Weltpolitik

Marodeure gegen Diebe

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan war zu Gast in Berlin. Die Exilcommunity ist gespalten –

Von THOMAS EIPELDAUER, 05. Februar 2014 –

Ein Vortrag bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGaP), ein Arbeitsessen mit Angela Merkel, eine Rede vor etwa 2500 Anhängern im Berliner Tempodrom – das Programm des türkischen Premierministers Tayyip Erdogan am gestrigen Dienstag war voll. Während der „Sultan von Ankara“, wie Kritiker den Chef der Regierungspartei AKP nennen, mit seiner deutschen Amtskollegin Höflichkeiten austauschte und betonte, wie gedeihlich sein Land unter seiner Ägide entwickelt habe, kam es bereits mittags zu Protesten alevitischer Vereine und linker politischer Gruppen vor dem Brandenburger Tor.

Die Alevitische Gemeinde Deutschlands (AABF), die zu der Kundgebung aufgerufen hatte, hatte bereits im Vorfeld betont, dass sie es unangemessen findet, wenn der türkische Premier überhaupt im Kanzleramt Einlass findet: „Als der Demokratie und dem Grundgesetz verbundene Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, deren höchste Amtsträgerin Frau Bundeskanzlerin Merkel ist, sind wir über den Umstand, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel sich trotz dieser Tatsachen zu einem Treffen mit Erdoğan bereit erklärt hat, empört und fordern sie dazu auf, dem die Türkei antidemokratisch regierenden Erdoğan keinen Zutritt ins Bundeskanzleramt zu gewähren.“

Diese Auffassung teilen hier viele: „Sehen Sie sich nur die dritte Bosporusbrücke an. Die sollte nach Sultan Selim benannt werden, einem Mörder an den Aleviten“, sagt eine junge Alevitin. „Wird Merkel auch darüber sprechen?“

Auch viele Kurden sind gekommen. Mit den Aleviten und Armeniern gehören sie zu jenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften, die in der Türkei nach wie vor diskriminiert werden. Bei den Kurden kommt hinzu, dass sie über eine Millionen Anhänger zählende Befreiungsbewegung, deren Kern die von Ankara als „terroristisch“ eingestufte kurdische Arbeiterpartei PKK ist, verfügen. Weil die AKP-Regierung – trotz offizieller Friedensverhandlungen – einen harten Kurs gegen kurdische Aktivisten fährt, sitzen immer noch tausende kurdische politische Gefangene in Gefängnissen der Türkei.

Die kurdischen Aktivisten hier fordern vor allem Freiheit für Abdullah Öcalan, den auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft gehaltenen Führer der PKK. Und sie wollen, dass der Friedensprozess endlich auch für sie Fortschritte bringt: „Die Guerilla hat alles, was sie zugesagt hat, eingehalten. Aber die Regierung bewegt sich kein bisschen. Wir haben noch nichts bekommen, was sie uns versprochen haben.“

Allgegenwärtig sind vor dem Brandenburger Tor selbstgebastelte Schuhkartons. Die Demonstranten spielen auf den jüngsten Korruptionsskandal in der Türkei an, der Mitte Dezember mit Ermittlungen gegen Ministersöhne und einflussreiche Geschäftsleute sowie Politiker aus dem Umfeld der Regierungspartei AKP wegen Korruption, Bestechung und Vorteilsnahme begann. 4,5 Millionen Dollar Schwarzgeld in Schuhkartons waren bei dem Direktor der staatlichen Halkbank Suleyman Aslan im Zuge der Durchsuchungen von Wohnungen und Büros der Verdächtigen gefunden. „Die Abkürzung AKP steht im Volksmund seitdem für Ayakkabı Kutusu Partisi, die Schuhkarton-Partei“, erklärt mir Sukriye, eine linke türkische Aktivistin. „Hirsiz var!“, „Da ist ein Dieb!“, rufen viele.

Tayyip Erdogan hat freilich eine andere Erklärung parat. Es handle sich um eine Verschwörung gegen ihn und seine Partei und das Wohl der Türkei, erklärte er in seiner Rede vor der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik erneut: „Am 17. Dezember sollte ein neuer organisierter Anschlag gegen die Wirtschaft, die politische Stabilität und die demokratischen Errungenschaften in der Türkei verübt werden. Über organisierte Strukturen, die die staatlichen Stellen, allen voran die Sicherheits- und Justizbehörden, infiltriert haben, sollte die Politik der Türkei neu gestaltet und eine Kursänderung der Türkei vollzogen werden.“

Das stellt hier, unter den Kritikern Erdogans, freilich niemanden zufrieden. Zwar dürfte es sich wirklich um „organisierte Strukturen“ in der Justiz handeln, die die Ermittlungen angestoßen haben, aber es sind jene Strukturen des islamistisch-nationalistischen Netzwerks des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, die Erdogan lange Zeit als wesentliche Machtstütze gedient hatten. Mit ihnen hatte sich die Führungsriege der AKP seit langem überworfen, seit Dezember wird der Kampf um Einfluss und Pöstchen offen ausgetragen.

Die Demonstranten der Gezi-Bewegung – also jenes Massenaufstandes im Juni 2013, der sich an der geplanten Umstrukturierung des Istanbuler Gezi-Parks entzündete und in wochenlangen Unruhen mündete – hatten allerdings bereits lange vor den jüngsten Korruptionsermittlungen darauf hingewiesen, dass es vor allem im Bausektor offen korrupt zugeht. Die Gezi-Bewegung, die der Premier zunächst als „Marodeure“ mit nur „marginalem“ gesellschaftlichen Einfluss missdeutete, gibt es immer noch. Zuletzt demonstrierten im Dezember 2013 zehntausende in mehreren Städten der Türkei.

Anders präsentiert sich die Massenveranstaltung am Abend im Berliner Tempodrom. Hier will Erdogan sich im Rahmen einer Veranstaltung der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) von tausenden Anhängern feiern lassen. Die UETD gilt als Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP, angekündigt wird Erdogan als „Meister“.  

War die Stimmung am Nachmittag noch ausgelassen, bunt und laut, so läuft hier alles etwas gespenstisch ab. Vor der ersten Absperrung, die in die Nähe des Tempodroms führt, protestieren noch zwei junge Frauen mit Fahne des Staatsgründers Kemal Atatürk und Schildern mit dem Schriftzug „Capulcu“ (Marodeure), dahinter stehen nur noch, durch Polizei von ihrem Helden abgeschirmt, einige hundert Anhänger.

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Das Tempodrom ist stark gesichert, wer hinein will, muss durch den Metalldetektor, dutzende private Sicherheitsleute, Polizei und offenkundig auch Geheimdienstler überwachen den Platz vor der Veranstaltungshalle. Auch draußen will nicht so richtig Stimmung aufkommen. Das Public Viewing wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt, einige „Recep-Tayyip-Erdogan“-Sprechchöre enden rasch wieder.

Drinnen zieht Erdogan eine Bilanz seiner bisherigen Regierungszeit. Er habe eigentlich so gut wie alles verbessert, Wirtschaft, Politik, Justizsystem. „Wir sind ein Volk, dass aus der Asche sich noch erhebt und das groß und stark sein wird.“ Das ist zwar offenkundig unwahr, aber geglaubt wird es immer noch von sehr vielen Türkinnen und Türken. Die meisten Umfragen zu der Ende März bevorstehenden Kommunalwahl bescheinigen Erdogans Partei zwar Verluste im Vergleich zu den 2012 erreichten Höchstwerten, allerdings wird sie wohl aller Voraussicht nach dennoch über 40 Prozent erreichen und damit stimmenstärkste Partei werden.

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