Weltpolitik

"Wir wollen einen sozialen Staat"

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Boliviens Regierung hält trotz der Unruhen an sozialer Reformpolitik fest. Ein Gespräch mit Elizabeth Salguero.

7. Oktober 2008

Seit dem Regierungsantritt des ersten indigenen Präsidenten Boliviens, Evo Morales, im Januar 2006 befindet sich seine Regierung im Konflikt mit der Oligarchie des südamerikanischen Landes. Während Morales’  Bewegung zum Sozialismus (MAS) die Reichtümer des Landes neu verteilen will, damit auch die arme und indigene Bevölkerungsmehrheit von ihnen profitiert, wehrt sich die meist weiße Oberschicht gegen diese Reformen. Am 11. September nun kam es nahe der Ortschaft Porvenir im Norden des Landes zu einem Massaker. Paramilitärische Gruppen eröffneten das Feuer auf eine Gruppe von Demonstranten, die gegen den oppositionellen Präfekten des Departements Pando protestierten. Im Kugelhagel starben 18 Menschen. Dutzende wurden verletzt und rund 100 Personen gelten nach wie vor als vermisst.

Der Präfekt der Region, Leopoldo Fernández, befindet sich seither in Haft. gegen ihn wird wegen des Verdachtes ermittelt, die Bluttat in Auftrag gegeben zu haben. Wenige Tage später erklärten sich die Parteien der Opposition zu einem Dialog mit der linksgerichteten Regierung von Evo Morales bereit. Dazu trug auch der massive internationale Druck bei. Mitte September hatte unter anderem das südamerikanische Staatenbündnis UNASUR Morales mit einer deutlichen Erklärung den Rücken gestärkt.

Hintergrund.de sprach mit Elizabeth Salguero über den innenpolitischen Konflikt und die Perspektiven der sozialen Reformpolitik ihrer Regierung. Die MAS-Abgeordnete hielt sich Ende September als Leiterin einer parlamentarischen Delegation aus Bolivien in Berlin auf

HINTERGRUND: Frau Salguero, hat der Konflikt in Bolivien mit dem Massaker von Porvenir am 11. September eine neue Qualität erreicht?

Elizabeth Salguero: Es war ganz offensichtlich ein politisch motivierter Angriff. Die Menschen wollten sich versammeln, um gegen den Präfekten dieser Region, Leopoldo Fernández, und die rechten »Bürgerkomitees« zu demonstrieren. Der Protest war verständlich, weil die Regierung von Pando den politischen Willen eines Teil der Bevölkerung dieses Departements missachtete – derjenigen, die die Politik der Regierung von Präsident Evo Morales unterstützen. Das Massaker nahe der Ortschaft Porvenir steht also in direktem Zusammenhang mit dem politischen Kampf der Rechten gegen die nationale Regierung in meinem Land.

HINTERGRUND: Der Präfekt Leopoldo Fernández wurde inzwischen inhaftiert. Nach jüngsten Meldungen aber gab es Proteste von Angehörigen der Opfer, weil sie seine Entlassung befürchten. Ist eine unabhängige Untersuchung der Bluttat in Anbetracht der politischen Polarisierung der Justiz überhaupt möglich?

Elizabeth Salguero: Das ist in der Tat schwierig. Gerade im Justizapparat finden sich viele Funktionäre, die noch unter alten Regierungen benannt wurden. Natürlich sind sie gegen den Prozess des Wandels, der von der amtierenden Regierung angeführt wird. Es gibt deswegen mehr oder weniger offene Versuche, die Ermittlungen im Fall Fernández so sabotieren und ihn zu befreien. Dabei ist er nicht nur für das Massaker verantwortlich. Er hat sich auch offen gegen die Deklaration des Notstands durch die Nationalregierung hinweggesetzt. Allein das war auf der Basis der geltenden Verfassung Grund genug für seine Festnahme.

HINTERGRUND: Einige Kommentare in der lateinamerikanischen Presse haben vor der wachsenden Gefahr durch paramilitärische Gruppen in Ihrem Land gewarnt. Existiert eine solche Bedrohung?

Elizabeth Salguero: Wir sind ja schon Zeugen der Existenz solcher irregulärer bewaffneter Gruppen geworden. In Erscheinung getreten sind vor allem die Verbände der so genannten Jugendunion, etwa in Santa Cruz im Osten des Landes. Diese meist jugendlichen Schläger haben politische Gegner wiederholt bedroht und tätlich angegriffen. Sie sind nach bisherigen Erkenntnissen auch für den Mord an den Demonstranten in Pando verantwortlich. Wir verfolgen diese zunehmende paramilitärische Gewalt mit großer Sorge. Zumal hinter der Fassade von »Jugendorganisationen« Söldner agieren.

HINTERGRUND: Aus Bolivien oder aus dem Ausland?

Elizabeth Salguero: Aus der Region Pando gibt es Berichte über angeheuerte Paramilitärs aus Brasilien und Peru. Beide Länder grenzen an dieses Departement. Diese Berichte sind derzeit Gegenstand von Ermittlungen.

HINTERGRUND: Indes finden politische Verhandlungen mit den Parteien der Opposition statt, vor allem mit der Gruppierung Podemos, die durch ein besonders aggressives Vorgehen aufgefallen ist. Worüber verhandeln Sie?

Elizabeth Salguero: Bei diesen Gesprächen standen drei Punkte auf der Tagesordnung. Zunächst ein steuerrechtliches Abkommen. Dabei geht es um die Verteilung der Einkünfte aus dem Erdgasgeschäft. Seit die Regierung von Evo Morales eine entsprechende Steuer eingeführt hat, läuft der Streit um die Verteilung dieser Einnahmen.

HINTERGRUND: Wofür werden sie denn verwendet?

Elizabeth Salguero: Vor allem für eine staatliche Sonderrente für Personen über sechzig Jahre und für Sozialleistungen für Kinder.

HINTERGRUND: Und die übrigen Gelder?

Elizabeth Salguero: Diese Mittel sollen in die Regionen zurück fließen. Allerdings setzen wir uns auch hier für einen neuen Verteilungsschlüssel ein. Bislang erhält das arme und im Hochland gelegene Departement La Paz 240 Bolivianos (23 Euro) pro Einwohner, während das wohlhabende Pando 7000 Bolivianos (675 Euro) pro Einwohner erhält. Das ist schlichtweg ungerecht. Der zweite Punkt in den Gesprächen ist ein institutionelles Abkommen. Dabei geht es um die strittige Neubesetzung der führenden Gerichte, vor allem des Verfassungsgerichtshofes, des Obersten Gerichtshofes und des Nationalen Wahlgerichtes. Teil dieser Gespräche sind auch die jüngsten gewaltsamen Besetzungen von Regierungsgebäuden und Liegenschaften verstaatlichter Unternehmen. Der dabei entstandene Schaden muss beglichen werden. Und schließlich geht es um ein verfassungsrechtliches Abkommen. Das ist der schwierigste Punkt, denn dabei müssen wir versuchen, die Ziele und Inhalte der neuen Verfassung mit den so genannten Autonomiestatuten der oppositionell regierten Departements in Einklang zu bringen.

HINTERGRUND: Geht es dabei auch um den Zugriff auf die Bodenschätze und natürlichen Ressourcen?

Elizabeth Salguero: Natürlich. Es geht um den Großgrundbesitz, die natürlichen Ressourcen und die Frage der politischen Kompetenzen. Die oppositionellen Regierungen in den Departements erkennen die zentralstaatliche Gewalt nicht an. Deswegen ist der Dialog zuletzt ins Stocken geraten. Vertreter der Opposition haben sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Nationalregierung nur administrative Aufgaben hat. Wir sind hingegen der Meinung, dass eine gewählte Regierung für mehr als den Postverkehr oder die Wettervorhersage zuständig ist. Meine Partei, die Bewegung zum Sozialismus, will einen starken sozialen Staat mit Verantwortung aufbauen. Und das ist der strittige Punkt. Die Präfekten der fünf oppositionell regierten Departements wenden sich gegen einen solchen Neuanfang, weil er zu Lasten der Oligarchie geht, die sie vertreten. Im Parlament haben sie jedoch kaum Unterstützung. Nur einige Abgeordnete der erwähnten Partei Podemos stärken ihnen offen den Rücken.

HINTERGRUND: Im Endeffekt fordern Ihre politischen Gegner aber doch ein Ende der sozialen Reformpolitik. Welchen Fortschritt erhoffen HINTERGRUND: Sie sich von dem Dialog?

Elizabeth Salguero: Zumindest belegen wir Tag für Tag wieder unsere Bereitschaft zur Demokratie. Anders als die oppositionellen Präfekten hören wir der Minderheit zu und wir setzen uns mit ihr an einen Tisch. Diese Bereitschaft zum Dialog werden wir immer beibehalten. Wir werden auch alle Vorschläge anhören, sofern sie verantwortungsvoll und realistisch sind.

HINTERGRUND: Wann wird Bolivien eine neue Verfassung haben?

Elizabeth Salguero: Am 15. Oktober wird der Kongress zusammenkommen, um die Gesetze für zwei Referenden zu beschließen. Dann werden auch die Daten festgelegt werden. Bei der ersten Abstimmung wird es darum gehen, die Obergrenze für Großgrundbesitz  festzulegen. Die Frage dabei ist, ob diese Grenze bei 5000 oder bei 10000 Hektar liegt. Mit dem zweiten Referendum wird die Bevölkerung über den Text der neuen Verfassung für die Republik entscheiden.

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Interview: Harald Neuber

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