor dem radioaktiven Tod. Auch jetzt leben in den von Separatisten kontrollierten Bereichen Menschen, doch ungleich mehr: Hunderttausende, die auf die Zahlungen aus Kiew angewiesen sind. Nicht auf die Löhne, für die müssen allmählich diejenigen aufkommen, die dort Wahlen abgehalten haben und sich Anführer der Donezker und Lugansker Volksrepubliken nennen. Aber auf die Renten.

Geklautes Geld

Renten sind keine Almosen von Vater Staat. Die Rente haben Menschen redlich verdient, sie haben ihr ganzes Leben in den Rentenfonds eingezahlt. Dazu waren die Löhne der Arbeiter der im Osten des Landes angesiedelten Kohle-Bergwerke, Metall- und Chemieindustrie viel höher als in anderen Gebieten der Ukraine: Das Donezkbecken ist ohne Wenn und Aber das Industrieherz des Landes.

Laut Erlass ziehen sich auch die Banken aus den Separatistengebieten zurück. Schon seit Monaten konnten die Menschen in den zwei ausgerufenen Volksrepubliken kein Geld aus den Geldautomaten ziehen.

Um also an ihre Rente zu gelangen, war es üblich geworden, dass sich die Rentner über die Frontlinie begaben – dort, in den der Kiewer Regierung unterstehenden Gebieten, haben sie ihr Verdientes bei den Banken abgeholt – und sind wieder zurück nach Hause, zu den Separatisten, gezogen. Dort steht ihr Haus (wenn es noch steht). Dort liegt ihr Hab und Gut. Also, für jede Rentenzahlung, manchmal für umgerechnet 50 Euro, – zwei Mal über die Frontlinie. Jetzt hat Poroschenko nicht nur die Geldautomaten außer Betrieb gesetzt, sondern auch die Überweisungen auf die Konten der Rentner, die ihren Wohnsitz in den widerspenstigen Republiken haben, eingestellt. Also einfach das Geld der Rentner geklaut. Die Behauptung, sie bekämen ihr ganzes Geld gleich nachdem diese Gebiete von der Ukraine zurückerobert würden, klingt eher zynisch.

Rentner gibt es nicht nur in den Dörfern, wo ein vorsorglicher Bewohner einen Gemüsegarten hält und Kartoffeln auf Vorrat hortet. Rentner leben auch in den Städten, exemplarisch in Donezk waren es 270 000, nur etwa ein Zehntel von ihnen siedelte in die Groß-Ukraine um. Lugansk hatte fast eine halbe Million Einwohner. Wie sollen sie überleben? Humanitäre Hilfe aus Russland? Suppenküchen? Die gibt es auch, aber wo bleibt das Geld, nicht Poroschenkos, sondern ihr eigenes, schwer verdientes Geld? Bis November 2014 beliefen sich die Rentenschulden des ukrainischen Staates gegenüber den Rentnern allein im Gebiet Donezk auf 3,7 Mrd. Hrywnja (etwa 200 Mio. Euro) und sie steigen weiter um 1,2 Mrd. Hrywnja (mehr als 60 Mio. Euro) monatlich. Aber es gibt auch das Gebiet Lugansk oder andere Städte in Separatistengebieten: Altschewsk, Krasnodon, Stachanow, Antrazit, Krasnyj Lutsch, Rowenki, Swerdlowsk – in jeder Hunderttausende Menschen… Wollen Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk auf diese Art und Weise Geld sparen?

Russland kann man lieben oder verdammen, aber die Russen kamen während des nicht minder blutigen Konfliktes in Tschetschenien ständig ihren Verpflichtungen nach, haben immer Geld für Krankenhäuser, Schulen und Rentner, auch in die von Separatisten besetzten Gebiete, überwiesen. Das taten sie, um deutlich zu zeigen: Das sind unsere Gebiete, das sind unsere Menschen, wir tragen Verantwortung für sie. Wenn sie das damals nicht getan hätten, wäre es zu einer humanitären Katastrophe gekommen.

Ist das heute die Absicht der ukrainischen Machthaber? Will ein nach Europa strebender Präsident Menschen einfach aushungern lassen? Einmal sagte er in Odessa etwas Gewichtiges zum Thema: „Wir werden Arbeit haben, sie haben aber keine. Wir werden Renten haben, sie haben keine. Bei uns wird es die Unterstützung der Menschen – Kinder und Rentner – geben, sie haben sie nicht. Bei uns werden Kinder in die Schulen und in die Kindergärten gehen, und bei ihnen werden sie in den Kellern ausharren… So, genau so, werden wir diesen Krieg gewinnen.“Nach so einem Sieg wird das nur ein Territorium sein. Ohne Menschen. Wie nach dem Einschlag einer Neutronenbombe.

Der parteiische Igor Plotnizkij, Anführer der Lugansker Volksrepublik, nannte die Entscheidung Kiews, den Geldhahn für die Menschen zuzudrehen, „faktisch einen Akt des Genozids“. Der unparteiische Kiewer Journalist Wolodymyr Skatschko redet in diesem Zusammenhang von Ethnozid, was eigentlich dasselbe bedeutet.

Unterstützt vom Westen

Dann ist die Frage berechtigt: Kämpft die ukrainische Armee, um die Ukrainer aus dem Joch der Separatisten zu befreien, oder für ein Territorium, wo weiterhin die von der Ukraine so benötigten Bergwerke und Hochöfen stehen, und wo unter der Erde ein ach so begehrtes Schiefer-Erdgas liegt?

Ein Lugansker Rentner, Felix Iwanow, sowie ein Donezker Schwerbehinderter, Wolodymyr Staschenko, haben jetzt den Erlass des Präsidenten beim Höchsten Verwaltungsgericht der Ukraine angefochten. Beide sind der Meinung, der Erlass widerspricht allen internationalen und ukrainischen Normen – Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Verfassung der Ukraine. Sie sind der Meinung, wenn die Ukraine die sich abspaltenden Gebiete weiterhin für ukrainisch hält und sogar militärisch um sie kämpft, dann ist das Präsidentendekret ein rechtswidriger Akt der Diskriminierung der Menschen nach ihrem Wohnsitz.

Es gibt keinen Zweifel, dass das so ist. Aber ob Rentner ihre Prozesse in einem „Rechtsstaat“ Ukraine gewinnen, ist fraglich. Die von Maidan angeblich abgeschaffte „selektive Justiz“ (die Sprachregelung der EU im Bezug auf die damals inhaftierte Julia Timoschenko) wird zeigen, was sie von Recht und Gesetz hält. Aber auch internationale Gremien machen keinen Hype aus der eklatanten Verletzung der Menschenrechte: Poroschenko ist gewiss ein Schuft, aber er ist unser, prowestlicher, Schuft.

Poroschenko selbst versteht natürlich, was er getan hat. In dem besagten Schriftstück trifft er nötige Vorkehrungen. Dem Außenministerium befiehlt er: „Im Einklang mit Artikel 15. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist zu gewährleisten: Zusendung einer Erklärung im Namen der Ukraine an den Generalsekretär des Europarats über die Durchführung auf dem Gebiet der Anti-Terror-Operation im Zusammenhang mit dem bestehenden öffentlichen Gefahr für das Leben der Nation, der Maßnahme über die Abweichungen von der Verpflichtungen der Ukraine nach der Konvention zum Schutze der Menschenrechte… Im Klartext: Wir werden Menschen aushungern lassen, verzeiht uns, ihr lieben Europäer.

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„Zu gewährleisten“ sind auch, steht im Erlass, „die Informationen an die Weltgemeinschaft, einflussreiche außenpolitische, politische, wirtschaftliche und Kulturkreise, aber auch an ausländische Medien über die Gründe für das Abweichen der Ukraine auf der Grundlage vom Artikel 15. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von der Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen…“ Im Klartext: Liebe Europäer, gebt uns dafür auch (wie bisher) eure politische und mediale Schützenhilfe.

Dass kein scharfer Ton aus Europa über diesen Erlass zu vernehmen ist, bedeutet, dass Herr Poroschenko erhört wurde. Ob Felix Iwanow und Wolodymyr Staschenko sterben, interessiert auf Humanität getrimmte europäische Hauptstädte nicht. Das ist doch eine Lappalie: Ihnen wurde nur ein Menschenrecht, „als Abweichung“, verweigert: das auf Leben.

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