Weltpolitik

Vor einem neuen „Kalten Krieg“?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von KNUT MELLENTHIN, 15. August 2008:

Das wird die Russen hart treffen: Sie haben sich das Vertrauen der US-Regierung und der amerikanischen Mainstream-Medien verscherzt. Wodurch? Durch eine Militäraktion, zu der die USA und die NATO unter dem Titel „humanitäre Intervention“ selbstverständlich weltweit und jederzeit berechtigt wären. Anders als die US-Streitkräfte agieren Russlands Truppen nicht Tausende Kilometer vom eigenen Land entfernt, sondern in unmittelbar Nähe zur russischen Grenze. Anders als im Fall der von den USA und der NATO geführten Kriege hat die russische Hilfsaktion für die von Georgien angegriffenen Südosseten eine international anerkannte Rechtsgrundlage: das Waffenstillstandsabkommen, das im Juni 1992 unterzeichnet wurde, nachdem georgische Truppen und Banden – der Übergang zwischen beiden war fließend – schon einmal über den früheren Autonomen Bezirk Südossetien hergefallen waren und monströse Kriegsverbrechen begangen hatten. Wie in Georgiens zweiter abtrünniger Republik, Abchasien, sind seither in Südossetien russische Soldaten als Friedenstruppe stationiert.

Zwar bescheinigte Präsident George W. Bush den Russen am 13. August gönnerhaft, dass sie versucht hätten, „sich in die diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strukturen des 21. Jahrhunderts zu integrieren“. Die USA hätten sie dabei unterstützt. Aber nun setze Russland das alles aufs Spiel, „indem es in Georgien zu Handlungen greift, die mit den Prinzipien dieser Einrichtungen nicht vereinbar sind. Um damit zu beginnen, den Schaden zu reparieren, den es seinen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten, Europa und anderen Nationen zugefügt hat, und um zu beginnen, seinen Platz in der Welt wiederherzustellen, muss Russland Wort halten und zur Beendigung dieser Krise handeln.“ (1)

Seltsame Worte für einen Präsidenten, der seine Streitkräfte seit Jahren in Afghanistan und im Irak völkerrechtswidrige Kriege führen lässt, denen schon mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen sind. US-Verteidigungsminister Robert Gates teilte der Presse am 14. August mit, der russische „Angriff“ zwinge die amerikanische Regierung zu einem „grundlegenden Überdenken“ ihrer Bemühungen um einen „kontinuierlichen, langfristig angelegten strategischen Dialog mit Russland“. „Russlands Betragen in der vergangenen Woche stellt sämtliche Voraussetzungen dieses Dialogs in Frage und hat weitgehende Implikationen für unsere weiteren Sicherheitsbeziehungen, sowohl bilateral als auch mit der NATO.“ „Wenn Russland nicht von seinem aggressiven Auftreten und seine Aktionen in Georgien ablässt, könnten die amerikanisch-russischen Beziehungen auf Jahre hinaus negativ beeinflusst werden.“ (2)

Die New York Times übersetzt diese scheinbare Warnung an die Adresse Russlands in praktische Politik: „Die unausgesprochene neue Gefahr ist, dass eine Abkühlung des Verhältnisses die Regierung um jede Hoffnung bringen könnte, bei einigen ihrer Top-Prioritäten eng mit Russland zusammenzuarbeiten. So etwa bei der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, der Bekämpfung des Terrorismus und der Lösung der Probleme des Nahen Ostens.“ (3)

Tatsächlich hat Russland von der „strategischen Partnerschaft“ und von den noch bis vor kurzem als „so gut wie nie“ beschriebenen Beziehungen zu den USA bisher wenig Positives gehabt. Washington setzte seine Ziele mit größter Rücksichtslosigkeit durch, brach Versprechen, enttäuschte Erwartungen, ignorierte die Empfindlichkeiten seiner Moskauer „Partner“.

Das begann mit der Ausdehnung der NATO auf das gesamte Gebiet Osteuropas und sogar auf das Territorium der früheren Sowjetunion. Als die damals noch sowjetische Führung im Juli 1991 der Auflösung des Warschauer Militärbündnisses zustimmte, befand sie sich offenbar in der politisch unverzeihlichen Illusion, dass die NATO diese Lage nicht militärisch ausnutzen und innerhalb weniger Jahre bis an die Grenzen Russlands vorrücken würde. Die Historikerin Susan Eisenhower beschreibt ein Gespräch, das zu dieser Zeit in Moskau zwischen Michail Gorbatschow, US-Außenminister James Baker und seinem deutschen Kollegen Hans Dietrich Genscher stattfand. Es ging damals um die Aufnahme des vereinigten Deutschlands in die NATO. Gorbatschow stimmte zu, nachdem man ihm dies als beste Schutzmaßnahme gegen deutsche  Sonderwege schmackhaft gemacht hatte. Noch wichtiger dürfte für Gorbatschow aber die Zusage des US-Außenministers namens seiner Regierung gewesen sein, dass es anschließend nicht mehr die geringste Ausweitung der NATO nach Osten geben werde. „Vor diesem Hintergrund“, so schlussfolgerte die Autorin, „ist es nicht überraschend, dass die NATO-Expansion quer durch das gesamte politische Spektrum Russlands mit großer Feindseligkeit gesehen wurde. (4)

Offenbar ist dieses Versprechen damals nicht schriftlich gegeben worden, und anscheinend sind die beteiligten russischen Politiker, Gorbatschow und vermutlich auch der damalige Außenminister Eduard Schewardnadse, auf diese Zusage bis heute nicht öffentlich zu sprechen gekommen. Vielleicht, weil sie sich ihrer naiven Gutgläubigkeit immer noch schämen. Inzwischen wird sogar schon der NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine vorbereitet, nachdem zuvor in beiden Staaten durch „Revolutionen“, die von US-Stellen gelenkt und finanziert waren, pro-westliche Regierungen an die Macht gebracht wurden. Als Symbol für die rücksichtlose Ausbreitung des westlichen Militärbündnisses im klassischen Einflussgebiet Russlands wiegen die Umtriebe der NATO in beiden Staaten gleich schwer. Pragmatisch betrachtet wäre allerdings ein NATO-Beitritt der Ukraine für Russland ungleich schwerwiegender, weil damit Sewastopol und die Krim als Stützpunkt der Schwarzmeer-Flotte definitiv verloren gehen würden. Daher zeichnet sich zwischen Kiew und Moskau ein Konfliktpotential ab, das die jetzige Krise um Georgien vermutlich bei weitem übertreffen wird. (5)

Zur langen Geschichte russischer Niederlagen und Demütigungen, die von den USA frohgemut als „strategische Partnerschaft“ verkauft wurden, gehörte natürlich auch der Bombenkrieg gegen das mit Russland eng verbündete Jugoslawien 1999, ebenso wie in der Vorgeschichte die gesteuerte Auflösung des jugoslawischen Bundesstaates. Nicht die geringste Rücksicht auf den „Partner“ nahm Washington auch bei seinem Projekt einer in Mitteleuropa stationierten Raketenabwehr, die sich angeblich gegen den „Schurkenstaat“ Iran richten soll, in Moskau aber als feindseliger Akt gegen Russland interpretiert wird. Dass gerade während der Kaukasus-Krise, am 14. August, ein monatelang diskutiertes amerikanisch-polnisches Abkommen über die Stationierung des „Raketenschilds“ bekannt gegeben wurde, könnte wie eine Reaktion auf das unerwünschte Verhalten Russlands im Kaukasus interpretiert werden. Tatsächlich dürfte dieser Akt aber schon seit einiger Zeit vorbereitet worden sein. Das Abkommen sieht unter anderem US-Militärunterstützung für Polen vor, falls das Land „angegriffen“ wird. (6) Auch das ein Signal an die Adresse Moskaus.

„Angriff“ ist in diesem Zusammenhang ein weit auslegbarer Begriff, wie die Kaukasus-Krise zeigt. Nach vorherrschender Sprachregelung gibt es einen russischen „Angriff“ auf Georgien. Nur wenige sprechen im Westen vom georgischen Angriff auf Südossetien, das seit 18 Jahren de facto unabhängig ist und damit unter dem Schutz des Völkerrechts steht. (7) Das wirft die längerfristig brisante Frage auf, was geschehen wäre, wenn das seit Januar 2004 von einem bekennenden Revanchisten geführte Georgien schon Mitglied der NATO wäre. Dass er die gewaltsame Rückgewinnung Südossetiens und Abchasiens als zentrales Ziel seiner Amtszeit anstrebt, hat Präsident Michail Saakaschwili nie verheimlicht, sondern im Gegenteil stets stolz vor sich hergetragen. Ist – auch mit Blick auf die schon in die NATO aufgenommenen Staaten Polen, Litauen, Lettland, Estland, die sich offen mit Saakaschwili solidarisiert haben – auszuschließen, dass irgendein Provokateur das westliche Bündnisse in einen dann vielleicht kaum noch einzudämmenden Krieg gegen Russland treibt?

Der neokonservative Polemiker Charles Krauthammer, der eine ständige Kolumne in der Washington Post hat, forderte dort eine Reihe von Maßnahmen gegen Russland (8):

1. Suspendierung des vor sechs Jahren gebildeten NATO-Russland-Rats, der seinem Anspruch nach der gegenseitigen Vertrauensbildung dienen soll. De facto scheint dieser Schritt schon erfolgt zu sein, da eine russische Bitte um Zusammentritt des Rat ignoriert wurde und stattdessen ein separates NATO-Treffen einberufen wurde.

2. Verhinderung der Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation WTO. Aber das tut die US-Regierung ohnehin schon seit Jahren. Jedes Mitgliedsland der WTO muss einer Neuaufnahme zustimmen. Im Fall Russlands sperren sich neben Georgien als letzte auch die USA.

3. Auflösung der G-8, der Runde der Industriestaaten, in denen Russland seit 1997 offiziell Mitglied ist – allerdings immer noch kein gleichberechtigtes Mitglied, da es in einigen finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen kein Mitbestimmungsrecht hat. Nach Auflösung der G-8 soll dann, so Krauthammers Vorschlag, die G-7 wiedergegründet werden. Das ähnelt sehr der Idee von Präsidentschaftskandidat John McCain, Russland aus der G-8 auszuschließen.

4. Ankündigung eines Boykotts der Olympischen Winterspiele 2014, die im russischen Sotschi stattfinden sollen.

Insgesamt zeigt dieser Forderungskatalog eines ausgewiesenen Hardliners, dass die USA nicht viele praktikable Instrumente in der Hand haben, um Russland zu bestrafen, einzuschüchtern und zu schädigen. Mit der Aufkündigung der Fiktion einer „strategischen Partnerschaft“ hätten die USA sehr viel mehr zu verlieren als Russland. Beispielsweise die russische Unterstützung im UN-Sicherheit für die NATO-Kriege in Afghanistan und im Irak. Beispielsweise auch die Mitwirkung Russlands bei den Sanktionen gegen Iran, die in der Hauptsache dazu dienen sollen, das Land international zu isolieren und damit letztlich reif für eine militärische Aggression zu machen.

Die jetzt in den Medien vielfach beschworene „neue Eiszeit“ zwischen den USA und Russlands könnte, wenn es wirklich dazu käme, die ebenso paradoxe wie erfreuliche Nebenwirkung haben, dass es auf der Welt ein klein bisschen friedlicher wird. Zu keinem anderen Zeitpunkt haben die USA auf so vielen Schauplätzen Kriege mutwillig vom Zaun gebrochen wie in den bald zwei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des „sozialistischen Lagers“, der Auflösung der Sowjetunion und dem fortschreitenden Niedergang Russlands. Ein Russland, das sich wieder auf seine Potentiale, seine Interessen und seine Geschichte besinnt, könnte, im Bündnis mit dem langfristigen Hauptfeind der USA, China, die Weichen der Weltpolitik neu stellen.

Anmerkungen:

1) President Bush Discusses Situation in Georgia, Urges Russia to Cease Military Operations, 13.8.2008, Website des Weißen Hauses.

2) Bush Aides Say Russia Actions in Georgia Jeopardize Ties, New York Times, 15.8.2008.

3) ebenda

4) Zitiert vom US-amerikanischen Altkonservativen Patrick J. Buchanan in seinem 1999 erschienenen Buch „A Republic, Not an Empire. Reclaiming America’s Destiny“.
http://www.nytimes.com/books/first/b/buchanan-republic.html

5) Zur Ausgangslage zwischen Ukraine und Russland siehe Knut Mellenthin, Manchmal ganz schön riskant: russisch-ukrainische Machtkämpfe, in analyse & kritik, März 1994.
http://www.knutmellenthin.de/artikel/archiv/russland/manchmal-ganz-schoen-riskant-
russisch-ukrainische-machtkaempfe-931994.html

6) Spiegel Online, Reuters, dpa, 14.8.2008

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7) Vgl. dazu das Gespräch mit dem Münchner Völkerrechtler Daniel-Erasmus Khan in Spiegel Online, 13.8.2008.

8) How to Stop Putin, Washington Post, 14.8.2008

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