Weltpolitik

Michail Saakaschwili: Ein Täter macht sich zum Opfer

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Georgiens Überfall und das Märchen von der russischen Invasion (Teil 2) –

Von KNUT MELLENTHIN, 21. November 2008:

Die Regierung von Michail Saakaschwili hat am 17. November ausführlich, aber nicht sehr überzeugend zu „westlichen Medienberichten“ Stellung genommen, die Georgien für die Auslösung des Krieges mit Russland im August verantwortlich machen. (1) Gemeint sind vor allem die zuerst am 6. November in der New York Times (2) veröffentlichten Aussagen von OSZE-Beobachtern, die bei Kriegsbeginn in der südossetischen Hauptstadt Tschinwali stationiert waren. (3) Die Redaktion des Boston Globe zog am 11. November in einem Leitartikel das Fazit: „Die unausweichliche Schlussfolgerung ist, dass Saakaschwili den Krieg angefangen hat, und dass er darüber gelogen hat.“ Und weiter: „Es ist wichtig zu wissen, welche Seite den Krieg im August zwischen Russland und Georgien auslöste. (…) Wenn es sich herausstellt, dass hauptsächlich Georgien die Schuld trägt, wird der neue Präsident Obama sicherstellen müssen, dass Saakaschwili begreift, dass ein verlässlicher Verbündeter nicht den Willen Washingtons missachtet und dass er nicht leichtfertig Amerika in eine unnötige Konfrontation mit Russland verstrickt. (4)

Die georgische Regierung hatte diese Stimmen zunächst als Erfolg der russischen Propaganda abgetan (5), bevor sie sich mit etlichen Tagen Verzögerung entschloss, darauf inhaltlich zu antworten. Die Tatsache, dass die georgischen Streitkräfte am späten 7. August kurz vor Mitternacht mit dem massiven Beschuss von Tschinwali den Krieg begonnen haben, ist auch mit den neuen Darlegungen nicht aus der Welt zu schaffen. Das wird sogar von den meisten westlichen Politikern eingestanden, indem sie von einem „Fehler“, von einer „Fehlkalkulation“, von einem „unklugen“ Vorgehen der Regierung in Tiflis sprechen. Auch der Vorwurf, Russland habe „überreagiert“, impliziert eine georgische Kriegsschuld.

Vermutlich wird sich die Diskussion daher von der sehr klaren Schuldfrage wegverlagern zur Vorgeschichte des Krieges in den letzten Jahren, zu angeblichen Provokationen Russlands und der beiden Anfang der 90er Jahre von Georgien abgefallenen Republiken. Die Tatsachen sprechen aber auch im Rückblick gegen Saakaschwili: Seit er durch die „Rosenrevolution“ vom November 2003 an die Macht kam, hat Saakaschwili immer wieder hochgefährliche Spiele am Rande eines Krieges mit Abchasien und Südossetien – und dadurch voraussehbar auch mit Russland – getrieben.

Der Schwur am Königsgrab

„Georgiens territoriale Integrität ist das Ziel meines Lebens“, hatte der Günstling der US-Regierung schon bei den aufwendigen zweitägigen Feierlichkeiten zu seiner Amtseinführung als Präsident Ende Januar 2004 verkündet. Am Grab von König David (1089-1125), dem als ersten die Einigung der Landesteile gelungen sein soll, gelobte Saakaschwili: „Wir werden unser Äußerstes tun, damit die nächsten Einführungsfeiern auch in Suchumi stattfinden können“. (6) Gemeint war die Hauptstadt der autonomen Republik Abchasien, die 1994 nach der Abwehr einer georgischen Invasion ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Obwohl Saakaschwili versicherte, sein Ziel nur mit friedlichen Mitteln verfolgen zu wollen, beschwor er die Notwendigkeit, eine starke Armee aufzubauen, „um die Einheit Georgiens wiederherzustellen“. Anlässlich des Nationalfeiertags am 25. Mai 2004 fand in Georgien die größte Militärparade in der Geschichte des Landes statt. Saakaschwili sagte aus diesem Anlass in einer Fernsehansprache: „Wenn man irgendeinen georgischen Soldaten fragt, warum er in den Streitkräften dient, dann wird jeder von ihnen antworten: ‚Um Georgiens territoriale Integrität wiederherzustellen.’“ (7)

Als Saakaschwili im Januar 2004 das Präsidentenamt übernahm, befand sich neben Abchasien und Südossetien noch ein drittes Gebiet außerhalb der direkten Kontrolle der Regierung in Tiflis: Die autonome Republik Adscharien (mit der wichtigsten Hafenstadt des Landes, Batumi) hatte zwar ihre Zugehörigkeit zu Georgien nie explizit in Frage gestellt. Ihre Bewohner sahen sich, anders als Osseten und Abchasen, auch nicht als eigenes Volk, sondern als Georgier. Aber unter seinem autoritär herrschenden Präsidenten Aslan Abaschidse hatte sich Adscharien vor der „Rosenrevolution“ einen hohen Grad an politischer und wirtschaftlicher Selbstständigkeit erkämpft.

Bei der geplanten „Wiedervereinigung“ Georgiens, die Saakaschwili noch vor Ende seiner ersten Amtsperiode – das wäre normalerweise im Januar 2009 gewesen – zum Abschluss bringen wollte, konzentrierte er sich zunächst taktisch klug auf das am leichtesten zu erreichende Ziel, Adscharien. Im Wechselspiel von Verhandlungsangeboten, ökonomischer Erpressung (bis hin zur Verhängung einer mehrtätigen Wirtschaftsblockade) und Androhung eines militärischen Vorgehens gelang es Saakaschwili, die Regierung in Batumi zu erschüttern. Entscheidend war in der letzten Phase, dass der mit hohen finanziellen Anreizen (und gleichzeitig mit Strafandrohungen gegen Widerstrebende) verbundene Aufruf an adscharische Beamte und Militärs zur Desertion erfolgreich war. Nach dem Vorbild der „Rosenrevolution“ organisierten schließlich Saakaschwilis Anhänger auch in Batumi Massendemonstrationen. Folge war, dass Abaschidse und einige Mitglieder seines engsten Führungskreises am 6. Mai 2004 ins Flugzeug nach Moskau stiegen, um sich dort im Exil niederzulassen. Zum unblutigen Verlauf des Machtwechsels hatte nicht zuletzt der damalige amerikanische Botschafter in Georgien, Richard Miles, beigetragen, der auf dem Höhepunkt des Konflikts emsig zwischen Tiflis und Batumi pendelte, um Abaschidse den Rückzug schmackhaft zu machen.

Bei der Neuwahl des adscharischen Parlaments im Juni 2004 kam der regionale Ableger von Saakaschwilis Nationalpartei auf stolze 75 Prozent. Die von Ex-Präsident Abaschidse geführte Wiedergeburtspartei, die bei den georgischen Parlamentswahlen am 28. März 2004 in Adscharien noch über 50 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, war sofort nach dem Umsturz verboten und aufgelöst worden.

Übermut durch schnellen ersten Erfolg

Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der Adscharien unter die Kontrolle der Regierung in Tiflis zurückgebracht worden war, ließ Saakaschwili offenbar beim Ansteuern seines nächsten Ziels, Südossetien, unrealistisch und übermütig werden. Anders als in Adscharien wirkten dort bei den meisten Bewohnern und Funktionsträgern weder Einschüchterung noch materielle Angebote. Saakaschwili scheint bis heute nicht wahrhaben zu wollen, dass Südosseten und Abchasen in ihrer großen Mehrheit um keinen Preis Teil Georgiens sein wollen. Das hat weit zurückreichende Ursachen. Schon in der Zeit der ersten georgischen Republik (1918-1921) wehrten sich beide Völker mit bewaffnetem Widerstand gegen die gewaltsame Annexion durch die nationalistische und aggressiv-expansionistische Regierung in Tiflis. Saakaschwili aber behauptet heute noch allen Ernstes, die Südosseten lebten „seit 15 Jahren unter russischer Besatzung“, und ihr Widerstand gegen den Anschluss an Georgien sei Folge des „Stockholm-Syndroms“. (8)

Südossetien ist rund anderthalb mal so groß wie das Saarland, hat aber nur ungefähr 80.000 Einwohner. Darunter eine georgische Minderheit (angeblich 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung), die vor dem Krieg hauptsächlich in Dörfern rund um die grenznahe Hauptstadt Tschinwali lebte. Saakaschwilis Kalkül im Frühjahr und Sommer 2004 bestand darin, mit Hilfe der georgischen Minderheit in Südossetien festen Fuß zu fassen, eine Dauerkrise am Rand eines Krieges zu provozieren und die Autorität der Regierung in Tschinwali zu erschüttern.

Um das zu erreichen, wurden zunächst in mehreren von Georgiern bewohnten südossetischen Dörfern „Kontrollstationen“ der georgischen Polizei eingerichtet. Angeblich dienten sie zur Unterbindung des Schmuggels, der tatsächlich für viele Bewohner der armen Region einen wichtigen Nebenerwerb darstellt. Die Gesamtzahl dieser georgischen Polizeiposten wurde damals von südossetischer und russischer Seite mit 13 bis 16 angegeben. Von ihnen aus konnten sämtliche Zufahrtsstraßen nach Tschinwali, insbesondere auch die einzige Verbindung mit dem zu Russland gehörenden Nordossetien durch den Roki-Tunnel, überwacht werden. In Eredwi, weniger als 10 km von Tschinwali entfernt, wurde ein „Krisenzentrum“ installiert, das die polizeilichen und militärischen Aktivitäten Georgiens in Südossetien koordinieren sollte. Es stand unter Leitung des damaligen Innenministers Irakli Okruaschwili, eines gefährlichen nationalistischen Hitzkopfs und Sprücheklopfers. (9)

Am 31. Mai 2004 ließ Saakaschwili 300 schwerbewaffnete Soldaten seiner von US-Offizieren ausgebildeten Elitentruppen mit von den Amerikanern gelieferten Hubschraubern in der Nähe Tschinwalis landen. (10) Die Einheit sollte demonstrativ eine der illegal errichteten Polizeistationen verstärken, deren Entfernung der Kommandant der in Südossetien stationierten russischen Friedenstruppe, Swiatoslaw Nabzorow, angeblich unter Gewaltandrohung gefordert hatte. Nach nur fünf Stunden wurden die georgischen Soldaten wieder abgezogen. Angeblich hatte Saakaschwili zuvor Garantien erhalten, dass die russische Friedenstruppe nicht gegen die georgischen Posten vorgehen werde. Nabzorow hat jedoch bestritten, überhaupt mit Gewaltanwendung gedroht zu haben.

Die Bildung einer unter russischem Oberkommando stehenden Friedenstruppe für Südossetien war 1992 vereinbart worden. Russland, Georgien und Nordossetien sollten jeweils 500 Mann dazu beisteuern. Nach eigenen Angaben hatte Georgien diese Obergrenze jedoch bis zum Jahr 2004 bei weitem nicht ausgeschöpft, sondern nur etwa 100 Soldaten geschickt. Unter dem Vorwand, seine Friedenstruppen gemäß der alten Vereinbarungen auf 500 Mann zu verstärken, schickte Saakaschwili im Frühjahr und Sommer 2004 neben Polizisten und Truppen des Innenministeriums auch Militär in den von Georgiern bewohnten Teil Südossetiens. Südossetische und russische Stellen behaupteten damals, dass sich 3.000 georgische Soldaten und Milizionäre illegal in Südossetien aufhielten. Verifizierbar war diese Angabe naturgemäß nicht. Offensichtlich war aber, dass der georgische Versuch, sich in Südossetien immer weiter auszudehnen und fest zu etablieren, zu einem permanenten Spannungszustand und im Sommer 2004 zu einem fast täglichen Kleinkrieg mit hohen Verlusten für beide Seiten führte.

Aktionen gegen russische Friedenstruppe

Georgien provozierte in dieser Zeit auch mehrmals kritische Konfrontationen mit der Friedenstruppe, indem es russische Soldaten auf südossetischem Gebiet festnehmen und ihre Waffen beschlagnahmen ließ. Zum Beispiel stoppten georgische Polizisten und Soldaten am 7. Juli 2004 einen russischen LKW-Konvoi mit 100 bis 200 Hubschrauber-Raketen. Nach russischen Angaben waren sie für die Friedenstruppen bestimmt, deren Ausstattung mit Hubschraubern zwar schon 1994 vereinbart, aber noch nicht realisiert worden war. Offenbar hatte der für die Territorialkonflikte zuständige georgische Minister der Raketen-Lieferung in einer Sitzung der Gemeinsamen Kontrollkommission (JCC) am 2. Juni zugestimmt. In der JCC vertreten waren Georgien, Südossetien, Russland und Nordossetien. Am 13. Juli beschlagnahmten georgische Truppen, ebenfalls auf südossetischem Territorium, einen aus Russland kommenden LKW-Konvoi mit humanitären Hilfsgütern. Offizielle Begründung: Für die Waren sei kein Zoll gezahlt worden – was in Südossetien ganz normal war und ist, da die Republik die georgische Oberhoheit nicht anerkennt. Der Streit um die LKWs wurde schließlich so beigelegt, dass die Lieferung freigegeben wurde, nachdem formal die Zollabgabe entrichtet worden war: aus dem dienstlichen Budget des georgischen Präsidenten.

Saakaschwilis Dauerprovokationen erreichten ihren Höhepunkt, als am Morgen des 19. August 2004 georgische Elitetruppen mehrere „strategische“ Hügel in der unmittelbaren Nachbarschaft von Tschinwali stürmten und besetzten. Es waren dieselben Hügel, auf denen vier Jahre später schwere Artillerie und Raketenwerfer postiert wurden, um die südossetische Hauptstadt zu beschießen. Auch im August 2004 werteten mit der Lage vertraute Beobachter den georgischen Handstreich als Vorbereitung einer kurz bevorstehenden Großoffensive. Aber in einer überraschenden Wendung wurden die eroberten Hügelpositionen wenige Stunden später an die Friedenstruppe übergeben. Es wurde spekuliert, dass der amerikanische Botschafter Miles im Namen seiner Regierung Einspruch gegen den Kriegsplan eingelegt habe.

Nach diesen hart an den Rand eines Krieges führenden Aktionen trat in Südossetien für über zwei Jahre relative Ruhe ein. Ähnliches gilt im Großen und Ganzen auch für das georgische Verhältnis zu Abchasien, das Saakaschwili Anfang August 2004 noch einmal gefährlich zugespitzt hatte. Am 3. August kündete er in einer Fernsehansprache an, dass er Befehl gegeben habe, alle Schiffe zu beschießen und zu versenken, „die unsere Territorialgewässer verletzen“. Er verwies dabei auf einen Zwischenfall, der sich wenige Tage zuvor ereignet hatte: Ein Patrouillenboot der georgischen Küstenwache hatte einen türkischen Frachter beschossen, der auf dem Weg zur abchasischen Hauptstadt Suchumi war. Das Schiff entkam dem Angriff und erreichte den schützenden Hafen.

Schießbefehl gegen Urlauberschiffer

Saakaschwili richtete seine Drohung ausdrücklich auch und vor allem gegen Ausflugdampfer, die zwischen dem russischen Schwarzmeerhafen Sotschi und Abchasien verkehren. Die Strände Abchasiens waren schon in Sowjetzeiten ein beliebtes Ferienziel gewesen. Nachdem sich der Konflikt der Republik mit Georgien etwas beruhigt zu haben schien, strömten wieder Hunderttausende russische Urlauber nach Abchasien und machten den Tourismus zur wichtigsten Einnahmequelle der Republik. In seiner Fernsehansprache drohte Saakaschwili: „Wir werden sofort auf jedes Schiff, das in georgische Gewässer eindringt, das Feuer eröffnen und es versenken. Ich möchte, dass alle russischen Touristen auf meine Worte achten.“ (11)

Russland reagierte, nicht überraschend, mit einer harschen Erklärung des Außenministeriums: „Äußerungen wie diese zeigen, dass Tiflis beginnt, den richtigen Blick für die Realitäten der heutigen Welt zu verlieren.“ „Alle Versuche, das Leben russischer Bürger zu schädigen oder zu nehmen, werden zurückgeschlagen werden. Solche Botschaften werden, falls sie realisiert werden, als feindlicher Akt mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen behandelt werden.“ (12)

Mit der in Frankreich für die griechische Marine gebauten „Dioskuria“ verfügte Georgien damals über ein hervorragendes Angriffsschiff, das mit seinen Exocet-Raketen sogar größeren Kriegsschiffen gefährlich werden konnte. Georgien hatte die „Dioskuria“ gerade kurz zuvor im Jahr 2004 von Griechenland erworben. (13) Vielleicht hatte das Saakaschwili zu seiner Eskapade veranlasst. Dass Georgien einer Konfrontation mit der russischen Schwarzmeerflotte nicht gewachsen gewesen wäre, lag trotzdem auf der Hand.

Es kennzeichnet den Stil des Hasardeurs im georgischen Präsidentenamt, dass er seine Drohung gegen die russischen Abchasien-Urlauber unmittelbar vor Antritt einer Reise in die USA vortrug. Es handelte sich dabei zwar nicht um einen Staatsbesuch, aber Saakaschwili traf dort mit wichtigen amerikanischen Regierungspolitikern zusammen und hielt am 5. August 2004 eine Rede vor dem in Washington beheimateten Center for Strategic and International Studies. Dort verteidigte er ausdrücklich seine Äußerungen: Niemand solle überrascht sein, dass er der georgischen Küstenwache Befehl gegeben habe, jedes Schiff zu versenken, dass nach Abchasien zu gelangen versucht. Schließlich habe Georgien schon seit 1995 alle Länder gewarnt, dass keine Schiffe ohne georgische Erlaubnis Abchasien ansteuern dürften. (14)

Kurz vor dieser Rede hatte Saakaschwili ein einstündiges Gespräch mit US-Außenministerin Condoleezza Rice. Das State Department habe „beide Seiten ermutigt, miteinander zu sprechen und die verfügbaren Instrumente zu nutzen, um unbeabsichtigte Zwischenfälle zu vermeiden und Wege zur Lösung der Spannungen zu finden, teilte Sprecher Richard Boucher anschließend mit. Zu dem aktuellen Konflikt im Schwarzen Meer nahm Boucher nicht Stellung. (15)

Episoden wie diese bauten bei Saakaschwili den im Wesentlichen tatsächlich zutreffenden Eindruck auf, er könne sich aufgrund seiner „Sonderbeziehungen“ zu Washington jede beliebige Provokation nicht nur gegen die beiden abtrünnigen Republiken, sondern auch gegen Russland erlauben, ohne eine Verschlechterung der Beziehungen zu den USA und zur NATO befürchten zu müssen.

Die zweite Jahreshälfte 2004, das Jahr 2005 und auch die ersten sechs Monate 2006 waren vergleichsweise ruhig. Im Juli 2006 begann Georgien mit einer Militäroperation gegen das obere Kodori-Tal eine neue Welle von Provokationen und Konfrontationen. Das bis zu über 3000 Meter hohe, dünn besiedelte, strategisch günstig gelegene Tal gehörte in der Sowjetzeit eindeutig zur Autonomen Republik Abchasien. Als 1994 nach einem blutigen Krieg ein Waffenstillstand geschlossen wurde, war das obere Kodori-Tal der einzige Teil Abchasiens, der sich noch unter georgischer Kontrolle befand.

Saakaschwili gründet „Ober-Abchasien“

Im Waffenstillstandsabkommen vom 14. Mai 1994 wurde dieser Zustand festgeschrieben, aber auch vereinbart, dass dort kein georgisches Militär stationiert werden darf. Für die Verwaltung dieses Gebiets hatte Saakaschwilis Vorgänger Eduard Schewardnadse einen Beauftragten eingesetzt, Emsar Kwitsiani. Im Laufe der Jahre löste sich dieser mit einem Trupp von etwa 200 Bewaffneten völlig von der Kontrolle durch die Regierung in Tiflis. Nach einem von Kwitsiani missachteten Ultimatum besetzten georgische Truppen am 25. und 26. Juli 2006 das obere Kodori-Tal. Am 27. September 2006 ordnete Saakaschwili an, dass das Gebiet künftig „Ober-Abchasien“ genannt werden sollte. Ein Bergort wurde als Amtssitz der bis dahin in Tiflis residierenden, von Georgien eingesetzten „abchasischen Exilregierung“ deklariert.

Kurz vor der Militäraktion gegen das Obere Kodori-Tal hatte die Entlassung des georgischen Staatsministers für Konfliktlösungsaufgaben, Giorgi Khaindrawa, für Aufsehen und Spekulation gesorgt. Dieses Ministerium war für die Verhandlungen mit Südossetien und Abchasien zuständig. Khaindrawa galt zwar als hart in der Sache, aber als überzeugter Verfechter einer politischen, nicht-militärischen Lösung der Konflikte mit den beiden Republiken. Khaindrawas Entlassung nährte daher Befürchtungen, dass Georgien in Bälde militärische Abenteuer riskieren könnte. Anlass der Entlassung war ein heftiger Streit zwischen Khaindrawa und Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili. Khaindrawa hatte seinen Kollegen wegen zweier Vorfälle am 14. und 15. Juli kritisiert, bei denen russische Diplomaten und Offiziere von georgischer Militärpolizei gestoppt, festgenommen und durchsucht worden waren. Georgien war wegen dieser eindeutig rechtswidrigen Aktion auch von westlichen Politikern und Diplomaten kritisiert worden. – Khaindrawa gehört heute der Opposition an.

Im November 2006 ließ Saakaschwili auch auf dem Territorium Südossetiens eine „alternative“ Marionettenregierung installieren. Zu diesem Zweck wurde am 13. November 2006, als in Südossetien die Präsidentenwahl stattfand, in den mehrheitlich von Georgiern bewohnten Dörfern eine Parallelwahl abgehalten. Als Sieger und „gewählter Präsident“ wurde Dmitri Sanakojew deklariert, der in den Jahren 1993 bis 2001 in verschiedenen Funktionen der südossetischen Regierung angehört hatte, zuletzt als Premierminister. Sanakojews „Wahlkampagne“ im Oktober-November 2006 war vom georgischen Staatsfernsehen massiv unerstützt worden. Im Dezember 2006 gab Sanakojew die Bildung einer Regierung unter seiner Führung bekannt. Am 10. Mai 2007 wurde er von Saakaschwili offiziell zum „Chef der Südossetischen Provisorischen Verwaltungseinheit“ ernannt.

Georgien war es damit gelungen, in beiden abtrünnigen Republiken einen Fuß in die Tür zu bekommen. Heute werden Sanakojew und der Führer der „abchasischen Exilregierung“, Malkhaz Akishbaia, von Georgien mit der Forderung vorgeschoben, sie müssten an allen Verhandlungen wenigstens gleichberechtigt mit den Vertretern von Südossetien und Abchasien teilnehmen dürfen.

„Es gibt keinen südossetischen Luftraum“

Im September 2006 hatten georgische Provokationen wieder einmal an den Rand eines Krieges mit Südossetien geführt. Am 3. September 2006 meldete sich Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili mit einer etwas wirren Geschichte. Nach eigener Aussage hatte er den Beschuss seines Hubschraubers über Südossetien nur knapp überlebt. Dank der Flugkünste des Piloten habe der Hubschrauber auf georgischem Gebiet notlanden können. Mit an Bord soll sich auch der stellvertretende Chef des georgischen Militärstabes, Sasa Gogawa, befunden haben.

Eine südossetische Regierungssprecherin hatte zuvor bekannt gegeben, die Streitkräfte der Republik hätten einen georgischen Hubschrauber abgeschossen, nachdem dieser 30 Minuten über Tschinwali gekreist sei und auf Signale nicht reagiert habe.

Nach südossetischen Angaben hatte Georgien in den fünf vorausgegangenen Monaten 240 mal den Luftraum der Republik verletzt. Das wurde von georgischer Seite nicht einmal bestritten. Dort stellte man sich auf den Standpunkt: „Es gibt überhaupt keinen südossetischen Luftraum“, wie Okruaschwili am 3. September 2006 erklärte. Diese Position steht jedoch im Widerspruch zu einem 2002 abgeschlossenen Abkommen: Es untersagt den Georgiern nicht autorisierte Flüge über Südossetien. Darauf verwies denn auch der Leiter der OSZE-Mission in Georgien, Rooy Reeve. Zugleich kritisierte er jedoch den Beschuss des Hubschraubers.

Auf einer Pressekonferenz nach dem Zwischenfall drohte Okruaschwili: „Natürlich waren die Angreifer ossetische bewaffnete Banden. Jeder sollte verstehen, dass das Treiben dieser Banditen sehr bald beendet werden wird, ein für alle mal.“ – Der einflussreiche Abgeordnete Giwi Targamadse von der allein regierenden Nationalpartei, Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Verteidigung und Sicherheit, sagte am 4. September 2006: „Diese Angelegenheit“ – gemeint ist die Abspaltung Südossetiens – „muss gelöst werden, selbst wenn internationale Unterstützung dafür nicht zu erreichen ist, und sie muss nötigenfalls auch gewaltsam gelöst werden.“

Das georgische Innenministerium behauptete, es habe schon am 28. August 2004 einen ähnlichen Zwischenfall gegeben. Dabei sei über südossetischem Gebiet ein Hubschrauber beschossen worden, der einen anderen Hubschrauber begleitete, in dem sich Präsident Michail Saakaschwili und eine Gruppe US-amerikanischer Senatoren befanden. Die vom Republikaner John McCain geleitete Delegation hatte zuvor sehr viel Verständnis für den georgischen Standpunkt im Streit mit Südossetien, Abchasien und Russland bekundet. Ob sich die US-Politiker bewusst auf die mit einem hohen Risiko für sie selbst verbundene Provokation eingelassen hatten, oder ob sie von georgischer Seite getäuscht worden waren, ist nicht bekannt.

EU setzt Untersuchungskommission ein

Die Außenminister der Europäischen Union haben am 11. November bekannt gegeben, dass die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini eine internationale Untersuchungskommission über die Ursachen des August-Krieges zwischen Georgien und Russland leiten soll. Tagliavini war von 2002 bis 2006 Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs in Georgien. In dieser Funktion war sie auch verantwortlich für die UNOMIG-Friedensmission, die den Waffenstillstand zwischen Georgien und Abchasien überwachen sollte.

„Aufgabe der Kommission wird sein, die Ursprünge und die Entwicklung des Konflikts zu untersuchen, der am 7. August 2008 begann, mit Bezug auf das internationale Recht und die Menschenrechte. Der geografische und zeitliche Rahmen der Untersuchung muss genügend weit gefasst sein, um alle möglichen Ursachen erkennen zu können“, heißt es in dem Beschluss. Tagliavini soll ihren Abschlussbericht im November 2009 vorlegen. (16)

Die Kommission, deren Bildung unter anderem vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier angeregt wurde, wird es zweifellos schwer haben, weil ihr Befund den Vorgaben der großen Politik Rechnung tragen muss. Nachdem die EU-Staaten vom ersten Moment an einseitig die „russische Aggression“ verurteilt haben, während sie Georgien Solidarität und Hilfe zusicherten, ist kein Untersuchungsergebnis zu erwarten, das dieser politischen Grundsatzentscheidung frontal und schwerwiegend widerspricht. Die Kommission wird sich auch kaum der Tatsache stellen, dass die zahlreichen Provokationen, die Saakaschwili unmittelbar nach Übernahme des Präsidentenamtes im Januar 2004 begann, nicht nur von den USA, sondern auch von der EU jahrelang in verantwortungsloser Weise toleriert wurden.

Im Unterschied zur EU lehnt die amerikanische Regierung anscheinend eine Untersuchung der Kriegsursachen ab. Während einer Pressekonferenz am 7. November 2008 erklärte der stellvertretende Sprecher des State Department, Robert Wood, man müsse von der Fragestellung, wer den Krieg begann, wegkommen, weil dies ohnehin nicht zu klären sei. Jedenfalls habe sich Georgien „provoziert gefühlt“. (17)

Es bleibt abzuwarten, ob Barack Obama, der am 20. Januar 2009 als 44. Präsident der USA vereidigt werden soll, an dieser Position festhalten wird.

 

Am 13. Oktober 2008 erschien der erste Teil:
Michail Saakaschwili: Ein Täter macht sich zum Opfer
Georgiens Überfall und das Märchen von der russischen Invasion

http://www.hintergrund.de/content/view/281/63/

 

Anmerkungen Teil 2

1) Wortlaut der Stellungnahme:
http://georgiaupdate.gov.ge/doc/10006924/OSCE%20Nov%2018%20v1.htm
Word-Version: http://georgia2008.net/en/2008/11/17/english-who-started-the-warclaimsfacts/
Dazu auch: Tbilisi Responds to Western Media Reports on War’s Start. Civil Georgia, 18.11.2008.

2) C.J. Chivers und Ellen Barry: Georgia Claims on Russia War Called Into Question. New York Times, 6.11.2008.
http://www.nytimes.com/2008/11/07/world/europe/07georgia.html?partner=rssnyt&emc=rss

3) Knut Mellenthin: Es spricht sich rum: Georgien war der Angreifer. Hintergrund, 10.11.2008.
http://www.hintergrund.de/content/view/296/63/

4) Editorial: Reckless Georgia. Boston Globe, 11. November 2008.
http://www.boston.com/bostonglobe/editorial_opinion/editorials/articles/2008/11/11/reckless_georgia/

5) Minister: Russia Behind Anti-Georgian Campaign in Western Media. Civil Georgia, 12.11.2008
http://www.civil.ge/eng/article.php?id=19945
Der dort zitierte Minister für “Reintegration“ (das meint die Rückgewinnung Südossetiens und Abchasiens), Temur Jakobaschwili, hatte in diesem Zusammenhang behauptet, Russland habe für die „anti-georgische Kampagne in den westlichen Medien“ eine „große Summe Geld bereitgestellt“. Russland greife in dieser „Kampagne“ auch zu „KGB-Methoden, einschließlich Einschüchterung und Erpressung“.

6) Civil Georgia, 24.1.2004. Saakaschwili legte, kniend und mit der Hand auf dem Grab des Königs, einen Eid ab, „Georgien zu vereinigen“.

7) “If you ask any Georgian soldier: why is he serving in the armed forces, each of them would reply – to restore Georgia’s territorial integrity”. Civil Georgia, 25.5.2004.

8) „Diese Operation war geplant“. Interview des Focus mit Saakaschwili, 3.11.2008.
http://www.focus.de/politik/ausland/ausland-diese-operation-war-geplant_aid_345568.html
Saakaschwili behauptete dort auch, Tschinwali sei von den Russen zerstört worden, und: „Das Letzte, was wir wollten, waren Kampfhandlungen in Südossetien. Die Menschen dort waren auf unserer Seite! Einen Krieg zu beginnen hätte dem gesunden Menschenverstand widersprochen.“

9) Okruaschwili zerstritt sich im September 2007 mit Saakaschwili, wurde verhaftet und wegen Wirtschaftsverbrechen angeklagt. Seit April 2008 lebt er im Exil in Paris.

10) Diese und alle folgenden Darstellungen der Ereignisse beruhen hauptsächlich auf den Meldungen der gut informierenden, relativ regierungsunabhängigen Nachrichtenagentur Civil Georgia.

11) Zitiert nach: Georgian President Warns Russians to Stay Away. Los Angeles Times, 5.8.2004.

12) Georgia Bursts the Banks/ Mikhail Saakashvili Announces Sea Blockade of Abkhazia. Kommersant, 5.8.2004.

13) Wikipedia, Stichwort Georgian Navy. Die „Dioskuria“ wurde am 19. August 2008 bei einem russischen Angriff im Hafen von Poti schwer beschädigt und sank auf Grund.
Während des Falklandkrieges 1982 hatten die argentinischen Streitkräfte mit Exocet-Raketen, die von Super Etendard Kampfflugzeugen abgefeuert wurden, den britischen Zerstörer HMS Sheffield versenkt.

14) Georgia: President Saakashvili Calls Threats To Ships Reasonable. Radio Free Europe/ Radio Liberty, 6.8.2004.

15) Pressekonferenz des State Department am 5.8.2004 mittags.
http://www.globalsecurity.org/military/library/news/2004/08/mil-040805-usia03.htm

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16) Some Details of Planned International Probe into War Reported. Civil Georgia, 20.11.2008.

17) Daily Press Briefing des State Department, Washington D.C., 7.11.2008.
http://www.state.gov/r/pa/prs/dpb/2008/nov/111653.htm

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